Forschung

HIV-Heilung 2024: Im Prinzip ja, aber…

Von Siegfried Schwarze
Genschere in der Forschung zur HIV-Heilung
©Gernot Krautberger/stock.adobe.com

Weltweit gelten bereits fünf Menschen als von HIV geheilt. Liegt die HIV-Heilung endlich greifbar nah oder weiter in der ungewissen Zukunft? Ein Überblick zu den Methoden, Risiken und Aussichten.

Stammzellspende mit Risiken

Inzwischen ist die Zahl der Menschen, die von ihrer HIV-Infektion geheilt werden konnten, auf fünf angestiegen. Man kann also guten Gewissen sagen: „Ja, es ist möglich!“ Aber: Momentan ist die Therapie noch schlimmer als die Krankheit. Das bedeutet, das Verfahren, um eine HIV-Infektion zu heilen, ist so riskant und hat so schwerwiegende Nebenwirkungen, dass man es eigentlich gar nicht anwenden würde. Die Menschen, bei denen es dennoch durchgeführt wurde, hatten eben nicht „nur“ HIV, sondern auch eine schwere Form von Blutkrebs, an der sie ohne diese Behandlung sicher gestorben wären. Die Stammzelltransplantation, die bei diesen Menschen vorgenommen wurde, diente also nicht in erster Linie der HIV-Heilung, sondern es ging vorrangig darum, den Blutkrebs zu behandeln. Der Gedanke dabei war, wenn man schon eine solche folgenschwere Behandlung durchführen muss, wäre es doch schön, wenn die Patient*innen noch einen „Zusatznutzen“ hätten – in diesem Fall die Heilung von HIV.

Trotz der Fortschritte wird Stammzelltransplantation nie in großem Stil durchgeführt werden können – wegen des Aufwands und der Risiken

In der europäischen Bevölkerung hat etwa 1 % der Menschen einen seltenen Gendefekt, der ihre Zellen resistent gegen eine HIV-Infektion macht. Bei der Suche nach einem*r geeigneten Stammzellspender*in hat man also gezielt Menschen gesucht, deren Stammzellen nicht nur zu den Gewebemerkmalen des*der Empfängers*in passten, sondern auch den gewünschten Gendefekt trugen.

Nabelschnurblut als Alternative?

Nun ist diese Suche aufwändig und teuer. Deshalb war es eine gute Nachricht, dass inzwischen auch eine HIV-Heilung unter Verwendung von Nabelschnurblut gelungen ist. Auch in der Nabelschnur von Neugeborenen finden sich Stammzellen. Natürlich nicht besonders viele, was dieses Verfahren im Detail noch etwas schwieriger macht. Grundsätzlich lassen sich solche Stammzellen aber einfach gewinnen und in flüssigem Stickstoff lange aufbewahren. Trotz aller Fortschritte wird die Methode der Stammzelltransplantation nie in großem Stil durchgeführt werden können – sowohl wegen des Aufwands als auch wegen der Risiken.

Problem: Das „Reservoir“

Wenn es gelänge, ein Eiweiß auf der Oberfläche zu finden, durch das sich latent infizierte von normalen Zellen unterscheiden, wäre ein Durchbruch geschafft

Durch die beschriebenen Fälle wurde auch die Grundlagenforschung vorangebracht. Die Untersuchung des „Reservoirs“ – also der Zellen im Körper, die mit HIV infiziert sind, die aber „ruhen“, also kein Virus produzieren – ergibt immer wieder Überraschungen. Nach allem, was wir heute wissen, unterscheiden sich diese latent infizierten Zellen in nichts von anderen Zellen. Das ist ein Riesenproblem sowohl für den Körper als auch für die Forschung.

Da latent infizierte Zellen „von außen“ genauso aussehen, wie nicht infizierte Zellen, hat das Immunsystem keine Chance, sie zu erkennen und zu eliminieren. Erst wenn das schlummernde HIV „geweckt“ wird und die betroffene Zelle anfängt, Viruseiweiße zu produzieren, gelangen Bruchstücke davon auf ihre Oberfläche und werden für das Immunsystem erkennbar. Dann ist es aber eigentlich schon zu spät.

Wenn es also gelänge, irgendeine ein Eiweiß auf der Oberfläche zu finden, durch das sich latent infizierte von normalen Zellen unterscheiden, wäre ein wichtiger Durchbruch geschafft. Zum einen könnte man das Immunsystem gezielt „trainieren“, zum anderen könnte man die Zahl der latent infizierten Zellen bestimmen und zum Beispiel feststellen, ob eine jewelige Behandlung diese Zahl verringert oder nicht.

Risiko Therapiepause

Ein Fortschritt bei aktuellen Diskussionen: Von Anfang an wurde die Community der Menschen mit HIV einbezogen

Bis heute bleibt den Forschenden nur ein Test: Die „analytical treatment interruption“ (ATI) ist der wissenschaftlich hochtrabende Ausdruck dafür, die Therapie abzusetzen. Aber wir wissen seit langem, dass dieses Absetzen der Therapie in aller Regel mit einem Wiederanstieg der Viruslast und einer massiven Entzündungsreaktion einhergeht. Beides birgt Risiken für die Gesundheit der Patient*innen; das wissen wir, seitdem die entsprechende Studie zu Therapiepausen (SMART) 2006 abgebrochen werden musste. Außerdem ist es gut möglich, dass einige Verfahren zur HIV-Heilung, die derzeit untersucht werden, etwas Zeit benötigen, bevor sie richtig in Gang kommen. Es kann also sein, dass – trotz einer medizinischen Intervention – die Viruslast erst ein wenig ansteigen muss, bevor sie dann (hoffentlich endgültig) unter die Nachweisgrenze sinkt. Aber wie lange muss bzw. darf man hier warten? Wie hoch darf man die Viruslast ansteigen lassen?

All das sind Fragen, die sich im Rahmen von Heilungsstudien derzeit stellen, die aber niemand zufriedenstellend beantworten kann. Trotzdem gab es bei diesen Diskussionen einen wichtigen Fortschritt: Von Anfang an wurde die Community der Menschen mit HIV einbezogen. Das ist ein entscheidender Faktor: Wenn ich selbst entscheide, was mit meinem Körper geschieht, kann ich diese Entscheidung ganz anders mittragen, als wenn sie mir von außen aufgezwungen wird.

Rezeptorblocker, Botenstoffe, Antikörper

Durch die Forschung am HIV-Reservoir aber auch durch Grundlagenforschung in anderen Krankheitsbereichen ist man auf die Idee zu kommen, Medikamente, die für völlig andere Krankheiten entwickelt wurden, auch auf ihre Wirkung im Bezug auf HIV bzw. das Reservoir zu testen. Dabei hat man einige erstaunliche Wirkungen festgestellt. Das betrifft vor allem moderne Krebsmedikamente (mit oft exotischen Namen wie „Januskinaseinhibitoren“), aber auch Medikamente gegen rheumatische Erkrankungen oder chronische Darmentzündung.  Alle diese Studien bewegen sich momentan noch im Bereich der Grundlagenforschung, aber es ist zumindest wahrscheinlich, dass einige dieser Erkenntnisse die Forschung zur HIV-Heilung weiter voranbringen werden.

Breit neutralisierende Antikörper

Eine weitere Medikamentengruppe, in die große Hoffnungen gesetzt werden, sind breit neutralisierende Antikörper (englisch „broadly neutralizing Antibodies“, kurz bnABs). Ursprünglich von Menschen isoliert, die viele Jahre mit einer (unbehandelten) HIV-Infektion gelebt haben, können diese Antikörper eine Vielzahl unterschiedlicher HIV-Varianten erkennen und neutralisieren. Inzwischen kann man diese Antikörper in großer Menge herstellen und in Studien untersuchen. Antikörper haben aber außer ihren Bindungsstellen für das Virus auch noch Bindungsstellen für Immunzellen und können im Körper vielfältige Reaktionen auslösen, die bis heute nicht vollständig verstanden sind. Die Hoffnung ist, dass man durch eine geschickte Kombination von bnABs und Botenstoffen das Immunsystem vielleicht so „umprogrammieren“ kann, dass es HIV langfristig in Schach halten kann. Auch in dieser Richtung gibt es einige vielversprechende Ansätze, aber momentan ist noch nichts in Sicht, was man wirklich als Durchbruch bezeichnen könnte.

Genscheren sollen das Erbmaterial so verändern, dass HIV sich nicht mehr vermehren kann, oder HIV aus dem Erbmaterial herausschneiden

Die Genscheren

Bleibt eigentlich nur noch das Lieblingskind der Sensationspresse: die Genscheren und andere gentechnologische Ansätze, die das Erbmaterial entweder so verändern, dass HIV sich nicht mehr vermehren kann, oder die HIV aus dem Erbmaterial herausschneiden sollen. CRISPR/Cas hat die Labormedizin revolutioniert. Mit diesem Werkzeug, das ständig weiterentwickelt wird, ist es heute fast schon möglich, das Erbmaterial ähnlich einfach zu verändern, wie Texte mit einem Textverarbeitungsprogramm. Dementsprechend spricht man auch von „Geneditoren“. Trotzdem ist der Einsatz an Lebewesen, und vor allem am Menschen, etwas ganz anderes. Neben den Sicherheitsanforderungen an die Verfahren besteht auch das Problem, diese komplexen enzymatischen Strukturen nicht nur in die Körperzellen, sondern auch in den Zellkern zu bekommen. Das sind erhebliche Probleme, die noch nicht befriedigend gelöst werden konnten.

Dennoch haben erste Studiengruppen bereits mit Studien am Menschen begonnen. Ergebnisse wurden bisher noch nicht veröffentlicht, aber mit jedem Kongress steigt die Spannung mehr. Irgendwann wird die erste Forschergruppe mit Ergebnissen (egal, wie diese ausfallen) an die Öffentlichkeit gehen. Auch in Deutschland sind entsprechende Studien geplant: Wenn es keine weiteren Verzögerungen gibt, sollen hier noch 2024 die ersten Versuche mit Genscheren starten, allerdings nicht mit CRISPR, sondern mit der in Deutschland entwickelten Brec-Technologie.

Die HIV-Heilung scheint immer etwa zehn Jahre in der Zukunft zu liegen – und das seit vierzig Jahren! Inzwischen mehren sich aber die Zeichen, dass sich eine „kritische Masse“ von Wissen angesammelt hat und wir in nicht allzu ferner Zukunft mit guten Nachrichten rechnen dürfen.

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