Trauerkultur

Ein Ort der Trauer und des Gedenkens

Von Axel Schock
Mit einem Festakt wurde am 12. Oktober das erweiterte und neu gestaltete Aids-Gemeinschaftsgrab auf dem Alten St. Matthäus-Kirchhof in Berlin eingeweiht.

Seit sich das Herbstlaub zwischen den Grasbüscheln sammelt, sind sie noch unscheinbarer geworden. Unaufmerksamen Besuchern des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs wird die durchkomponierte Bepflanzung der fünf nebeneinander und gegenüberliegenden Grabstellen kaum auffallen.

In spätestens zwei, drei Jahren aber, wenn diese verschiedenartigen Gräser zu filigranen, verschieden hohen Büschen ausgewachsen sind, soll sich die Gesamtkomposition jedermann mit einem Blick erschließen. Im Wechsel der Jahreszeiten werden die zum Teil blühenden Gräser sich in immer neuen Farbkonstellationen zeigen.

Vergänglichkeit und Erneuerung

„Mein ursprünglicher Gedanke ging von flüchtigen Zeichnungen aus. Die Gräser sollen die Flüchtigkeit einer Zeichnung verkörpern, und die Vergänglichkeit und Erneuerung allen Lebens in sich tragen.“ So erläutert Jorn Ebner seinen Entwurf zur Neugestaltung des Aids-Gemeinschaftsgrabes im Berliner Stadtteil Schöneberg.

Im Jahr 2000 wurde ein historisches Familiengrab zu einer Gemeinschaftsgrabstätte für Menschen mit HIV und Aids umgewidmet, die seither vom Verein Denk mal positHIV betreut wird. Rund 50 Menschen haben inzwischen hier ihre letzte Ruhe gefunden.

Gestalter Jorn Ebner
Der Künstler Jorn Ebner

Nach rund zehn Jahren waren die Kapazitäten erschöpft und die Anlage um vier weitere benachbarte Grabfelder erweitert. Damit diese, zusammen mit dem dazugehörigen Weg rund 100 Quadratmeter große Fläche als Einheit wahrgenommen wird, hat der Verein „Denk mal positHIV“ 2014 zu einem zweistufigen Gestaltungswettbewerb aufgerufen.

Nach 30 Jahren mit HIV und Aids habe die Frage im Zentrum gestanden, wie ein zeitgenössischer Umgang mit der Trauer und das Gedenken an Menschen mit HIV/Aids und ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen aussehen könnte, sagte Dorothea Strauss vom Verein „Denk mal positHIV“ .

Aus den 29, mehrheitlich von Bildhauern und Steinmetzen eingereichten Entwürfen hatte eine Fachjury den Vorschlag von Jorn Ebner zur Umsetzung ausgewählt. Am Sonntag wurde die Neugestaltung des nunmehr erweiterten Gemeinschaftsgrabes mit einem Festakt eingeweiht.

Unterstützt wurde das Projekt unter anderem von der Berliner Aids-Hilfe und der Deutschen AIDS-Hilfe, der Friedhofsverwaltung sowie vom ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse. Finanziert werden konnte die Umsetzung dank einer Zuwendung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie in Höhe von 25.000 Euro.

Eine Grabstätte als Denkmal

Die Teilnehmer des künstlerischen Wettbewerbs hatten wahrlich keine leichte Aufgabe vor sich. Mit der Neugestaltung sollten nicht nur die sehr disparaten Grabfelder zu einer geschlossenen Einheit verbunden werden, sondern es sollte auch eine Gedenkstätte entstehen, die an alle erinnert, die infolge von HIV/Aids verstorben sind, sowie an den Kampf gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung – und dies alles unter Berücksichtigung der Vorgaben und Einschränkungen des Denkmalschutzes und der Friedhofsordnung.

Dorothea Strauss, Pfarrerin und Mitbegründerin von Kirche positHIV
Dorothea Strauss, Pfarrerin und Mitbegründerin von Kirche positHIV

Im Zentrum von Jorn Ebners Umgestaltung steht nun ein unregelmäßig mit dunklen Klinkersteinen aufgeschichteter Turm, der die Backsteinarchitektur der umliegenden Friedhofsmauern und Mausoleen aufgreift und an dessen Flächen Steintafeln angebracht sind.

Zum Welt-Aids-Tag werden darauf die ersten Namen zu lesen sein: all jener, die im zurückliegenden Jahr in den Graberweitungen beigesetzt wurden. Die Klinkergestaltung wird außerdem von den vier Grableuchten-Sockeln und der Sitzbank aufgegriffen.

Anders als in der 2000 eingeweihten Grabstätte, in deren Zentrum eine Marmortafel mit einem Vers aus dem Lukas-Evangelium steht („Jesus Christus spricht: Freut Euch aber, dass Eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind“), wurde in der Erweiterungen auf christliche und andere Symbole ganz bewusst verzichtet. So wirkt die Gestaltung nunmehr eher nüchtern und zurückhaltend, und damit gleichermaßen offen für alle Glaubensrichtungen und Lebenshaltungen der Verstorbenen wie der Trauernden.

Frei von religiöser Symbolik

Der neue Gedenkort wolle nicht nur in die Vergangenheit schauen, sondern auch zufällig Vorbeikommende zum Nachdenken über das gegenwärtige und zukünftige Zusammenleben mit positiv getesteten Menschen anstoßen, erklärte Angelika Schöttler, Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg und Schirmherrin des Gestaltungswettbewerbs, in ihrer Rede.

Dass der Bezirk das Projekt von Anfang an unmittelbar unterstützte, wertete Dorothea Strauss als deutliches Zeichen dafür, dass diese Grabstätte für die Stadt wichtig ist.

Inwieweit diese neue Grabanlage wahrgenommen wird, ob als zentraler Gedenkort, als Touristenattraktion, als Treffpunkt oder Ort der Kontemplation, ob sich eigene Rituale herausbilden werden und die Stätte damit ein Eigenleben entwickeln wird – all dass lässt sich freilich nur wünschen, aber nicht planen.

Die neu gepflanzten Gräser scheinen zumindest Wurzeln geschlagen zu haben. Wenn alles gut geht, werden sie vielleicht schon im kommenden Jahr erstmals in Blüte stehen.

Weiterführende Beiträge auf magazin.hiv:

Vom Grabmal zum Denkmal – Zum künstlerischen Wettbewerb für die Neugestaltung

Orte des Gedenkens und der Erinnerung – nationale und internationale Aids-Gedenk-Projekte

Zwölf Hektar Gedenken – 25 Jahre AIDS Memorial Quilt.

Letzte Ruhe unter Freunden –  Aids-Gemeinschaftsgrabstätten in Berlin, Frankfurt/Main, Hamburg und Köln

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