In der deutschen Diskussion um die HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe geht es bisher vor allem um schwule Männer. Wir haben deshalb ein Statement aus den USA zum Thema PrEP und Frauen übersetzt:

Positionspapier der Arbeitsgruppe zum Thema PrEP und Frauen in den USA

4. März 2013

(Original: Working Group on U.S. Women and PrEP Statement, dort auch Informationen zu den Autorinnen und Literaturnachweise; Übersetzung: Holger Sweers)

 

Einführung

Wir sind eine Gruppe von Gesundheits-Aktivistinnen und anderen Interessierten aus den USA. Seit März 2012 haben wir gemeinsam eine Haltung dazu entwickelt, was die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als neues Präventionsinstrument für Frauen in den USA bedeuten könnte.

Im Juli 2012 hat die Food and Drug Administration (FDA) den Einsatz von täglich oral eingenommenem Truvada (Emtricitabin/Tenofovir Disoproxil Fumerat, ein bereits zur Behandlung der HIV-Infektion zugelassenes Kombinationspräparat) zur HIV-PrEP für HIV-negative Männer und Frauen zugelassen, die ein HIV-Risiko haben. Die Zulassung der FDA basierte auf den Daten aus klinischen Studien, welche die Wirksamkeit von Truvada zur Prävention von HIV-Ansteckungen in Populationen von Schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), Trans*-Frauen sowie heterosexuellen Frauen und Männern an verschiedenen Studienorten weltweit untersucht hatten.

An keiner dieser Studien waren allerdings Frauen aus den USA beteiligt, was einige entscheidende Fragen offen lässt:

  • Wie wird die PrEP bei Frauen aus den USA zur HIV-Prävention eingesetzt werden?
  • Welche Daten zur Akzeptanz und Effektivität der PrEP bei diesen Frauen brauchen wir?
  • Wie wird die PrEP unter diesen Frauen beworben, wie werden Zugang und Finanzierung ermöglicht?

Dieses Positionspapier fasst die Empfehlungen unserer Arbeitsgruppe dazu zusammen, wie man auf diese Fragen antworten sollte und die entsprechenden Lücken in der Forschung, der Aufklärung der Öffentlichkeit und der Träger des Gesundheitssystems, in den Präventionsbotschaften und der Gesundheitspolitik schließen kann. Außerdem definiert es die nächsten Schritte, die man für den Einsatz der PrEP bei US-amerikanischen Frauen unter realistischen Alltagsbedingungen gehen muss.

Unsere Empfehlungen beschäftigen sich dazu mit den folgenden drei Punkten:

  • Einführung und Umsetzung der PrEP für Frauen in den USA
  • Identifizierung der Forschungslücken hinsichtlich der Implementierung der PrEP für Frauen in der USA
  • Wie und bis wann müssen Bundesbehörden und andere Akteure zusammenarbeiten, um gemeinsam Daten für die Beantwortung der obigen Fragen zu erheben?

Drei entscheidende Punkte

  1. Die tägliche Einnahme von Truvada besitzt das Potenzial zu einem Präventionsinstrument, mit dem Frauen einschließlich Trans*-Frauen ihr HIV-Ansteckungsrisiko senken können.
  2. Für die Einführung der PrEP bei Frauen in den USA müssen wir eine schlüssige und umfassende Strategie formulieren. Bisher fehlt allerdings eine einheitliche Meinung der Frauen zur PrEP, die der epidemiologischen Bedeutung von Frauen in den USA entspräche. Um das zu ändern, müssen wir die Kommunikation zwischen den Vordenker_innen in dieser Frage und den Akteur_innen der öffentlichen Gesundheit verbessern und sie koordinieren.
  3. Die bisher vorliegenden Daten aus klinischen Studien rechtfertigen die Erprobung der täglichen Einnahme von Truvada zur PrEP. Wie man aber Frauen diese Intervention am besten anbietet, ist in vielen Punkten noch offen. So stellt sich zum Beispiel die Frage nach den Zielgruppen für die PrEP, nach Strategien zur Schulung der Mitarbeiter_innen des Gesundheitssystems, nach der Rolle des an Frauen gerichteten Social Marketings bei der Einführung der PrEP und nach der Sicherheit, der Effektivität, der tatsächlichen Inanspruchnahme und der Therapietreue beim langfristigen Einsatz der PrEP – sowohl bei Frauen wie bei Männern.

 

Punkt 1

Die tägliche Einnahme von Truvada besitzt das Potenzial zu einem Präventionsinstrument, mit dem Frauen einschließlich Trans*-Frauen ihr HIV-Ansteckungsrisiko senken können.

2010 belegte die groß angelegte iPrEX-Studie die Wirksamkeit der täglichen Einnahme von Truvada (FTC/TDF) zur PrEP bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), und Trans*-Frauen, die Sex mit Männern haben. In der Folge zeigte sich auch in der Partners PrEP Study, dass Truvada das HIV-Risiko für Frauen und Männer deutlich reduzierte. Diese große Studie untersuchte heterosexuelle Paare, bei denen ein_e Partner_in HIV-infiziert und eine_r HIV-negativ war (auch „serodiskordante“ oder „serodifferente“ Paare genannt). Eine weitere, kleinere Studie (TDF2) mit Frauen und Männern, die nicht in einer Beziehung lebten, zeigte ebenfalls, dass die tägliche Einnahme von Truvada zur Senkung des HIV-Risikos beitrug.

Demgegenüber konnten die FEM-PrEP- und die VOICE-Studie mit afrikanischen Frauen, die nicht notwendigerweise in stabilen serodifferenten Beziehungen leben mussten, keinen Beleg für die Wirksamkeit der PrEP bei den Studienteilnehmerinnen bringen. Bei beiden Studien reichte die Therapietreue der Frauen offenbar nicht aus, um eine signifikante Schutzwirkung zu erzielen. Das wirft viele Fragen zum Einsatz von Truvada als HIV-PrEP bei Frauen auf – an erster Stelle die Frage, warum die Therapietreue so gering war (vor allem bei jüngeren und unverheirateten Frauen), und welche anderen Ansätze mehr Erfolg versprechen könnten. Die Studie zeigt also, dass man die konsequente Anwendung von Präventionsinstrumenten unterstützen muss, und widerlegt nicht die belegte biologische Plausibilität, Truvada auch bei Frauen zur HIV-PrEP einzusetzen.

Vor allem auf Basis iPrEX-Studie mit MSM und der Partners PrEP Study mit serodifferenten Partnern ließ die FDA im Juli 2012 den Einsatz von täglich eingenommenem Truvada zur PrEP für HIV-negative Erwachsene zu. Im August 2012 veröffenlichten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) Leitlinien für die HIV-PrEP bei heterosexuellen Erwachsenen in den USA. Viele zivilgesellschaftliche Gruppen spielten eine aktive Rolle in der Diskussion, die zur FDA-Empfehlung führte, leisteten ihre Beiträge zu Anhörungen und bewerteten im Anschluss die Auswirkungen der Strategie.

Während es nach wie vor Bedenken hinsichtlich all dessen gibt, was wir zur PrEP noch nicht wissen, besteht zugleich dringender Bedarf an zusätzlichen, von Frauen kontrollierten Präventionsmöglichkeiten. Es ist daher sehr wünschenswert, die Nachfrage nach der PrEP für Frauen, ihre Machbarkeit, ihre Sicherheit unter Alltagsbedingungen und ihre Wirksamkeit zu erforschen. Qualitative Daten einer vier Standorte umfassenden Fokusgruppen-Studie zur PrEP für Frauen in den USA, deren Ergebnisse auf der 19. Internationalen Aids-Konferenz im Juli 2012 vorgestellt wurden, zeigten, dass die meisten Frauen mit einem Risiko für eine HIV-Infektion (und diejenigen, die mit ihnen arbeiten) die PrEP nicht kannten.

Nachdem man aber die Frauen über die PrEP informiert hatte, äußerten sie die Meinung, dass sie – bei belegtem hohem Schutzeffekt, Vorliegen korrekter und umfassender Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen sowie gesicherter Finanzierungswege – allen sexuell aktiven Frauen zur Verfügung gestellt werden sollte, und zwar unabhängig davon, ob diese Frauen für sich selbst ein HIV-Risiko sehen oder nicht. Die wichtigsten Bedenken der Frauen in dieser Studie betrafen Nebenwirkungen einschließlich möglicher Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, sowie die Kosten.

Punkt 2

Für die Einführung der PrEP bei Frauen in den USA müssen wir eine schlüssige und umfassende Strategie formulieren. Bisher fehlt allerdings eine einheitliche Meinung der Frauen zur PrEP, die der epidemiologischen Bedeutung von Frauen in den USA entspräche. Um das zu ändern, müssen wir die Kommunikation zwischen den Vordenker_innen in dieser Frage und den Akteur_innen der öffentlichen Gesundheit verbessern und sie koordinieren.

Die Akteure an der „Front“ der (geplanten oder bereits durchgeführten) PrEP-Programme im ganzen Land spielen eine wichtige Rolle bei der Strukturierung der PrEP-Forschungsagenda. Dazu gehören Gesundheitsämter, zivilgesellschaftliche Gruppen, Aidshilfe-Organisationen, die National Institutes of Health (NIH), die CDC und andere Behörden im Bereich des Department of Health and Human Services (DHHS) sowie Gilead Sciences (der Truvada-Hersteller).

Die produktive Beteiligung aller dieser Player erfordert eine durchdachte Koordinierung. Sie sollten sich organisieren, um kollektiv an der Erhebung von Daten, der Diskussion über Pläne für Social-Marketing-Kampagnen, der Identifizierung von Forschungslücken sowie der Entwicklung eines strategischen Mechanismus für koordiniertes Handeln mitzuwirken. Dieser koordinierte Prozess sollte die Definition von „Meilensteinen“ und Feedback-Mechanismen sowie ausreichende Ressourcen und klare Verantwortlichkeiten vorsehen. Entwickelt werden sollte er so schnell wie möglich – spätestens bis zum Beginn des dritten Quartals 2013. Die Ergebnisse dieses Prozesses sollten Folgendes umfassen:

  • einen klar benannten Weg zu Antworten auf kritische Fragen rund um PrEP und Frauen

Unter Punkt 3 listen wir eine Reihe von Fragen auf, die für den sicheren und effektiven Einsatz von oral verabreichtem Truvada zur PrEP für Frauen fundamental sind. Einige dieser Fragen kann man in klinischen Studien erforschen, viele andere hingegen nur mit gut geplanten Pilotprogrammen, Demonstrationsprojekten sowie qualitativer Forschung – Forschung, die die Kooperation von NIH, CDC, anderen DHSS-Behörden und Gesundheitsämtern sowie einen substanziellen Beitrag der Zivilgesellschaft erfordert. Dazu brauchen wir ein Dokument, in dem festgehalten wird, wie wir jede einzelne dieser Fragen am besten angehen – welche Arten von Daten wir erheben, in welchen Gegenden Forschung stattfinden sollte und welche Lücken hinsichtlich der Informationen und/oder der Finanzierung bestehen.

  • eine Struktur für substanzielles und nachhaltiges zivilgesellschaftliches Engagement

Sobald der Prozess zur Einführung und Umsetzung der PrEP bekanntgemacht wurde, muss die Expertise von Individuen und Organisationen der Zivilgesellschaft in ihrer Eigenschaft als Aufklärer_innen, Aktivist_innen, Kritiker_innen oder potenziellen Anwender_innen genutzt werden. Die Entscheidungsprozesse, die aufgrund der nationalen Koordinierungsbemühungen angestoßen werden, erfordern ihre volle Partizipation – sowohl als Expert_innen als auch als Empfänger_innen finanzieller und technischer Unterstützung, die sie brauchen, um ihren wichtigen Beitrag zur Implementierung der PrEP leisten zu können.

  • einen nationalen Plan für die Schulung der Anbieterseite sowie fürs Social Marketing

Die meisten Frauen in den USA haben noch nie von der PrEP gehört. Deshalb ist es entscheidend, dass Frauen mit einem HIV-Risiko leicht zugängliche Informationen zur PrEP bekommen – und zwar Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen in den Sprachen, auf dem Bildungsniveau, in den Formaten und in den Medien, die für sie passend sind. Die Geschichte des „weiblichen Kondoms“ zeigt, dass die Einführung eines neuen Präventionsinstruments umfangreiche Schulungen der Anbieter sowie die aktive Einbeziehung der Anbieter- wie der Communityseite umfassen muss, wenn sie Erfolg haben soll.

Die CDC und das DHHS müssen an der Spitze eines koordinierten Aufklärungs- und Social-Marketing-Plans stehen und dürfen sich nicht von einer Pharmafirma leiten lassen. Wir brauchen eine breitere und umfassendere Strategie, um die ganze Bandbreite von Anbietern im Gesundheitswesen zu schulen, die bei der Einführung der PrEP aktiv werden müssen. Dies ist entscheidend wichtig dafür, dass Frauen informierte Entscheidungen darüber treffen können, ob die PrEP für sie das Richtige ist oder nicht.

  • eine nationale Strategie, die detailliert aufzeigt, wie die PrEP-Aufklärung und der Zugang zur PrEP für Frauen in die Umsetzung der Nationalen HIV/Aids-Strategie (NHAS) eingebunden werden

Das Office of HIV/AIDS Policy (OHAP) sollte eine Strategie zur Einbettung einer Komponente zur frauenspezifischen PrEP-Aufklärung in die NHAS-Implementierung, die Umsetzung des 12 Cities Project und in den Affordable Care Act vorlegen. Diese Strategie sollte auf die Zielgruppen zugeschnittene Materialien und Curricula umfassen sowie Hinweise zur Bereitstellung der nötigen Ressourcen geben. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen ein integraler Bestandteil dieses Prozesses sein und die nötigen Mittel bekommen, um PrEP-Nutzer_innen bei der nötigen Therapietreue unterstützen zu können.

Punkt 3

Die bisher vorliegenden Daten aus klinischen Studien rechtfertigen die Erprobung der täglichen Einnahme von Truvada zur PrEP. Wie man aber Frauen diese Intervention am besten anbietet, ist in vielen Punkten noch offen. So stellt sich zum Beispiel die Frage nach den Zielgruppen für die PrEP, nach Strategien zur Schulung der Mitarbeiter_innen des Gesundheitssystems, nach der Rolle des an Frauen gerichteten Social Marketings bei der Einführung der PrEP und nach der Sicherheit, der Effektivität, der tatsächlichen Inanspruchnahme und der Therapietreue beim langfristigen Einsatz der PrEP – sowohl bei Frauen wie bei Männern.

Derzeit laufen Demonstrationsprojekte, zur um Informationen zur Inanspruchnahme und zur Nutzung der PrEP durch Männer und Trans*-Frauen, die Sex mit Männern haben, zu sammeln. Dringend erforderlich ist Forschung, um weitere Informationen über die Implikationen der PrEP für Frauen zu sammeln, individuell oder als Teil eines Paares. Obwohl die PrEP jetzt auch Frauen in den USA zur Verfügung steht, ist bisher kaum etwas darüber bekannt, wie sie die PrEP nutzen werden und für wen sie am effektivsten ist.

Die Partners-PrEP-Studie zum Beispiel deutete darauf hin, dass die PrEP für Frauen in festen Beziehungen mit einem HIV-positiven Partner sehr wirksam ist. Da die Teilnehmer_innen an dieser Studie ziemlich gut über ihr HIV-Infektionsrisiko Bescheid wussten, waren sie wahrscheinlich auch motiviert, Truvada konsequent einzunehmen. Wie effektiv die PrEP bei Frauen mit mehreren Sexpartnern ist und/oder bei Frauen, die den HIV-Status ihrer Partner nicht unbedingt kennen, wissen wir nicht. Die PrEP bietet Frauen die Möglichkeit, sich zu schützen, ohne dass die Partner zustimmen und ohne dass sie davon wissen müssen, aber bevor wir auf breiter Basis und mit voller Überzeugung über diese entscheidenden Vorteile der PrEP informieren, brauchen wir zu mehreren Fragen weitere Daten: 

  • Schutzwirkung und Wirksamkeitsgrad – wovon hängt es ab, ob die tägliche Einnahme von Truvada vor HIV schützt oder nicht?

Die drei Studien iPrEx, Partners PrEP und TDF haben gezeigt, dass die Schutzwirkung von Truvada in unterschiedlichen Populationen von der Therapietreue abhing. Die nicht gegebene Schutzwirkung in der FEM-PrEP- und in der VOICE-Studie ist höchstwahrscheinlich auf mangelnde Theapietreue zurückzuführen. Anders als die Frauen in der Partners-PrEP-Studie dürften viele Frauen in der FEM-PrEP- und der VOICE-Studie den HIV-Status ihrer Sexartner nicht gekannt haben – einige dieser Partner könnten durchaus in der akuten Phase der HIV-Infektion gewesen sein. Darüber hinaus gaben viele Teilnehmerinnen der FEM-PrEP-Studie an, dass sie für sich selbst kein HIV-Risiko sahen, obwohl sie in einer Gegend mit einer hohen HIV-Prävalenz lebten. Informationen darüber, wie die Wahrnehmung des eigenen Risikos und eine Reihe weiterer Faktoren den Gebrauch oder Nichtgebrauch der Studienprodukte in der VOICE-Studie beeinflusst haben könnten, liegen noch nicht vor. Ergebnisse von VOICE-Substudien zu diesen Fragen werden in den kommenden Monaten erwartet.

Die Frage, wie man die PrEP-Therapietreue am besten unterstützen kann, ist von entscheidender Bedeutung. Frauen und andere PrEP-Akteur_innen müssen alle Verhaltens- und biomedizinischen Faktoren kennen, welche die Wirkung und den Wirkungsgrad der PrEP beeinflussen können. Außerdem brauchen wir weitere Daten aus Pilot- und Demonstrationsprojekten zur Fragen, wie gut die PrEP auf der Ebene der Bevölkerung und unter Alltagsbedingungen außerhalb von Studien funktioniert.

  • Therapietreue – welche Faktoren beeinflussen sie? Wie können Frauen am besten darin unterstützt werden?

Wie bei den meisten Medikamenten wirkt die PrEP bei denen am besten, die sie nach Vorschrift einnehmen. Therapietreue kann aber durch eine breite Palette von strukturellen, psychosozialen und praktischen Faktoren erschwert werden. Um den tatsächlichen Einfluss solcher Variablen wirklich verstehen zu können, müssen wir mithilfe von Forschung, Monitoring und Evaluation von Pilot- und Demonstrationsprojekten zu effektiven Verhaltens-, sozialen und strukturellen Interventionen Daten erheben und dann die Faktoren bestimmen, welche die PrEP-Therapietreue unter Frauen fördern oder im Gegenteil behindern. Eine solche Forschung wird nicht nur die individuellen Chancen maximieren, eine HIV-Infektion zu vermeiden, sondern auch das Auftreten von Medikamentenresistenzen verhindern – dieses Risiko besteht, wenn man die PrEP nimmt und sich trotzdem infiziert. Regelmäßige HIV-Tests, Therapietreue und regelmäßige Arztbesuche können dazu beitragen, die PrEP-Schutzwirkung zu maximieren sowie trotz PrEP erfolgte Infektionen zu diagnostizieren, die zu Medikamentenresistenzen führen könnten. Das Angebot spezifischer Materialien und auf Frauen zugeschnittener Unterstützungsangebote ist daher sowohl auf individueller wie auf Ebene der öffentlichen Gesundheit von Nutzen.

  • Sexuelle Freizügigkeit und sexuelles Risikoverhalten der Partner

Es gibt nur wenige Daten dazu, wie die Verfügbarkeit der PrEP unter Alltagsbedingungen sich auf das Festhalten an anderen Mitteln und Maßnahmen zur Senkung des HIV-Risikos wie Kondome, Femidome oder die Reduzierung der Partnerzahlen auswirken wird. Es gibt kaum qualitative Forschung dazu, und die wenigen Studien wurden vor allem mit MSM durchgeführt. Wir brauchen daher mehr verhaltens- und sozialwissenschaftliche Forschung sowie Programm-Überwachung und -Evaluation in diesen Bereichen, wenn die PrEP auf breiter Basis eingeführt wird.

Auch auf die Bedenken von Schlüsselpopulationen müssen wir eingehen. So könnte es sich zum Beispiel negativ auf die Rechte und auch die Gesundheit von Sexarbeiterinnen auswirken, wenn Klienten aufgrund der öffentlichen Aufklärung über die PrEP aggressiver kondomlosen Sex wünschen. Sollte die Forschung zeigen, dass die PrEP-Nutzung durch eine_n der Partner wahrscheinlich die Fähigkeit der Frauen schwächt, auf der Kondomnutzung zu bestehen, müssen wir darauf reagieren. Generell ist das Bestehen auf Kondombenutzung allerdings seit je das schwächste Glied in der Kette der HIV-Prävention für Frauen. Idealerweise sollte die PrEP Teil eines „Kombinations-Präventions“-Pakets sein, das auch Werbung für den Kondomgebrauch umfasst. Diese Erwartung ist allerdings unrealistisch, wenn man nicht die Daten in Betracht zieht, wonach Frauen substanziell weniger Kontrolle über den Gebrauch von Kondomen (und selbst von Femidomen) haben als Männer.

  • Auswirkungen auf Schwangerschaft, Stillen und Kindesentwicklung

Als Medikament der Kategorie B (ein Medikament, das sich in Tierversuchen nicht als fruchtschädigend erwies) wird Truvada in den USA routinemäßig HIV-positiven schwangeren Frauen verschrieben, weil man den Nutzen für deutlich größer hält als die potenziellen Risiken. Die CDC weisen aber darauf hin, dass Truvada nicht für stillende Frauen verschrieben werden sollte. Wichtige Daten zur Sicherheit von Truvada bei schwangeren und stillenden HIV-negativen Frauen sowie ihren Babys werden vom Bundesregister zu antiretroviralen Medikamenten und Schwangerschaft (ARV and Pregnancy Registry, http://apregistry.com) und den Truvada-Post-Marketing-Studien von Gilead gesammelt. Diese Register beobachten allerdings nur Kinder im ersten Lebensjahr, und prospektive Studien um die Entwicklung der Kinder von der Geburt bis zum Alter von fünf Jahren sind bisher nicht erfolgt. Angesichts der Tatsache, dass eine Schwangerschaft das Risiko einer HIV-Infektion erhöht, könnte die Fortsetzung der PrEP während der gesamten Schwangerschaft, sofern sich dieser Dauergebrauch in der Forschung als sicher erweist, eine wertvolle Option für Frauen sein.

  • Schädliche Auswirkungen auf die Leber, das Risiko für verringerte Knochenmineraldichte und potenzielle Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten

Tenovir (einer der Truvada-Bestandteile) ist mit einer Verringerung der Knochenmineraldichte sowie mit schädlichen Auswirkungen auf die Leber in Verbindung gebracht worden. Eine PrEP-Studie mit MSM hat geringe, aber statistisch signifikante Veränderungen der Knochenmineraldichte bei Männern, die Truvada nahmen, gegenüber der Kontrollgruppe ohne Truvada-Einnahme gezeigt. Die TDF2-Studie zeigte eine „statistisch relevante, aber klinisch unklare“ Verringerung der Knochenmineraldichte bei den männlichen wie weiblichen Teilnehmer_innen, die Truvada nahmen. VOICE B, eine Substudie der VOICE-Studie, wird weitere Daten zur Verringerung der Knochmineraldichte bei PrEP-Nutzerinnen liefern.

Weder in der Partners-PrEP- noch in der TDF2-Studie gab es signifikante Nebenwirkungen, Leber- oder Nierenschäden eingeschlossen. In der Fem-PrEP-Studie brachen weniger als fünf Prozent der Frauen, die Truvada nahmen, die Einnahme aufgrund von Leber- oder Nierenschäden ab, verglichen mit drei Prozent im Placebo-Arm, was aber statistisch nicht signifikant war. Weitere Forschung zu möglichen Leberschäden ist erforderlich. 

  • Auf die besonderen Bedürfnisse von Trans*-Frauen eingehen

Es ist wichtig, bei Diskussionen über die PrEP deutlich zu machen, was wir unter „Frauen“ und „Männern“ verstehen. Das oft so genannte „biologische Geschlecht“ ist das Geschlecht (männlich, weiblich), das man aufgrund der äußeren Erscheinung der Genitalien bei der Geburt zugewiesen bekommt. Der Begriff „Gender“ bezieht sich auf die soziale Identität, die Rollen und die Erwartungen, von denen man annimmt, dass sie mit dem biologischen Geschlecht assoziiert werden. Wenn das biologische Geschlecht und die Geschlechtsidentität übereinstimmen, spricht man von „Cisgender“, stimmen sie nicht überein, von „Transgender“. Aufgrund sozialer, struktureller und psychologischer Faktoren haben Transgender-Personen ein erhöhtes HIV-Risiko. Einige, aber nicht alle Transgender-Personen nehmen medizinische Hilfe in Anspruch, um mit Hilfe von Operationen und Hormonen ihr biologisches Geschlecht und ihre Geschlechtsidentität in Übereinstimmung zu bringen.

An einigen PrEP-Studien haben auch einige Transgender-Frauen teilgenommen, aber es bleiben nach wie vor wichtige Fragen zu Trans*-Frauen offen, welche die PrEP einnehmen – etwa die Fragen, ob und welche Medikamentenwechselwirkungen bei Trans*-Frauen zu erwarten sind, die Hormone und Truvada nehmen. Diese Frage stellt sich angesichts von Daten, denen zufolge einige hormonelle Verhütungsmittel das Risiko einer HIV-Infektion erhöhen können – eine ungelöste Frage, die weiter erforscht wird. Es ist daher nur folgerichtig, sich die Frage zu stellen, ob und wie die Hormone, die Trans*-Frauen nehmen, ihre HIV-Vulnerabilität erhöhen und wie die Einnahme der PrEP solche Wechselwirkungen beeinflussen könnte. Außerdem können Trans*-Frauen aufgrund ihres marginalisierten Status auch andere spezifische Probleme haben. Insgesamt brauchen wir Forschung, um den bestmöglichen Ansatz für den Zugang, die Beratung und die Unterstützung für Trans*-Frauen zu identifizieren.

  • Auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen eingehen, die Alkohol oder Drogen konsumieren

Ähnliche Fragen stellen sich hinsichtlich von Wechselwirkungen bei drogenkonsumierenden Frauen, welche die PrEP nehmen wollen. So weisen Forschungsergebnisse zum Beispiel darauf hin, dass bei erhöhtem Level von zentralnervösem Dopamin auch die HIV-Replikationsrate [Vermehrungsrate , Anm. d. Red.] erhöht sein könnte. Tierversuche haben gezeigt, dass insbesondere Methamphetamin die HIV-Replikationsrate erhöht, was bedeuten könnte, dass bei Frauen, die Kokain, Crack, Methamphetamin, Heroin und/oder vergleichbare Substanzen konsumieren (die alle die Dopaminspiegel erhöhen), das Risiko einer Infektion nach einer Exposition aufgrund der drogenbedingt erhöhten HIV-Replikationsrate erhöht ist. Wir brauchen deshalb Forschung zu der Frage, ob die PrEP-Einnahme die HIV-Vulnerabilität bei Drogen konsumierenden Frauen beeinflusst oder nicht. Ein weiterer Bereich, in dem Forschung nötig ist, ist die Frage nach dem besten Ansatz, wie man substanzabhängige Frauen (einschließlich Frauen mit Alkoholproblemen) am besten zur PrEP berät und unterstützt.

Fazit

Die PrEP für Frauen muss als ein Instrument im Werkzeugkasten einer kombinierten Prävention gesehen werden, der außerdem Kondome für Männer und Frauen, Zugang zu Untersuchungen auf HIV, andere sexuell übertragbare Infektionen und Gewalt durch Beziehungspartner sowie zugängliche Angebote rund um die sexuelle und reproduktive Gesundheit in Verbindung mit HIV-Prävention und -Unterstützung enthält. Die PrEP hat für einige Frauen das Potenzial zu einem wirksamen Präventionsinstrument. Doch dieses Versprechen kann sich nur dann erfüllen, wenn wir die oben beschriebenen Maßnahmen ohne Verzögerung umsetzen. Ebenso entscheidend ist, dass Einzelpersonen und Communities, die den höchsten Bedarf an einer effektiven, umfassenden HIV-Prävention haben, vollständig in die Planung und Umsetzung dieser Maßnahmen einbezogen sind und dabei auch Führungsrollen übernehmen.

[…]

 

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PrEP – Präventionsschatztruhe oder Büchse der Pandora?

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Holger Sweers

Holger Sweers, seit 1999 als Lektor, Autor und Redakteur bei der Deutschen Aidshilfe, kümmert sich um die Redaktionsplanung des Magazins.

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