„Randalierende Aids-Positive“
Am 29. September 1991 sind die Spitzen der katholischen Kirche in Deutschland in bester Laune: Die Arbeitssitzungen der deutschen Bischofskonferenz zur Re-Christianisierung der neuen Bundesländer und zum Abtreibungsparagrafen 218 haben sie hinter sich gebracht, nun nimmt der festliche Abschlussgottesdienst seinen Lauf. Doch die feierliche Stimmung im Dom zu Fulda wird jäh gestört: Trillerpfeifen hallen durchs Kirchenschiff, und Gottesdienstbesucher in adretter Kleidung beginnen plötzlich zu skandieren, entrollen Transparente, verteilen Handzettel und werfen sich vor dem Altar zu einem „Die-in“ auf den Boden. Einem Demonstranten gelingt es sogar, auf die Kanzel zu steigen und dort ein Transparent mit der Aufschrift „Die Kirche bringt uns den Tod“ zu befestigen.
Ziel dieser Aktion der Frankfurter Aktionsgruppe „AIDS Coalition to Unleash Power“ (ACT UP, auf Deutsch etwa: „Aids-Koalition, um Kraft zu entfesseln“) ist es, gegen die Diskriminierung von HIV-Positiven und Aidskranken durch die katholische Kirche und insbesondere durch den Hausherrn des Fuldaer Doms, Erzbischof Johannes Dyba, zu demonstrieren.
„Ajatollah aus Fulda“
Dyba gilt damals als einer der konservativsten, wenn nicht gar als erzreaktionärer Repräsentant seiner Glaubensgemeinschaft. Seine Kritiker schmähen ihn als „Ajatollah aus Fulda“, seine Anhänger hingegen feiern ihn als die „Speerspitze des Katholizismus“.
Linke, Feminist_innen, Abtreibungsbefürworter_innen, Pazifist_innen und Umweltschützer_innen sind ihm gleichermaßen ein Dorn im Auge. Was er von Schwulen hält, sagt Dyba immer wieder in ebenso drastischen wie unmissverständlichen Formulierungen. Homosexualität ist in seinen Augen „eine entehrende Leidenschaft und eine widernatürliche Verirrung“, und in einem Gastbeitrag für das Wochenmagazin „Der Spiegel“ bezeichnet er noch im Juli 2000 anlässlich der Debatte um das geplante Lebenspartnerschaftsgesetz Homosexualität als „Degeneration“. Die eingetragene Partnerschaft sei schon deshalb abzulehnen, weil „importierte Lustknaben“ keinen Anspruch auf die Fürsorge der Gemeinschaft haben könnten. Aids wiederum sieht er als Strafe dafür, dass Homosexuelle von Gott abgefallen seien, die Erkrankten bezeichnet er als „Tote auf Urlaub“.
„Widernatürliche Verirrung“
Die Frankfurter ACT-UP-Gruppe will Dybas permanente Diffamierungen und Hetzkampagnen nicht unbeantwortet lassen. Für den Abschlusstag der Herbsttagung der deutschen Bischöfe im Jahr 1991 meldet sie bei der Fuldaer Stadtverwaltung eine Demonstration an.
Johannes Dyba fühlt sich provoziert und glaubt sich am längeren Hebel. Er setzt die Behörden unter Druck und verlangt ein Verbot der Kundgebung. Doch das Kassler Verwaltungsgericht lehnt sein Ansinnen ab. Jetzt erst recht, denken sich die ACT-UP-Aktivist_innen – und verlegen ihren Protest ins Gotteshaus.
Die Aktion ist bis ins Detail geplant, verschiedene mögliche Entwicklungen sind bedacht. Eine Demonstration auf dem Domvorplatz ist offiziell angekündigt und amtlich genehmigt, doch ist sie nur der Auftakt. ACT UP hat Leichentücher bis hin zum Eingangsportal des Doms gelegt, sodass die Bischöfe auf dem Weg zum Festgottesdienst zwangsläufig darübersteigen müssen.
Tumult und Handgreiflichkeiten
Etwa einem Drittel der Aktivist_innen gelingt es, sich in den Dom zu schmuggeln. Als sie später dort ihren Protest lautstark zum Ausdruck bringen, kommt es zu Tumulten und Handgreiflichkeiten.
Der Filmemacher Jochen Hick hat die Geschehnisse in seinem Kurzfilm „Willkommen im Dom“ eindrucksvoll dokumentiert: Demonstrant_innen werden von Kirchenbesucher_innen hinausgeprügelt, auch einige der anwesenden Pressevertreter_innen werden im Handgemenge verletzt. Die Gottesdienstbesucher_innen sind so aufgebracht, dass einer der Bistumsmitarbeiter um Leib und Leben der Demonstrierenden fürchtet, wie er später in einem vertraulichen Gespräch mit dem ACT-UP-Mitstreiter und Juristen Bernd Aretz zugibt.
Zum ersten und wahrscheinlich einzigen Mal wird eine deutsche ACT-UP-Aktion in der 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ vermeldet. Darüber hinaus gibt es bundesweit in Tageszeitungen und anderen Medien Berichte über den Fuldaer Protest, allerdings zumeist erst Wochen nach dem Ereignis: Erzbischof Dyba, der den Protest eigentlich verhindern wollte, beschert ihm die größtmögliche Aufmerksamkeit. Auslöser ist ein Leitartikel im „Bonifatiusboten“, der Kirchenzeitung des Bistums.
„Abtrünnige und Judasfiguren“
Dyba beschimpft die Demo-Teilnehmenden darin als „Chaoten“, „Abtrünnige und Judasfiguren“, „hergelaufene Schwule“ und „randalierende Aids-Positive“. Die verbale Antwort auf die ACT-UP-Aktion fällt so heftig aus, dass selbst die „Fuldaer Zeitung“ dies nicht umkommentiert stehen lassen will und in einem Offenen Brief die Menschenliebe des Erzbischofs anzweifelt. Nun berichten auch andere Medien, und bei der Fuldaer Staatsanwaltschaft gehen mehrere Strafanzeigen wegen übler Nachrede, Beleidigung und Verleumdung ein. Dyba sieht sich gezwungen, die Aussagen zu widerrufen; das Verfahren wird daraufhin eingestellt. Eine Änderung seiner Haltung oder gar reumütiges Bedauern freilich ist dies nicht.
Von den vielen Strafanzeigen, die nach der Aktion von beiden Seiten erstattet werden, führt nur eine einzige zu einer Verhandlung. Der Demonstrant, der die Kanzel erstürmt hat, muss sich wegen Hausfriedensbruchs verantworten. Der Richter stellte das Verfahren mit einer Verwarnung unter Strafvorbehalt ein.
2003, drei Jahre nach Dybas Tod, kommt es dann doch zu einer überraschenden Entschuldigung. Norbert Bug, Pastoralreferent des Bistums Fulda, bittet die AIDS-Hilfe Fulda anlässlich der Feierlichkeiten zu ihrem fünfzehnjährigen Bestehen „um Verzeihung für die Feindseligkeiten, die Ihnen im Namen der katholischen Kirche angetan wurden“. Und mehr noch: Bug bekundet nicht nur offiziell Solidarität, sondern bedankt sich in seiner Rede im Namen der katholischen Kirche für die geleistete Arbeit der Aidshilfe für HIV-Positive.
Anmerkung der Redaktion: Auf seinem Blog 2mecs.de erinnert sich der damalige ACT-UP-Aktivist Ulrich Würdemann an die Aktion im Dom zu Fulda und an die „Generalprobe“ dazu, die am 1. September 1991 am Frankfurter Dom stattfand.
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