Spritzen in die Knäste! (Teil 2)
„Die Menschlichkeit einer Gesellschaft misst sich am Umgang mit ihrem schwächsten Glied“, sagte einst Alexander Solschenizyn. Zu diesen schwächsten Gliedern gehören bei uns neben Flüchtlingen sicher auch Gefangene. Warum aber bestrafen wir Menschen in Haft zusätzlich mit der Einschränkung ihres Rechts auf Gesundheit? Und wie kommen wir (wieder) dahin, Gefangenen die nötigen Schutzmittel in die Hand zu geben, über die auch die Menschen „draußen“ verfügen?
1. Akt: Ein Gefängnis in der Schweiz
Herbst 1992. Dr. Franz Probst, praktizierender Arzt in der Männerhaftanstalt Oberschöngrün in der Nähe von Solothurn, beginnt mit der Verteilung von sterilen Spritzen an drogenabhängige Gefangene, damit sie sich vor HIV und Hepatitis schützen können. Die Anstaltsleitung hat er nicht um Erlaubnis gefragt und zunächst auch nicht informiert, aber sie unterstützt seinen Weg. 1994 folgt ein wissenschaftlich begleitetes Modellprojekt zur Spritzenvergabe in der Frauenhaftanstalt Hindelbank. Der Drogenkonsum steigt nicht an, Abszesse durch verunreinigte Spritzen werden nicht mehr beobachtet, der gemeinsame Gebrauch von Spritzen durch mehrere Gefangene geht deutlich zurück, es gibt keine neuen HIV- und Hepatitis-Diagnosen.
2. Akt: International Congress Center (ICC) Berlin
7. Juni 1993. Bundespräsident Richard von Weizsäcker spricht zur Eröffnung der 9. Internationalen Aids-Konferenz: „Wir dürfen nicht durch starre ideale Grundsätze unentschuldbar viele Menschenleben gefährden. Denken wir nur an die Verhältnisse in vielen Gefängnissen. In Deutschland ist zurzeit jeder Tausendste HIV-positiv, in Gefängnissen aber jeder Fünfzigste, und zwar sind es in den Haftanstalten fast alle durch Benutzung gemeinsamer Spritzen geworden. Drogenabhängigkeit ist eine Krankheit, und Süchtige handeln zwanghaft. Aber wie sollen sich drogensüchtige Häftlinge ebenso wie Menschen draußen vor einer Aids-Infizierung schützen können, wenn ihnen nicht unter ärztlicher Kontrolle geholfen werden darf?“
Zwischenspiel: Ein Brief geht auf die Reise
Am 20. Juli 1993 schreibt Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer an Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Trotz scharfer Kontrollen konsumieren über 40 % der ca. 20.000 Drogenabhängigen in Haft weiter illegale Drogen. Dabei benutzen häufig mehrere Personen dasselbe Spritzbesteck. Es überrascht daher nicht, dass die HIV-Prävalenz bei Drogenabhängigen mit Hafterfahrungen signifikant höher ist als bei solchen ohne Hafterfahrungen und dass sie mit der Anzahl und Dauer der Haftepisoden weiter steigt. Im Interesse der Volksgesundheit erscheint daher eine Verbesserung der HIV-Prävention in Gefängnissen geboten. Dabei geht es zum einen um die Weiterentwicklung von Aufklärung und Therapiemöglichkeiten (ggf. auch Substitution) für Drogenabhängige in Haft; zum anderen wird aber auch empfohlen, den Gefangenen die Möglichkeit zu eröffnen, sich sterile Einmalspritzen zu beschaffen.“
3. Akt: Es tut sich was in Hannover, Hamburg und Berlin
Die Justizministerien der Länder stemmen sich lange Zeit vehement gegen die Spritzenvergabe in Haft. Im November 1994 aber gibt die niedersächsische Ministerin Heidrun Alm-Merk (SPD) nach fast drei Jahren zäher Gespräche mit dem Aidshilfe-Landesverband eine Machbarkeitsstudie zur Spritzenvergabe im Justizvollzug in Auftrag und startet 1996 ein zweijähriges Modellprojekt. Zum ersten Mal werden damit in zwei deutschen Gefängnissen unter wissenschaftlicher Begleitung sterile Spritzbestecke ausgegeben. Etwas später schließt sich die Hamburger JVA Vierlande an, 1998 kommt als drittes Bundesland Berlin hinzu. Im März 1999 kündigt der neue niedersächsische Justizminister Weber (SPD) sogar an, schon in einem Jahr könnten in allen Justizvollzugsanstalten des Landes Einwegspritzen ausgegeben werden – er wolle nur noch die Ergebnisse des Hamburger Modellprojekts abwarten.
4. Akt: Von nun an geht’s bergab
Die beiden in Hamburg beteiligten Forschungsinstitute aber kommen zu gegensätzlichen Ergebnissen. Als auch noch der Verband Niedersächsischer Strafvollzugsbediensteter kundtut, Spritzenvergabe sei eine Kapitulation vor den Drogenproblemen und Spritzen könnten als Waffen missbraucht werden, rudert das Justizministerium in Hannover zurück. In Hamburg wird der Spritzentausch zwar noch ausgeweitet, doch nach den Bürgerschaftswahlen 2001 halten CDU, FDP und Schill-Partei in ihrer Koalitionsvereinbarung fest: „In den Strafvollzugsanstalten werden künftig keine Spritzen mehr ausgegeben.“ Niedersachsen folgt: Zum 1. Juni 2003 stellt das nun (wieder) CDU-regierte Land völlig überraschend die störungsfrei verlaufenden Projekte in Vechta und Lingen ein – unter anderem mit Verweis auf angebliche Sicherheitsrisiken. 2004 schließlich wird auch das Berliner Projekt in der Lehrter Straße gestoppt. Übrig bleibt allein die Frauen-JVA Berlin-Lichtenberg.
5. Akt: Und sie bewegen sich doch
Herbst 2015. Der Nationale Aids-Beirat hat schon vor langer Zeit die Spritzenvergabe in Haft gefordert, viele Vertreter/innen aus Politik, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft unterstützen das Anliegen, der Bundespräsident hat sich in die Tradition seines Vorgängers von Weizsäcker gestellt, und selbst aus dem Kanzleramt sind zustimmende Töne zu hören. Nun treffen sich die Justizminister der Länder in Hannover, und auch Horst Seehofer ist dabei. Über 20 Jahre nach seinem Brief ist er am Ziel – und verkündet die flächendeckende Einführung der Spritzenvergabe in den deutschen Gefängnissen sowie Angebote der Prävention und Versorgung, die den draußen geltenden Standards entsprechen …
Diesen Beitrag teilen
1 Kommentare
Caspar 26. Januar 2013 19:58
Herr Sweers, ich danke Ihnen vielmals für diese kurze Tragödie der HIV/HVB/HVC-Prävention in deutschen Gefängnissen!
Als Roland Kokacabanarbas Schill 2001 als erste Amtshandlung den Spritzenautomaten (?) in der JVA Vierlande abmontierte, lief es mir kalt den Rücken herunter. Wieviele Infektionen Herr „Rechtsstaatliche Offensive“ damit wohl billigend in Kauf genommen hat?
Daß ausgerechnet Horst Seehofer 1993 der Realität in Auge geblickt und bundesweit eine Vergabe von Injektionsbesteck an Gefangene im Strafvollzug empfohlen hat, ist mir neu – und es rührt mich geradezu. Ich vermute daß es (traurigerweise) ohne AIDS und Rita Süssmuth (CDU) in den frühen 80er Jahren selbst heute, im Jahre 2013, in Deutschland noch nicht einmal Methadonsubstitution gäbe.
Nocheinmal vielen Dank für Ihr Engagement!