25 Jahre AZT: Geldschränke, große Hoffnungen, gravierende Nebenwirkungen
1981 gab es erste Berichte über eine mysteriöse Krankheit bei schwulen Männern aus den USA, die man ab 1982 Aids nannte. Schon bald gab es auch in Deutschland erste Fälle, im Sommer 1983 berichtete der SPIEGEL erstmals darüber. Zunächst hoffte man auf eine baldige medizinische Lösung, doch die Ärzte waren machtlos. Wer Aids-Symptome hatte, starb oft schon wenige Monate später.
Man klammerte sich an jeden Strohhalm. Einer dieser Strohhalme war die Substanz Azidothymidin, kurz AZT, Mitte der 1960er Jahre ursprünglich als Krebsmedikament erforscht. Im Februar 1985 hatte ein amerikanischer Wissenschaftler festgestellt, dass AZT die Vermehrung von HIV stoppen kann: Die Substanz blockiert das Enzym Reverse Transkriptase, das für die Umschreibung der Virus-Erbinformation zu menschlicher DNA wichtig ist. Wenig später kaufte das Pharmaunternehmen Burroughs-Wellcome (heute GlaxoSmithKline) die Rechte an der Substanz, und am 20. März 1987 erteilte die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA schließlich die Zulassung als Medikament zur Behandlung von HIV. Die Herstellung galt als kompliziert, die unter dem Handelsnamen Retrovir® vertriebene Substanz war mit rund 10.000 Dollar Behandlungskosten pro Patient und Jahr das bis dahin teuerste verschreibungspflichtige Medikament. Dabei wusste niemand so recht, ob AZT tatsächlich den entscheidenden Durchbruch in der Behandlung von Aids bringen würde.
„Wohin mit den vielen Geldschränken?“
Auch das Bundesgesundheitsamt (1994 aufgelöst) setzte seine Hoffnungen auf Retrovir und ermunterte den Hersteller, möglichst zügig eine Zulassung für den deutschen Markt zu beantragen, die dann in der kürzestmöglichen Frist von vier Monaten auch erteilt wurde. Zuvor hatte man in der Zentrale der Deutschen Wellcome in Großburgwedel allerdings noch einige wichtige Fragen zu klären, wie Ulrich Hopf, seinerzeit für die Zulassung von Retrovir zuständig, sich erinnert: „Wohin mit den vielen Geldschränken, um die Retrovir-Umsätze zu lagern? Wie verteilen wir Retrovir unter den zigtausend ungeduldig wartenden Patienten? Wie bewachen wir unser Lager? Immerhin hatte Wellcome zeitweise einen Nachtwächter, und der hatte einen Hund. Aber ob das reichte?“
It’s AZT-Time!
Die heute 67 Jahre alte Petra Klüfer, über viele lange Jahre in unterschiedlichster Form in der Positivenbewegung aktiv, begann 1992 mit der Einnahme von Retrovir. „Man hörte von schrecklichen Nebenwirkungen, aber wir waren froh, dass es überhaupt etwas gab“, erinnert sie sich. Eingenommen werden musste Retrovir exakt alle vier Stunden. Der Hersteller lieferte deswegen den Patienten eigens einen Wecker mit, der sie rund um die Uhr daran erinnerte. „Ich habe einmal miterlebt, wie in der New Yorker ‚Stonewall‘-Bar der DJ die Musik unterbrach und in die Menge rief: ‚It’s AZT-Time‘, und dann griffen alle nach ihren Pillen in der Hosentasche“, erzählt Petra.
Lothar, heute 60 Jahre und seit 1985 HIV-positiv, hat sich damals gegen die Einnahme von Retrovir entschieden: „Diesen Terror, nachts alle vier Stunden aufstehen zu müssen, wollte ich mir nicht antun. Die vage Hoffnung auf eine Lebensverlängerung durch Retrovir war mir dieser sichere Verlust an Lebensqualität nicht wert.“ Er hatte sich vorgenommen, auf jegliche Medikamente so lange zu verzichten, wie seine Helferzellenzahl noch über 100 lag (Anm. d. Red.: Heute gilt, dass diese Zahl den Wert von 350 nicht unterschreiten sollte). Stattdessen versuchte er mit Ernährungsumstellung, Misteltherapie und Ähnlichem sein Immunsystem zu stärken.
Heute weiß man, dass damals völlig überdosiert wurde
Petra hat ihre Retrovir-Therapie ganze neun Wochen durchgehalten, mit „zusammengebissenen Zähnen“, wie sie heute sagt. Und sie war nicht die Einzige: Jeder zweite Retrovir-Patient in ihrem Umfeld brach die Therapie ab. Grund waren die heftigen Nebenwirklungen, die von starkem Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen über Gleichgewichtstörungen bis hin zu Fieberschüben mit Schüttelfrost und Anämie reichten. Lothar hat dies bei seinen Freunden miterlebt, die sich für Retrovir entschieden hatten. „Es ging ihnen allen sehr schlecht.“
Petra gab auf – zur großen Enttäuschung ihres Arztes, der eine wichtige Chance vertan sah. „Ich war mir sicher, dass ein Medikament, das solche Nebenwirkungen hervorruft, nicht gut sein kann. Ich habe stattdessen immunsystemstabilisierende Maßnahmen wie die Eigenbluttherapie ausprobiert und so bis zur Einführung anderer Medikamente durchgehalten.“
Ihr Bauchgefühl hat Petra nicht getrogen. 1994 wurden die Ergebnisse der mehrjährigen Concorde-Studie mit 1.749 HIV-Patienten veröffentlicht. Eine Hälfte der Patienten hatte sofort AZT bekommen, die andere zunächst ein Placebo-Mittel und erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt AZT. Das Ergebnis: In der sofort behandelten Patientengruppe kam es zu mehr Todesfällen (96 zu 76), häufiger zu Therapieabbruch wegen schwerer Nebenwirkungen (99 zu 38) und auch öfter zu einer Dosisreduzierung (148 zu 37). Die zunächst übliche Dosierung wurde daraufhin stark gesenkt.
Kein Vorwurf an die die Pharmaindustrie und die Ärzte
Umstritten war AZT unter HIV-Positiven wegen der vermuteten Giftigkeit bereits seit seiner Einführung. „In Positiven-Workshops ist damals ganz häufig der Vorwurf gefallen: ‚Die haben uns vergiftet‘, erinnert sich Lothar. „Wir waren und sind natürlich Versuchskaninchen, aber das kann der Pharmaindustrie nicht vorgeworfen werden. Sie haben ja auch geprobt und waren hilflos. Es gab die Abwägung: Gibt man den Aidskranken schnell etwas, das vielleicht helfen kann – oder lässt man sie sterben. Für jahrelange Studien war keine Zeit.“ Ähnlich denkt auch Petra darüber. Sie erinnert sich an einen lauten Disput, den sie in ihrer Praxis erlebte. „Ich zeig Sie wegen Körperverletzung an!“, hatte ein Mitpatient den behandelnden Arzt angeschrien und so seiner Verzweiflung Luft gemacht. „Den Ärzten aber war kein Vorwurf zu machen“, erklärt Petra. „Die wussten es nicht besser und konnten deshalb auch nicht fahrlässig handeln. Beide Seiten, Ärzte und Patienten, waren froh, überhaupt etwas zu haben, vom dem sie sich eine – wenn auch geringe – Chance erhoffen konnten.“
AZT: Heute nur noch in Kombination und wesentlich schwächer dosiert
Über die Nebenwirkungen hinaus gab es ein weiteres Problem: die Resistenzentwicklung: Der Prozess der HIV-Vermehrung ist sehr fehleranfällig, sodass immer wieder neue Virusvarianten entstehen – darunter manchmal zufällig auch solche, die gegen das eingesetzte Medikament resistent = widerstandsfähig sind. Das Medikament wirkt dann nicht mehr. Heute werden deshalb mehrere Medikamente kombiniert, die an verschiedenen Stellen der HIV-Vermehrung ansetzen.
Und was heißt das alles für AZT? Auch nach 25 Jahren wird Retrovir nach wie vor in der HIV-Therapie eingesetzt, allerdings wesentlich schwächer dosiert und, um eine Resistenzentwicklung zu verhindern, in Kombination mit anderen Präparaten. Bei allen Problemen ist es schließlich das am längsten bekannte und am besten erforschte HIV-Medikament.
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