Verletzungen der Rechte von Sexarbeiter_innen sind in Europa an der Tagesordnung – auch durch Regierungen, die die Prostitution „eindämmen“ wollen. Besonders betroffen: Migrantinnen und Migranten

Von Linda A. Thompson

Der Originalbeitrag „Don’t criminalise us, protect us“, say Europe’s migrant sex workers erschien am 7. Dezember 2016 auf equaltimes.org – herzlichen Dank an die Herausgeber_innen und die Autorin für die Erlaubnis zur Übersetzung und Zweitveröffentlichung!

2014 drangen Berichte an die Öffentlichkeit, wonach Asylbewerberinnen in Irland in die Sexarbeit eingestiegen waren, weil das Geld, das sie in den Aufnahmezentren kamen, nicht zum Überleben reichte. Die irische Justizministerin ordnete daraufhin umgehend eine Untersuchung an und sagte in einem Radiointerview, sie erwäge die Einführung eines Gesetzes, um den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe zu stellen.

Luca Stevenson, Koordinator des Internationalen Komitees für die Rechte von Sexarbeiter_innen in Europa (International Committee for the Rights of Sex workers in Europe, ICRSE), wies kürzlich bei einem Seminar des ICRSE in Brüssel darauf hin, dass Asylbewerber_innen in den Aufnahmezentren nur 20 Euro pro Woche bekämen – die Antwort der Justizministerin ignoriere daher die strukturellen Bedingungen, die die Frauen in die Sexarbeit trieben. Statt diejenigen zu bestrafen, die für sexuelle Dienstleistungen bezahlten, müsse man Asylbewerber_innen, Migrant_innen und Flüchtlingen mehr Geld zur Verfügung stellen, damit sie erst gar nicht in die Prostitution gehen müssten.

Sparpolitik treibt Frauen in die Sexarbeit

Thema des ICRSE-Seminars, an dem Sexarbeiter_innen, EU-Vertreter_innen und Mitglieder von Frauenrechtsgruppen teilnahmen, waren Verletzungen der Rechte von Sexarbeiter_innen in Europa und Zentralasien. Zum ersten Mal überhaupt kamen dazu migrantische Sexarbeiter_innen aus ganz Europa zusammen, um ihre Bedürfnisse, Sorgen und Forderungen zu formulieren.

„In Großbritannien und vielen anderen Ländern treiben Leistungskürzungen und die Sparpolitik Frauen in die Prostitution – das ist die Realität“, sagt Stevenson, selbst Sexarbeiter. „Und dann bekommen wir zu hören, dass unsere einzige Möglichkeit zu überleben, nämlich der Verkauf sexueller Dienstleistungen, kriminalisiert werden soll, was uns noch weiter in die Verelendung treibt.“

Migrant_innen, Flüchtlinge und Asylbewerber_innen stellen heute in Europa die Mehrheit der Menschen in der Sexarbeit; laut Zahlen des ICRSE sind 65 Prozent der Sexarbeiter_innen in Westeuropa Migrant_innen.

Menschenrechtsaktivist_innen warnen davor, dass diese migrantischen Sexarbeiter_innen – häufig undokumentiert und deswegen ohne Zugang zum normalen Arbeitsmarkt – am stärksten unter der Durchsetzung von Gesetzen leiden, die den Verkauf oder Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellen.

Viele ihrer fundamentalen Menschenrechte, die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union abgedeckt sind, etwa die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten oder das Recht auf Wohnung, Gesundheit und Freiheit von Gewalt, würden verletzt, doch häufig könnten sie kaum etwas dagegen tun.

Auswirkungen der Flüchtlingskrise

Die europäische Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 und die Reaktionen der Europäischen Union sowie der nationalen Parlamente darauf, so das kürzlich vom ICRSE veröffentlichte Papier „Surveilled. Exploited. Deported. Rights Violations against Migrant Sex Workers in Europe and Central Asia“ („Überwacht. Ausgebeutet. Abgeschoben. Verletzungen der Rechte von migrantischen Sexarbeiter_innen in Europa und Zentralasien“), hätten die Verletzungen der Rechte von migrantischen Sexarbeiter_innen weiter verschlimmert. Die Kriminalisierung bezahlter Sexarbeit richte sich zudem gezielt gegen Migrant_innen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, und bringe sie in Gefahr.

Sexarbeiterin Sabrina Sanchez, die aus Mexiko stammt und jetzt in Spanien lebt, wies besonders auf die Verletzung des Rechts auf Wohnung hin. Viele Vermieter_innen verlangten Arbeitsverträge, bevor sie Wohnungen vermieten. „Als Sexarbeiterin hast du so etwas natürlich nicht. Wenn du also irgendwo wohnen und arbeiten willst, kannst du nur wochenweise mieten, ohne Vertrag, ohne Garantie, nicht doch rausgeworfen zu werden, und zum doppelten oder dreifachen Preis“, so Sanchez.

Catherine Murphy, Direktorin für den Themenbereich Geschlecht, Sexualität und Identität bei Amnesty International, sagte gegenüber der Equal Times, dass die angeblichen Erfolge bei der Durchsetzung nationaler Gesetze gegen Sexarbeit und Menschenhandel in Wirklichkeit keine seien.

„Häufig gibt es Beifall für einen dramatischen Rückgang sichtbarer Sexarbeit oder sichtbarer Sexarbeit von Migrant_innen“, so Murphy. „Aber um das zu erreichen, verletzt man gezielt und massiv die Menschenrechte.“

Viele der Sexarbeiter_innen und NGO-Vertreter_innen bei dem ICRSE-Seminar forderten die Abgeordneten dazu auf, Flüchtlingen und Migrant_innen mehr wirtschaftliche Chancen zu eröffnen, die Abschiebung migrantischer Sexarbeiter_innen einzustellen und Migrant_innen einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu rechtlichem Schutz zu verschaffen, damit niemand in die Sexarbeit gehen müsse, um sein Überleben zu sichern.

„Migrantische Sexarbeiter_innen arbeiten, um ihre Kinder, Familien und manchmal sogar ganze Gemeinschaften zu unterstützen, und der Dank dafür sind Kriminalisierung und Abschiebung“, sagte Paulina Nicol, eine rumänische Sexarbeiterin, die für das English Collective of Prostitutes teilnahm.

„Wir wollen, dass man migrantische Sexarbeiter_innen wahrnimmt und versteht und dass man sie als migrantische Arbeitskräfte anerkennt“, sagte Kemal Ördek von der türkischen Sexarbeiter_innen-Organisation Kırmızı Şemsiye.

Das Thema Abschiebung ist in der Türkei besonders relevant – in einem Land mit einer der weltweit größten Populationen von Flüchtlingen und Migrant_innen, darunter schätzungsweise 2,7 Millionen Menschen aus Syrien. Ördek sagte, die türkische Regierung habe kürzlich turkmenische Sexarbeiterinnen abgeschoben, die später „Ehrenmorden“ in Turkmenistan zum Opfer gefallen seien.

Unterschiedliche Ansätze

In den Problemen migrantischer Sexarbeiter_innen spiegeln sich wie in einem Mikrokosmos die große, erhitzt geführte Debatte um Prostitution und die unterschiedlichen Ansätze der EU-Länder, um die Nachfrage nach bezahltem Sex zu reduzieren.

Viele europäische Länder wie zum Beispiel Schweden oder Norwegen versuchen Sexarbeit zu unterbinden, indem sie die Käufer_innen sexueller Dienstleistungen bestrafen und nicht die Anbieter_innen.

Sexarbeiter_innen-Organisationen in aller Welt halten dagegen, dass dieser Ansatz nicht funktioniere. Stattdessen verlangen sie die vollständige Entkriminalisierung der Sexarbeit. Alles andere sei schädlich für Sexarbeiter_innen und insbesondere für migrantische Sexarbeiter_innen, weil es sie einem umso höheren Risiko von Gewalt und Missbrauch durch Strafverfolgungsbehörden und Kund_innen aussetze.

Aktivist_innen fordern die Regierungen auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Menschenrechte von Sexarbeiter_innen zu schützen, unabhängig von ihrer Nationalität oder ihrem (aufenthalts-)rechtlichen Status.

„All die Gesetze, die sie entwickeln, sollen Frauen schützen. Doch das Einzige, was sie erreichen, ist mehr Gewalt gegen uns – ohne dass wir Mittel zur Selbstverteidigung hätten“, sagt Sexarbeiterin Paula Ezkerra, Mitglied der Asamblea de Activistas Pro-Derechos sobre el Trabajo Sexual de Catalunya (Versammlung von Aktivist_innen für die Rechte von Sexarbeiter_innen in Katalonien) aus Barcelona.

Auch große Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, die Weltgesundheitsorganisation und verschiedene Organisationen der Vereinten Nationen wie UN Women und die UNAIDS Advisory Group on HIV and Sex Work fordern die Entkriminalisierung der Sexarbeit – sie garantiere bessere Arbeitsbedingungen und verringere die soziale Verwundbarkeit und Marginalisierung von Sexarbeiter_innen.

Im April 2016 hat Frankreich ein neues Gesetz nach skandinavischem Vorbild beschlossen, das Bordelle und Zuhälterei illegalisiert. Die französiche Regierung betonte, das Gesetz werde den Menschenhandel bekämpfen, und führte Schätzungen an, wonach 90 Prozent der 20.000 bis 40.000 Sexarbeiter_innen des Landes Opfer nigerianischer, chinesischer und rumänischer Menschenhandelsnetzwerke seien.

Kriminalisierung von Sexarbeit schützt nicht, sondern schadet

Aktivist_innen dagegen sagen, dass dieses Gesetz gerade den am stärksten gefährdeten Sexarbeiter_innen des Landes schade, nämlich jenen, die typischerweise auf der Straße arbeiten.

Nathalie Simonnot, stellvertretende Direktorin von Médecins du Monde International Network und Mitbegründerin des Pariser Sexarbeiter_innen-Programms Lotus Bus, nennt das Beispiel chinesischer Sexarbeiterinnen. Sie hätten viele langjährige und im Allgemeinen ältere Kunden verloren, die nun Angst vor Polizeiverfolgung hätten. Das neue Gesetz zwinge die Frauen daher dazu, mit Zuhälter_innen und Bordellbesitzer_innen zusammenzuarbeiten, um auch weiterhin an Kunden zu gelangen, und dafür einen Teil ihrer Einnahmen abzugeben. „Das war vorher nicht der Fall“, sagt Simonnot, „da konnten sie 100 Prozent ihrer Einnahmen behalten.“

Der Rückgang bei der Kundenzahl und die erzwungene Abhängigkeit von anderen zwingt die Sexarbeiterinnen jetzt dazu, länger und auch nachts zu arbeiten, was sie vorher zu gefährlich fanden – also mehr Arbeit für weniger Geld, sodass sie auch weniger Geld an ihre Familien und Verwandten in China überweisen können.

Die bestehenden Gesetze gegen Menschenhandel seien angemessen und ausreichend, so Simonnot. „Wir sollten keine spezifischen Gesetze für die Sexarbeit erlassen – am Ende richten sie sich nämlich immer gegen die Sexarbeiter_innen selbst.“

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