Literatur

„Mich hält keiner mehr auf“: Lion Christs „Sauhund“

Von Axel Schock
Porträt des Autors neben einer grünen Wand
Lion Christ | Foto © Peter-Andreas Hassiepen

In Lion Christs Debüt treibt es einen jungen Mann aus der Provinz nach München, wo er zum „Sauhund“ wird. Der Coming-of-Age-Roman eines selbstverliebten schwulen Glückssuchers ist auch eine Zeitreise in die 1980er-Jahre und den Beginn der Aidskrise.

„Wehrersatzdienstleistender (21), naturschlank, große Augen (kirschholzbraun)“

Florian war nicht immer ein Sauhund, sondern auch mal ein junger schwuler Mann wie so viele auf der Suche nach der Liebe. „Raum Bad Tölz-Wolfratshausen: Wehrersatzdienstleistender (21), naturschlank, große Augen (kirschholzbraun), sucht liebevollen Freund bis allerhöchstens Ende 20 für gemeinsame Unternehmungen und eine schöne Zeit zusammen“. Mit dieser im März 1983 im Schwulenmagazin „Adam“ veröffentlichen Kontaktanzeige beginnt Lion Christ die Geschichte seines Protagonisten. Allen weiteren Kapiteln hat er solche Bruchstücke der öffentlichen und privaten Kommunikation vorangestellt: Briefe, Aufrufe von Schwulengruppen, Klappen-Graffiti. Fiktive Dokumente, die Florians Weg von der (fiktiven) Kleinstadt Sonnkirchen in die schwule Szene Münchens der frühen 80er-Jahre authentisch wirken lassen sollen.

Lion Christ kennt diese Welt nur aus den Erzählungen von Zeitzeugen und aus der Recherche in den Archiven. Als Flori, wie er sich nennt, bei Nacht und Nebel seinem Heimatort, und damit nicht nur seinen Eltern, sondern auch seinem völlig ahnungslosen ersten Freund Gregor den Rücken kehrt, um ins Münchner schwule Szeneleben abzutauchen, war Lion Christ noch gar nicht auf der Welt. Er ist Ende der 1990er-Jahre in Bad Tölz geboren und lebt heute in Leipzig. Dort hat er am Deutschen Literaturinstitut Literarisches Schreiben und zuvor an der Hochschule für Fernsehen und Film München Regie studiert. Sein erster Langfilm befindet sich in der Vorbereitung.

Der Alltag in der Szene, der sich unter Eindruck der aufkommenden Aidskrise verändert, bildet die Folie, vor der Lion Christ die Leser*innen am Suchen, Träumen, Taumeln und Stürzen seines Ich-Erzählers teilhaben lässt.

Der gründlichen Recherche zum Trotz – die Bars, Diskotheken, Travestielokale und andere Szeneorte im München der 80er-Jahre bilden die detailgetreue Kulisse – ist das unter dem Autorennamen Lion Christ veröffentlichte Debüt kein dezidierter Historienroman. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, der Alltag in der Szene, der sich unter Eindruck der aufkommenden Aidskrise verändert, bilden lediglich die Folie, vor der Lion Christ die Leser*innen am Suchen, Träumen, Taumeln und Stürzen seines Ich-Erzählers teilhaben lässt. Dieser Flori ist eine zutiefst ambivalente Figur, der man mehr als nur einmal kräftig den Kopf waschen möchte. Denn Flori ist ein selbstverliebter Egoist und Hochstapler: „Mich hält keiner mehr auf, und ein Glanz liegt auf mir“. Einer, der sich als genialer Künstler sieht und mal als Schriftsteller, mal als Travestie-Star gefeiert werden möchte – allerdings ohne sich dafür auch mal anstrengen und etwas liefern zu müssen. In München angekommen, nistet er sich bei seiner Freundin Teresa ein, lebt auf ihre Kosten, nutzt sie aus. Und statt etwas zum Lebensunterhalt beizutragen, treibt er sich durchs Nachtleben, hüpft durch die Betten, verliert sich in selbstzerstörerischen Alkoholexzessen – und wird von Teresa schließlich vor die Tür gesetzt. Eine Dragqueen zieht ihn aus der Gosse, nimmt ihn bei sich auf und hilft ihm, sein Leben in Ordnung zu bringen.

„Hat sich der Herrgott ned die Falschen ausgesucht“

Dem anonymen Test begegnet man in der Szene mit Skepsis: „Lieber gar ned Bescheid wissen, find ich, wo man doch eh nix dran ändern kann.“ Denn medizinische Hilfe ist noch lange nicht in Sicht. Flori gelingt es zunächst erfolgreich, die Angst und Gefahr zu verdrängen, herunterzuspielen, auszublenden. Alles nur falsche Panik, damit wiegt sich Flori lange Zeit in Sicherheit. Aber warum gründen sie „sogar ne Betroffenenhilfe in West-Berlin jetzt, wenn des alles bloß erfunden ist“? Derweil lässt der bayrische Innenstaatssekretär Peter Gauweiler die schwulen Bars aufmischen – kaschiert als Drogenrazzien. Dabei werden von der Polizei die Personalien der Gäste und Mitarbeiter*innen aufgenommen, „um die ‚geheime Rosa Liste‘ mit uns ‚Ausscheidungsverdächtigen‘ fortzuschreiben“, wie man in der Szene vermutet.

Christs Debütroman setze „all den vergessenen Liebenden des ersten Aids-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal“, verspricht der Klappentext. Das ist vom Verlag dann doch etwas zu vollmundig formuliert. „Sauhund“ ist kein Aids-Roman. Die Krise, die dieses neu entdeckte Virus auslöst – in der Gesamtgesellschaft wie in der schwulen Community – wird zwar stets miterzählt, steht aber nicht im Zentrum dieses Coming-out- und Coming-of-Age-Romans. Lion Christ begnügt sich mit kleinen Blitzlichtern und Momentaufnahmen, um die Atmosphäre jener Jahre zu schildern. „Geschieht euch sicher ned unrecht, wenns bald krepiert, wie die da alle schreiben“, kommentiert etwa ein Taxifahrer die Schlagzeilen gegenüber seinem schwulen Fahrgast. „Hat sich der Herrgott ned die Falschen ausgesucht.“


Flori ist eine schillernde Gestalt voller Widersprüche, in der sich die Erfahrungen vieler Generationen schwuler Männer spiegeln.

Damit sind die Zeiten, in denen sich Flori berauscht von der Selbstverwirklichungseuphorie unbekümmert, leichtfertig und zügellos durchs Leben lavieren konnte, ohne Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, endgültig vorbei. Denn da ist dieser Mann, der mehr ist als nur eine Kneipenbekanntschaft und der Floris Zuwendung, Hilfe und Liebe mehr als nötig hätte. Dieser Gernot ist bereits schwer an Aids erkrankt. Es ist ein langer Weg bis dahin. Zwischendurch kann man als Leser*in da schon etwas die Geduld mit diesem selbstverliebten und Tiefe lediglich vorgaukelnden Charakter verlieren.

Christs Entscheidung, die Geschichte von Flori selbst erzählen zu lassen, ist gleichermaßen ein großartiger wie einengender Kunstgriff. Auf diese Weise vermitteln sich Floris Naivität und Selbstbetrug ganz unmittelbar in einer dialektgefärbten, rotzig-frechen Sprache. Zugleich aber ermüdet dieser Bewusstseinsstrom auf Dauer und man beginnt, die einordnende Distanz des auktorialen Erzählens zu vermissen. Dennoch ist „Sauhund“ mehr als nur ein literarisches Experiment oder ein versiert formuliertes Debüt. Flori ist zwar keine Figur, die man so leicht ins Herz schließt, aber eine schillernde Gestalt voller Widersprüche, in der sich die Erfahrungen vieler Generationen schwuler Männer spiegeln, etwa der unbändige Wunsch, geliebt zu werden und die eigene Identität sowie einen Platz in der Welt jenseits der Blutsfamilie und eine neue Heimat in einer Wahlfamilie zu finden.

Lion Christ: „Sauhund“. 368 Seiten, Hanser Verlag, 24 Euro.

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