Medizin

„Meine HIV-Heilung hat alles verändert“

Von Dirk Ludigs
Portrait Timothy Ray Brown
Vor zehn Jahren wurde Timothy Ray Brown als erster und bis heute einziger Mensch von HIV geheilt – durch eine Knochenmarktransplantation. Heute engagiert er sich dafür, nicht der Einzige zu bleiben

„Willst du mehr über die PrEP wissen? Dann komm rein!“, steht auf einer quietschbunt blinkenden LED-Tafel vor dem „Desert AIDS Project“ im Herzen der kalifornischen Urlaubsmetropole Palm Springs. Das D.A.P. ist Gesundheitszentrum für Menschen mit HIV, Schwerpunktklinik, Beratungsstelle und Selbsthilfezentrum in einem. Auf den Fluren geht es geschäftig zu. 8000 Menschen werden vom D.A.P. medizinisch und pflegerisch versorgt, ein Mammutbetrieb für ein Gebiet mit weniger als einer halben Million Einwohner_innen. Neben Ärzt_innen, Pflegekräften und Berater_innen arbeiten viele dutzend Freiwillige hier. Manche als Yogalehrer_innen oder Physiotherapeut_innen, andere als Leiter_innen von Selbsthilfegruppen oder in der persönlichen Betreuung. Alle könnten ihre sehr persönlichen Gründe nennen, warum sie sich im Desert AIDS Project engagieren. Timothy Ray Brown hat einen, den es auf der Welt kein zweites Mal gibt: Er ist der einzige Mensch, der jemals von HIV geheilt wurde.

Seit zehn Jahren von HIV geheilt

Rückblick: Vor zehn Jahren, 2007, lebt der US-Amerikaner in Berlin, ist schon elf Jahre HIV-positiv und schluckt seitdem Medikamente. 2006 ist eine weitere lebensbedrohliche Krankheit festgestellt worden: Leukämie. Eine Chemotherapie muss er abbrechen, weil er fast daran stirbt. Sein Arzt an der Berliner Benjamin-Franklin-Uniklinik, Gero Hütter, schlägt ihm eine Knochenmarktransplantation vor – und hat eine geniale Idee: Er sucht für Timothy nach einem Spender mit einer seltenen Mutation, durch die HIV nicht in Körperzellen eindringen kann. (HIV braucht normalerweise den sogenannten CCR5-Rezeptor, um an Zellen „anzudocken“. Bei einigen wenigen Menschen, zum Beispiel knapp 1,5 Prozent der Nordeuropäer_innen, ist dieser Rezeptor aber genetisch verändert, sodass HIV dieses „Andocken“ nicht gelingt. Sie sind gegen die allermeisten HIV-Stränge resistent.) Hütter ist kein HIV-Fachmann. „Der hat einfach beim Medizin-Studium aufgepasst“, sagt Timothy heute und lacht.

Damals war die Sache todernst. Was Hütter seinem Patienten in Berlin vorschlägt, ist absolutes Neuland, und wie die Sache ausgehen wird, kann niemand vorhersagen … Außerdem ist so eine Knochenmarktransplantation eine riskante Operation: Das eigene Immunsystem der Patient_innen muss komplett ausgeschaltet werden, damit die übertragenen Knochenmarks-Stammzellen nach und nach ein neues Immunsystem aufbauen können, und das kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen bis hin zum Tod führen.

„Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen“

Es ist drei Uhr nachmittags, später Februar, sonnig wie fast jeden Tag in der kalifornischen Wüste, aber mit nicht mal dreißig Grad noch winterlich mild. Mit seinem Freiwilligenjob im D.A.P. ist Timothy für heute durch. Er trägt T-Shirt, Shorts und Sneakers, wie die meisten hier. Das ergraute Haar ist schon ein wenig schütter, und man sieht ihm an, dass er viel erlebt hat. Doch die offenen, braunen Augen strahlen quicklebendig, und sobald er lächelt, wirkt sein Gesicht mit einem Mal um vieles jünger, fast bubenhaft verschmitzt. Das Gehen fällt ihm allerdings nicht leicht, das ist eine Folge der schweren Therapien, die er hinter sich hat.

Bei einem doppelten Espresso auf Eis in einem hübschen Gartencafé in der nahen Downtown erinnert sich Timothy noch einmal an die Zeit vor zehn Jahren: „Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen.“ Doch der Versuch gelingt. Gegen den Rat der Fachleute nimmt Timothy am Tag der Transplantation zum letzten Mal seine HIV-Medikamente. „Nach der OP schoss meine Viruslast mit einem Mal explosionsartig nach oben. Aber nach drei Monaten war ich komplett unter der Nachweisgrenze. Ohne Medikamente! Da war ich froh, dass ich gegen den Rat der Ärzte gehandelt hatte, das hätte ja womöglich noch Monate gedauert, bis wir das rausgefunden hätten! Ich fühlte mich schnell wieder fitter und ging zurück in mein Berliner Sportstudio. Dort kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass ich tatsächlich geheilt sein könnte. Denn während all der Jahre mit HIV war es mir nie gelungen, Muskelmasse aufzubauen, und nun plötzlich setzte ich wieder Muskeln an.“

Tatsächlich ist Timothy nach der Transplantation von HIV geheilt – eine medizinische Sensation. Der Blutkrebs aber kehrt zurück. Eine zweite Knochenmarktransplantation überlebt er nur knapp: „Es gab erhebliche Komplikationen, ich war tagelang im Delirium, und sie haben sogar eine Hirnbiopsie gemacht, um herauszufinden, ob der Krebs die Hirnschranke überwunden hatte. Doch sie fanden weder Leukämie noch HIV. Das war ein weiterer wichtiger Hinweis darauf, dass ich tatsächlich geheilt war.“ In der Tat gilt das Hirn als ein möglicher Ort, an dem HIV sich „verstecken“ und „überwintern“ kann. Bis heute wurden bei Timothy nirgends mehr im Körper HI-Viren entdeckt. „Sie haben mir sogar einen Lymphknoten aus der Leiste entnommen – Fehlanzeige!“

„Meine Heilung hat alles radikal verändert“

Timothy kämpft und überlebt die zweite Transplantation, doch zunächst wird er zum Pflegefall. Seine Beziehung in Berlin zerbricht, und weil er nicht in ein Heim gehen will, kehrt er 2011 in die Staaten zurück. Zunächst kommt er bei Freunden in San Francisco unter, kurze Zeit später verschlägt es ihn nach Nevada, in einen Vorort von Las Vegas, nach Henderson. In dieser Zeit beginnt er, sich wieder in Sachen HIV zu engagieren.

„Als junger Schwuler war ich Teil von ACT UP in meiner Heimatstadt Seattle. Wir waren dort vielleicht nicht so radikal wie die New Yorker, aber wir haben zum Beispiel eine Modenschau von Nordstrom gestürmt und Die-ins veranstaltet. Als ich später in Berlin mein positives Testergebnis bekam, zog ich mich zurück. Ich schluckte täglich meine Pillen, aber mehr wollte ich mit HIV nicht zu tun haben. Meine Heilung hat das alles radikal verändert. Mein damaliger Freund sagte: ‚Du solltest jetzt einfach wegfahren und ein neues Leben anfangen und nicht mehr darüber nachdenken.‘ Aber das konnte ich nicht. Ich wusste, ich werde nicht mehr ruhig schlafen können, wenn ich nicht dazu beitrage, dass auch andere die Chance auf Heilung bekommen, so wie ich!“

Wenn die Sonne hinter dem 3000 Meter hohen Mount San Jacinto verschwindet, wird es in Palm Springs rasch kühl. Timothy macht sich auf den Heimweg, auf ihn wartet eine schlichte Wohnung in einer kleinen Apartment-Anlage. Der Swimming-Pool im Garten ist Standard, kein Luxus. Wenn im Sommer die Temperaturen über 50 Grad steigen, brauchen alle das kühlende Nass. Seit 2015 lebt er hier mit seinem neuen Lebenspartner, den er in Henderson kennengelernt hat.

„Ich spüre eine gewisse Überlebensschuld“

Palm Springs wird zunehmend zu einem Mekka für ältere Schwule aus den ganzen USA mit und ohne HIV – vielleicht besser gesagt zu einem „Safe Space“, an dem sie würdevoll und ohne Stigmatisierung leben und alt werden können. Schon 2012 war Timothy zum ersten Mal hierhergekommen, als Ehrengast des Desert AIDS Project auf dem lokalen Gay Pride. Doch sein „Claim to Fame“, wie man hier sagt, sein Ruhm als „Berlin Patient“, begann ihn damals schon zu bedrücken. Timothy Ray Brown wollte wieder er selbst werden, mehr sein als nur ein Unikum, ein medizinisches Wunder, das herumgereicht wird. Mit der Unterstützung des Fred-Hutchinson-Krebsforschungszentrums gründete er in dem Jahr die „Timothy Ray Brown Foundation“, die sich weltweit für die Heilung von Aids einsetzt.

Timothys Aktivismus beschränkt sich bald nicht allein auf die Stiftungsarbeit. Er hält Vorträge auf internationalen Konferenzen. Er geht in Schulen, um aufzuklären. Und er engagiert sich bei „Let’s kick ASS“ (ASS steht für AIDS Survivor Syndrome), einem Zusammenschluss von Langzeitüberlebenden, die mit den Folgen ihrer Traumatisierung durch die HIV-Krise besser umgehen lernen und auf ihre Situation aufmerksam machen wollen.

Vor Kurzem hat Timothy angefangen, die PrEP zu nehmen, und er setzt sich – wie könnte es auch anders sein – als Aktivist für ihre weitere Verbreitung ein. Lange Zeit hatte ihm die Angst davor, sich vielleicht erneut mit HIV zu infizieren, schlaflose Nächte bereitet: „Bei ‚Fred Hutch‘ hatten sie mir gesagt, trotz Mutation gäbe es eine klitzekleine Chance, dass ich mich durch sehr seltene HIV-Stämme erneut infizieren könnte, die mit einem anderen Rezeptor in die Zellen gelangen. Und da dachte ich mir: Was für ein Scheiß! Das wäre für mich eine dramatische Niederlage, wenn ich mich noch mal infizieren würde. Seitdem schlucke ich lieber täglich eine Truvada-Tablette. Schließlich habe ich immer noch viel und gerne Sex!“

„Die Dritte Welt braucht eine einfache Heilung“

Dann wird er ernst: „Ich spüre eine gewisse Überlebensschuld“, sagt Timothy. „Von HIV geheilt worden zu sein, hat mich demütiger gemacht, weniger egoistisch, und ich glaube sogar, ich bin dadurch zu einem besseren Menschen geworden. Ich sage mir oft, es muss doch einen Grund geben, warum du der Einzige bist, du musst etwas für die anderen tun, da steckt eine Aufgabe drin. Viele Patienten und Forscher sagen mir: Du gibst uns Hoffnung, denn wenn ein einziger Mensch von HIV geheilt werden kann, dann können alle geheilt werden.“

Nicht allen ist das Thema HIV-Heilung immer noch so wichtig. Immer mehr Fachleute finden, die Therapien seien doch schon sehr erfolgreich, arm an Nebenwirkungen, von einer Heilung sei man dagegen noch sehr weit entfernt, und die Forschung könnte Abermillionen verschlingen, die an anderer Stelle vielleicht besser aufgehoben wären. Für Timothy sind das alles keine Argumente: „Die Therapien sind für die Erste Welt, wo alle reich genug sind und sich die Pillen leisten können. Die Dritte Welt aber braucht eine einfache HIV-Heilung, die man zur Not in einem Bus durchführen kann, der über Land fährt. Dafür setze ich mich ein. Ich bin ja auch der Einzige, der sagen kann, wie es sich anfühlt, wenn man geheilt ist. Und ich kann allen sagen: Es ist ein großartiges Gefühl, das ich nicht mehr missen möchte!“

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