LITERATUR

„Diese Epidemie ist ein Stück unserer schwulen Geschichte“

Von Axel Schock
Zwölf Jahre hat Jan Stressenreuter gebraucht, um für seine Erfahrungen aus den Anfangsjahren der Aidskrise eine geeignete literarische Form zu finden. Im Interview mit Axel Schock erzählt der Kölner Schriftsteller über die Herausforderungen und Probleme, denen er sich bei der Entstehung seines Romans „Als Jakob die Zeit verlor“ stellen musste.

Der Kölner Autor Jan Stressenreuter, fotografiert von Jörg Michaelis
Der Kölner Autor Jan Stressenreuter, fotografiert von Jörg Michaelis

Jan, dein Buch ist in Teilen gewissermaßen ein historischer Roman geworden. War es dir ein besonderes Anliegen, die Liebes- und Krankheitsgeschichte von Marius und Jakob ausgerechnet in diese ersten Jahre der Aids-Epidemie zu legen?

Der Beginn von Aids war eine Zeitenwende. Zum einen war es mir wichtig zu zeigen, mit welcher Wucht die Aids-Katastrophe in der schwulen Szene eingeschlagen hat, wie hilflos und unvorbereitet homosexuelle Männer auf eine Epidemie solchen Ausmaßes waren – insbesondere nachdem das Jahrzehnt zuvor, die 70er Jahre, ja auch als eine Zeit der sexuellen Befreiung galt. Jakob und Marius nehmen im Grunde eine Stellvertreterposition ein: Sie haben ihr Coming-out am Ende einer unbeschwerten Zeit gehabt und müssen sich plötzlich mit einer neuen, einer „sichereren“ Form der Sexualität auseinandersetzen, die für sie aber auch eine Einschränkung, ein Ende der Unbeschwertheit bedeutet.
Zum anderen hat es in der alten Bundesrepublik in den 80er Jahren harte politische Kontroversen über den Umgang mit HIV-infizierten Männern – und daraus folgend mit Schwulen und Lesben – gegeben. Verkürzt dargestellt glaube ich, dass die heutige weitgehende Gleichstellung von schwulen Männern und lesbischen Frauen erst durch die Aids-Katastrophe ermöglicht wurde. Daher wollte ich daran erinnern, mit welchen Opfern insbesondere schwule Männer diese Gleichstellung erkauft haben.

Die Aids-Epidemie hat Schwule traumatisiert

Jakob ist durch die Erlebnisse auch noch drei Jahrzehnte später traumatisiert. Ist das nur ein dramaturgischer Kniff? Oder hast du selbst die Erfahrung gemacht, dass Überlebende dieser ersten Generation, die mit Aids konfrontiert wurde, bis heute diese Erfahrungen noch nicht verarbeiten konnten?

Ich weiß, heute wird der Begriff Trauma vor allen Dingen mit Krieg oder Gewalt in Verbindung gebracht. Aber den Überlebenden der Aids-Epidemie geht es genau wie den Weltkriegsüberlebenden, die jahrzehntelang nicht in der Lage waren, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ich bin davon überzeugt, dass alle, die damals Bekannte, Freunde und Liebhaber verloren haben, für den Rest ihres Lebens traumatisiert sind. Denn dieses Sterben geschah auf eine so hässliche, entstellende und oft qualvolle Weise und noch dazu immer und immer wieder, dass niemand, der das miterlebt hat, es sinnvoll verarbeiten könnte.

Du hast selbst viele Jahre in der Aids-Hilfe und in einem Hospiz gearbeitet. Warum hat es so lange gedauert, bis du diesen Erfahrungsschatz literarisch verwertet hast?

Weil ich danach ausgebrannt war und erst mal Abstand von dem Thema brauchte. Ich habe mehr als zwölf Jahre in diesem Bereich gearbeitet und habe es damit wohl ein bisschen übertrieben. Es war zu viel und saß zu tief, als dass ich bereit war, es sofort literarisch zu bearbeiten. Außerdem musste ich erst meinen eigenen Schreibstil finden und war der Ansicht, dass das mit „leichteren“ Themen besser gelingen würde. Aber dass ich einmal einen Roman schreiben würde, der sich mit Aids beschäftigt, war mir schon lange klar. Und jetzt war einfach der richtige Zeitpunkt gekommen: Es musste jetzt raus.

Spätfolgen der jahrelangen Medikamentengabe

Jakob ist ein  „Langzeitüberlebender“ bezeichnet. Seine Viruslast scheint unter der Nachweisgrenze zu sein, sein Gesundheitszustand nicht besser oder schlechter als der anderer Männer seines Alters. Das Virus spielt in seinem Alltag kaum mehr eine Rolle. War es für dich wichtig, diese Normalität einer chronischen Krankheit deutlich zu machen?

HIV ist behandelbar geworden, doch wie „normal“ das Leben als HIV-Positiver? (Foto: DAH)
HIV ist behandelbar geworden, doch wie „normal“ ist das Leben als HIV-Positiver? (Foto: DAH)

Na ja, es hat sich ja tatsächlich einiges geändert bei der Behandlung von HIV-Infektionen; man schluckt ein paar Pillen, geht regelmäßig zur Blutkontrolle, und damit hat es sich in der Regel – so wie bei Jakob. Dennoch lebt er ja keineswegs ein „normales“ Leben, weil er ständig die Vergangenheit mit sich herumschleppt und mit den Spätfolgen der jahrelangen Medikamentengabe zu kämpfen hat.
Ich glaube eher, dass Philip, der junge Stricher, der in Jakobs jetziges Leben mit Arne stolpert und ebenfalls positiv ist, die neue Normalität verkörpert: Er legt zwar eine gewisse Unbedarftheit und Naivität angesichts seiner Infektion an den Tag, aber er richtet auch den Blick nach vorne. Dieser Kontrast zwischen Jakob und Philip ist ein spannendes Moment in dem Buch.

Viele Schwule haben Probleme beim Umgang mit Kondomen

Überraschend wiederum fand ich, wie deutlich gleich mehrfach im Roman diskutiert wird, welche Schwierigkeiten die Figuren beim Sex mit Kondomen haben. Solche Äußerungen waren lange Zeit alles andere als politisch korrekt – nicht zuletzt durch die Safer-Sex-Kampagnen, die uns alle geprägt haben.

„Safer-Sex-Kampagnen  haben unser Leben geprägt“ (Foto: DAH)
„Safer-Sex-Kampagnen haben unser Leben geprägt“ (Foto: DAH)

Mit der Political Correctness habe ich es in letzter Zeit tatsächlich nicht mehr so. Mir ist da zu viel Scheinheiligkeit und Spießbürgertum im Spiel: Alle nehmen zum Sex besser Gummis, und dann ist alles gut. So war es nie und so wird es nie sein. Es war ein Fehler, bei den Safer-Sex-Kampagnen die Schwierigkeiten vieler Schwuler beim Umgang mit Kondomen nicht zu berücksichtigen. Ich kann mich da an diverse Diskussionen bei Aids- und HIV-Veranstaltungen der frühen Jahre erinnern, bei denen die Lust am Barebacking einfach ausgeblendet wurde. Diese Diskussionen spiegelten einfach nicht die Lebenswirklichkeit wieder. Gleichzeitig bestreite ich durchaus nicht die Notwendigkeit von Safer-Sex-Kampagnen. Da gibt es einen Widerspruch, den ich aber nicht zu lösen vermag. Um das Thema mal in Bezug zu Literatur zu setzen: Ich fände es lächerlich, einen Roman über Aids zu schreiben, in dem die Protagonisten allesamt am Ende als geläuterte Safer-Sex-Apostel herausgehen. Das wäre dann kein realitätsnahes Portrait, sondern eher Fantasyliteratur.

„Wie Jakob die Zeit verlor“ erzählt zwar vor allem von Liebe und Beziehungen, aber eben auch vom Leben und Sterben mit Aids. Und Aids-Romane sind erfahrungsgemäß eher schwer verkäuflich. Mal Hand aufs Herz: Wie viel Überzeugungsarbeit musstest du bei deinem Verleger leisten, um ihn von diesen Wagnis zu überzeugen?

(lacht) Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Verleger, kurz nachdem 2002 mein Debütroman „Love to love you, Baby“ herausgekommen war. Er hat mir damals gesagt, dass er niemals einen Aids-Roman veröffentlichen würde, weil er der Meinung war, der würde in den Regalen verrotten. Als ich vor zwei Jahren mit der Idee zu „Wie Jakob die Zeit verlor“ zu ihm kam, hatte er seine Meinung zwar nicht geändert, glaubte aber, dass mein Name mittlerweile bekannt genug ist, um das Risiko einzugehen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Heute lässt es sich einfacher über Aids schreiben

Nun hast du deinen Aids-Roman doch realisieren können, wenn auch ein Jahrzehnt später als zunächst geplant. Was hat sich durch diese Verzögerung verändert?

Die Wunden, die die ersten Jahre der Aids-Katastrophe gerissen haben, sind nicht mehr so deutlich spürbar. Auch wenn die Krankheit nicht heilbar ist, hat sie doch einiges von ihrem Grauen verloren, insofern lässt sich leichter darüber schreiben und lesen. Gleichzeitig ist eine neue Generation von Schwulen herangewachsen, die Aids eher selten aus persönlicher Erfahrung kennen. Jetzt ist es an der Zeit, darüber zu schreiben; eine weitere Tabuisierung würde das Thema nur noch weiter aus dem Bewusstsein drängen.

Keine Angst, dass sich die Befürchtungen deines Verlegers bewahrheiten könnten?

Der Roman wird seine Leser finden, weil diese Zeit und diese Epidemie ein Stück unserer schwulen Geschichte sind. Und um noch eine persönliche Note anzufügen: Als schwuler Schriftsteller bin ich mir meiner Nischen-Existenz bewusst. Ich habe es nie darauf angelegt, in die „Spiegel“-Bestsellerliste vorzustoßen. Sonst hätte ich die Biographie von Dieter Bohlen geschrieben. Obwohl, nee …

Das nächste Romanprojekt: Schwule im Alter

So unterschiedlich die Geschichten deiner Romane auch sind, nebeneinandergelegt fügen sich die Bücher – von „Mit seinen Augen“ bis „Love to Love you, Baby“ inzwischen zu einem gesellschaftlichen Panorama bundesrepublikanischer schwuler Alltagsgeschichte von den 50er Jahren bis in die Gegenwart. Gibt’s da noch Lücken innerhalb dieser Zeitschiene, die du noch gerne literarisch ausleuchten möchtest?

Stressenreuters Roman „Mit seinen Augen“ (Buchcover)
Stressenreuters Roman „Mit seinen Augen“ (Buchcover)

Ganz ehrlich? So hab ich das noch nicht betrachtet. Aber du hast recht, tatsächlich kann man die Romane auch so lesen. Trotzdem habe ich nie die Absicht gehabt, eine schwule Geschichte der Bundesrepublik zu schreiben. Ich denke nie über das nächste Projekt hinaus, alles andere wäre mir zu anstrengend. Mich muss ein Thema interessieren, dann kann ich auch darüber schreiben. Als ich eine Pause von schwulen Themen brauchte, habe ich drei Krimis gemacht, jetzt ist eine Liebesgeschichte in den Zeiten von Aids dran, und der nächste Roman wird sich mit dem Thema Alzheimer in einem schwulen Kontext beschäftigen: Wie gehen wir als Schwule mit dem Alter um? Was passiert in einer schwulen Beziehung, wenn einer der Partner sein Leben buchstäblich vergisst? Und was ich danach schreibe – wer weiß? Vielleicht interessiert mich dann tatsächlich die 68er-Generation, über die ich noch nichts geschrieben habe. Oder mal wieder was Lustiges. Das würde meinen Mann freuen, der lacht gerne.

Weiterführende Links:

Internetseite des Autors www.stressenreuter.de

Besprechung des Romans  „Wie Jakob die Zeit verlor“ im DAH-Blog

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