Interview

Mit der Geschichte der Sexarbeit gegen das Stigma

Von Tia Morgen
Geschichte der Sexarbeit: Bild aus der Ausstellung
Installation der Ausstellung "With Legs Wide Open" (Foto: Tia Morgen)

Derzeit wird im Schwulen Museum Berlin die Ausstellung „With Legs Wide Open – Ein Hurenritt durch die Geschichte“ gezeigt, kuratiert von einem Kollektiv von Sexarbeiter*innen. Sie erzählt die vielschichtige Geschichte der Sexarbeit, die so in Deutschland noch nicht erzählt wurde – aus der Perspektive derjenigen, die oft im Verborgenen bleiben. Tia Morgen hat die Ausstellung besucht und mit zwei der Kurator*innen, Rori Dior und Ernestine Pastorello, gesprochen.

Durch eine spielerische Verknüpfung von Dokumenten, Objekten und künstlerischen Interventionen entsteht das „Museum der Sexarbeit“ als fiktive Institution. Hier werde ich durch verschiedene Abteilungen geführt, die Einblicke in die Kleidung von Sexarbeiter*innen im Mittelalter, das Gesundheitswissen von Sexarbeiter*innen, die Verbindung zwischen Sexarbeit und queeren Communitys sowie die Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte und dem Holocaust bieten. Die Ausstellung fordert gängige Narrative über Sexarbeit heraus und setzt sich kritisch mit der institutionellen Abwertung, Regulierung und Überwachung von Sexarbeit auseinander.

Im letzten Raum befindet sich die „Beschwerdestelle“, in der ich von Sexarbeiter*innen erfahre, die sich zur Wehr setzen. Diese Abteilung, so schreiben die Kurator*innen, sei auch als „Abteilung der unermüdlichen Wiederholung“ bekannt, denn Sexarbeiter*innen würden ihre Forderungen schon seit Jahrhunderten zum Ausdruck bringen. Den Abschluss macht ein Raum zum Austausch über den idealen Arbeitsplatz. Ein utopischer Ort, der auch Nicht-Sexarbeiter*innen dazu anregt, über Arbeitsrechte, körperliche Autonomie, Entscheidungsfreiheit und Gesundheit nachzudenken.

Für mich als Besucherin ist spürbar: Die Expertise der Kurator*innen basiert nicht nur auf tiefgreifenden Recherchen, sondern vor allem auch auf gelebten Erfahrungen. Rori Dior und Ernestine Pastorello treffe ich im Café des Schwulen Museums zum Gespräch.

Wenn man die historischen Wurzeln von etwas, das man heute erlebt, erkennt, macht es den ganzen Kontext klarer.

RORI DIOR

Wie entstand die Idee zur Ausstellung und wie kam die Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum zustande?

ERNESTINE PASTORELLO: Kurz nach einem der Lockdowns war ich mit meinem Freund und Kollegen Caspar Tate zum Abendessen verabredet. Er ist für Trans*Sexworks aktiv und erzählte mir von der zunehmenden Gewalt gegen Sexarbeiter*innen, die in Schöneberg auf der Straße arbeiten. Wir diskutierten, ob es wohl so viel Gewalt gäbe, wenn die Nachbar*innen wüssten, dass Sexarbeiter*innen schon seit den 1860er Jahren in diesem Viertel arbeiten. So entstand die Idee für ein Denkmal, um die Menschen über die historische Bedeutung dieses Viertels für Sexarbeit aufzuklären. Weil ich aufgrund der Ausstellung „Objects of Desire“, die 2019 im Schwulen Museum lief, wusste, dass das Museum die Community von Sexarbeiter*innen unterstützt, wandte ich mich mit unserer Idee an sie. Ich erzählte also Birgit Bosold (Anm. d. Red.: Vorstandsmitglied des Schwulen Museums) davon und sie schlug vor, mit einem Forschungsprojekt anzufangen. So entstand der Audiowalk. (Anm. d. Red.: Der Rundgang „Wir waren schon immer überall. Sexarbeit im Bülowbogen. Ein Audiowalk zur Geschichte Schönebergs“ erzählt Schönebergs Geschichte als eine Geschichte der Sexarbeit und ist in der Berlin History App auf Deutsch und Englisch abrufbar.) Der lief so gut, dass das Museum uns einlud, eine Ausstellung zu machen. Also haben wir einen Antrag geschrieben und das Geld tatsächlich bekommen.

Wart ihr beide von Anfang an dabei?

RORI DIOR: Nein, ich war nicht am Audiowalk beteiligt, aber ich habe 2019 mit anderen die Ausstellung „Objects of Desire“ im Schwulen Museum kuratiert. Dabei ging es um den Aufbau eines Archivs von Objekten und Geschichten von Sexarbeitenden, einschließlich Interviews mit rund 40 Sexarbeiter*innen in Berlin. Als Ernestine begann, an der neuen Ausstellung zu arbeiten, fragte sie mich, ob ich dabei sein will. Letztendlich bestand unser Kollektiv aus vier bis fünf Personen.

Ernestine Pastorello und Rori Dior in der Ausstellung (Foto: Tia Morgen)

Die Ausstellung ist als imaginäre Institution konzipiert: die Garderobe, das Amt für Statistik, die Gesundheitsabteilung, die Beschwerdestelle, eine Kapelle und so weiter. Warum gibt es diese Struktur mit Abteilungen?

RORI DIOR: Zunächst haben vor allem Ernestine und ich gemeinsam recherchiert. Dann trafen wir uns mit dem ganzen Kollektiv und zwei Historikerinnen zu einem Workshop, bei dem wir alles, was wir gefunden hatten, auf Klebezetteln notierten und sortierten. Als wir dann überlegten, wie wir die Ausstellung gestalten wollen, merkten wir schnell, dass sich unsere Funde um verschiedene Themen clusterten. Die Themengebiete entstanden also aus der Forschung heraus, nicht andersherum. Und die Abteilungen repräsentieren diese unterschiedlichen Themenbereiche.

ERNESTINE PASTORELLO: Erst einmal hatten wir alles chronologisch geordnet. Doch wir haben schnell gemerkt, dass sich die Themen in jeder Ära wiederholen. Es wäre eine Geschichte sich wiederkehrender Phasen der Duldung, Regulierung und Abschaffungsversuche geworden. Damit wir uns also nicht ständig wiederholen, hat es mehr Sinn gemacht, nach Themengebieten zu sortieren – obwohl ich am Anfang dagegen war. Ich mag Dinge ordentlich und die anderen brachten diese eher chaotische Perspektive ein. Das war zwar manchmal eine Herausforderung, aber es ist auch ein Grund, warum die Ausstellung so stark ist.

Wie seid ihr bei der Recherche vorgegangen?

RORI DIOR: Als Teil des Rechercheprozesses haben wir verschiedene Archive besucht, das Bundesarchiv, das Landesarchiv und das Archiv der Mahn- und Gedenkstätte in Ravensbrück. Aber wir hatten weniger als sechs Monate für die Forschung, und vieles dort ist nicht digitalisiert. Es war uns von Anfang an klar, dass unsere Arbeit nur ein erster Entwurf sein kann. Wir sind damit auch sehr explizit: Diese Ausstellung ist nicht abschließend, sie ist ein Start.

Wenn Nicht-Sexarbeiter*innen die [Geschichte der Sexarbeit] erforschen, werden sie die Zwischentöne übersehen, die wir sofort erkennen – egal wie gut ihre Absichten sind.

ERNESTINE PASTORELLO

Während unserer Recherche haben wir uns auch viel mit dekolonialer und queerer Geschichte auseinandergesetzt. Marginalisierte Communities wurden und werden seit Jahrhunderten unsichtbar gemacht, sie müssen versteckt leben. Wir haben viel von dekolonialer und queerer Geschichtsschreibung gelernt. Und wir sind uns bewusst, dass viele unserer Thesen auf Empfindungen beruhen. Wir haben versucht, auf Basis unserer eigenen Erfahrungen nachzuvollziehen, wie es in der Vergangenheit gewesen sein könnte. Wir schöpfen dabei aus dem Wissen, das sich über Jahrhunderte in unsere Körper eingeschrieben hat.

ERNESTINE PASTORELLO: Die erste Herausforderung war, dass sich die Begriffe im Laufe der Geschichte ändern und wir zunächst die richtigen Begriffe finden mussten, die in den unterschiedlichen Epochen verwendet wurden, um dann mit diesen Begriffen in den Archiven zu suchen. Und trotzdem muss man auch dann noch häufig zwischen den Zeilen lesen. Ein Beispiel sind die Hexenverfolgungen: Wenn man sich näher mit den Aufzeichnungen beschäftigt, stellt man schnell fest, dass viele der Menschen, die als Hexen verfolgt wurden, vermutlich Sexarbeiter*innen waren, auch wenn man das nicht genau belegen kann. Wenn Nicht-Sexarbeiter*innen diese Dinge erforschen, werden sie diese Zwischentöne übersehen, die wir sofort erkennen – egal wie gut ihre Absichten sind. Weil wir auf unsere eigenen Erfahrungen zurückgreifen können.

Welche Kriterien waren bei der Auswahl der Objekte besonders wichtig?

ERNESTINE PASTORELLO: Wir haben uns darauf konzentriert, Objekte und Geschichten von Sexarbeitenden selbst einzubeziehen und vermieden Darstellungen aus Fremdperspektiven. Deshalb haben wir auch viele Objekte abgelehnt. Da war zum Beispiel eine Postkarte von Sexarbeiter*innen in Papua-Neuguinea. Eine Zeichnung, eine Art koloniale Werbung, und es war ein Bild von einer Sexarbeiterin in einer Region, aus der wir nicht viele Bilder hatten, aber am Ende entschieden wir uns, das Bild nicht zu zeigen.

RORI DIOR: Ich verstehe, dass es manchmal wichtig ist, diese Bilder zu zeigen, um die Gewalt der Vergangenheit zu verdeutlichen. Doch so viele Informationen und Bilder über Sexarbeit stammen aus der Sicht der Unterdrücker*innen, zum Beispiel Polizeifotos und -dokumente. Wir wollten nicht, dass die Ausstellung nur aus dieser Perspektive besteht und diese Gewalt gedankenlos reproduziert. Deshalb haben wir versucht, so oft es ging einen anderen Schwerpunkt zu setzen.

Viele Informationen und Bilder über Sexarbeit stammen aus der Sicht der Unterdrücker*innen. Wir wollten nicht, dass die Ausstellung diese Gewalt gedankenlos reproduziert.

RORI DIOR

ERNESTINE PASTORELLO: Generell haben wir jede Entscheidung sehr intensiv diskutiert. Alles wurde genau geprüft, was damals anstrengend war. Aber im Nachhinein ist es wertvoll. Wir mussten kritisch sein, da die Quellen oft sehr voreingenommen waren. Wir mussten die Informationen vom Stigma trennen und dann bewerten, ob sie immer noch gültig und nützlich sind. Es war wirklich ein Prozess des Grabens, um die Stimmen von Sexarbeiter*innen in den Vordergrund zu bringen, selbst wenn sie nicht unbedingt in den Quellen selbst reflektiert waren.

Wie lief die Zusammenarbeit mit dem Museum?

RORI DIOR: Unglaublich toll! Wir werden als Expert*innen anerkannt und das Museum unterstützt uns, so gut es kann, mit Feedback und Ressourcen. Sie haben wirklich einen Raum geschaffen, in dem wir sein können, wer wir sind.

ERNESTINE PASTORELLO: Bei unserem ersten Gespräch hat Birgit Bosold ausdrücklich zu mir gesagt: „Wir erinnern uns an die Zeit, als queere Menschen so stark stigmatisiert waren, und jetzt, wo wir etwas institutionelle Anerkennung bekommen haben, wollen wir euch mit hochziehen.“ Das hat mich sehr berührt.

Welche Reaktionen gab es bislang auf die Ausstellung, die im März eröffnet wurde?

RORI DIOR: Überwiegend sehr positiv. Leute haben uns auf verschiedene Details hingewiesen und einige davon haben wir geändert. Das finde ich auch wirklich gut, denn die Ausstellung soll ein fortlaufender Prozess sein und nichts Abgeschlossenes. Bei den Führungen sind die Reaktionen durchweg positiv. Oft sind die Leute sehr überrascht, besonders im Abschnitt über den Nationalsozialismus. (Anm. d. Red.: Sexarbeiter*innen wurden durch das NS-Regime zum „Schutze der Moral“ verfolgt. Zugleich gab es sowohl an der Front als auch in Konzentrationslagern staatliche Bordelle, in denen Sexarbeiter*innen zur Arbeit gezwungen wurden.) Offenbar kennen die meisten diese Geschichte nicht, das ist dann ein riesiger Schock.

ERNESTINE PASTORELLO: Es bedeutet mir wahnsinnig viel, Führungen durch die Ausstellung zu geben und die zutiefst menschlichen Reaktionen der Besucher*innen zu sehen. Das macht mir wirklich Hoffnung. Eigentlich ist es ja ganz einfach. Wir sind Menschen. Wir sind Arbeiter*innen. Wir verdienen Rechte und wir fordern Entkriminalisierung.

Ich denke, dass wir mit der Ausstellung wirklich Einfluss nehmen können auf den akademischen Diskurs. Und hoffentlich auch auf die politischen Entwicklungen in Deutschland.

ERNESTINE PASTORELLO

Und es kommen auch viele Akademiker*innen und Politiker*innen in die Ausstellung, die zuvor noch nie mit Sexarbeiter*innen Kontakt hatten. Die vielleicht noch nie davon gehört haben, dass manche Sexarbeiter*innen tatsächlich freiwillig arbeiten. Die Medien verbreiten meist ein ganz anderes Bild.

Ich denke, dass wir mit der Ausstellung wirklich Einfluss nehmen können auf den akademischen Diskurs. Und hoffentlich auch auf die politischen Entwicklungen in Deutschland.

Haben euch andere Projekte bei eurer Arbeit inspiriert?

Rori Dior: Ich wurde sehr von der Gruppe Empower aus Thailand inspiriert. Sie führen ein Museum der Sexarbeit in Bangkok. Und sie betreiben die Can Do Bar, in der sie ihre idealen Arbeitsbedingungen modellieren. Sie machen auch immer wieder künstlerische Interventionen, wie zum Beispiel auf der Welt-Aids-Konferenz, zu der sie als Polizist*innen verkleidet kamen, um die Anti-Trafficking-Politik satirisch zu kritisieren. Auch DASPU aus Brasilien inspiriert mich sehr. Sie haben auch ein Modelabel für Sexarbeiter*innen.

ERNESTINE PASTORELLO: Ich denke, ich hab mir eher die Frage gestellt: Was will ich nicht? Im Märkischen Museum, das gerade erneuert wird, gab es früher auch einen kleinen Bereich zu Prostitution. Dort ging es vor allem um Armut, Leiden, Degradierung, Dunkelheit und Krankheiten. Und ich habe mich gefragt, was ich stattdessen erzählen möchte.

Was wir als durchgehendes Merkmal der Kultur von Sexarbeiter*innen über die Zeit hinweg entdeckt haben, ist, dass viele von uns einen großen Sinn für Humor haben. Es ist eine Überlebensstrategie, um mit Diskriminierung umzugehen. Ein Akt des Widerstands gegen die Dunkelheit, die die Welt über uns legen will. Und das ist zum Beispiel etwas, das Menschen sehen können, wenn wir selbst die Geschichte erzählen.

Was waren die größten Herausforderungen bei der Arbeit an der Ausstellung?

RORI DIOR: Wir brachten alle sehr unterschiedliche Perspektiven mit. Das war eine riesige Bereicherung, aber auch anstrengend. Aber ich habe das Gefühl, dass wir das wirklich gut gemeistert haben. Und der Arbeitsaufwand war riesig. Wir hatten nur sechs Monate für die gesamte Recherche. Viele Archive haben uns lange nicht geantwortet oder wir mussten mehrmals nachfragen.

ERNESTINE PASTORELLO: Es gab definitiv Archive, die nicht mit uns arbeiten wollten. Das Landesarchiv war besonders schwierig. Ihr System erschwert es, die Dokumente zu finden, nach denen man sucht. Zudem kämpften wir gegen den soziokulturellen Gegenwind gewisser Leute, die dachten, dass alles, was mit Sexarbeit zu tun hat, intensiv geschützt werden müsste, um das Andenken der Menschen nicht zu entehren – was natürlich eine völlig andere Auffassung ist als unsere.

Unsere Geschichte zu kennen, schützt uns davor, das Stigma zu internalisieren.

ERNESTINE PASTORELLO

Wir haben viele historische Geschichten von Sexarbeiter*innen verloren, die sich schämten, ihre Geschichte zu erzählen, oder weil ihre Kinder nicht wollten, dass diese Geschichten erzählt werden, um den Ruf der Person zu schützen. Dabei ist es so schädlich, wenn wir unsere Geschichte nicht kennen. Es fördert Hassverbrechen. Es lässt uns glauben, dass auch wir schweigen müssen. Dass wir Bürger*innen zweiter Klasse sind. Die Geschichte von Sexarbeit*innen zu erzählen, wirkt Stigma entgegen.

RORI DIOR: Wenn man die historischen Wurzeln von etwas, das man heute erlebt, erkennt, macht es den ganzen Kontext klarer.

ERNESTINE PASTORELLO: Ja, unsere Geschichte zu kennen, schützt uns davor, das Stigma zu internalisieren.

Die Ausstellung „With Legs Wide Open“ zur Geschichte der Sexarbeit läuft aktuell im Schwulen Museum in Berlin noch bis 11. November 2024.

Mehr zum Thema auf magazin.hiv

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

+ 23 = 32