Der Film „Ein Tag im Leben“ gibt einen Einblick in das Leben von acht Menschen, die Drogen gebrauchen, aus sieben Ländern der Welt, vom Morgen bis in die Nacht. Wir haben ihre Geschichten aufgeschrieben

Alle Protagonist_innen des Films gebrauchen Drogen, aber sie definieren sich nicht darüber. Sie alle sind einzigartige Persönlichkeiten, haben ihre eigenen Geschichten und ihre eigenen sozialen Netzwerke. Das Umfeld, in dem sie leben, die Haltungen ihnen gegenüber, die Gesetze rund um den Drogenkonsum und die Gesundheitsdienste, die ihnen zur Verfügung stehen, haben einen enormen Einfluss auf ihr Leben.

Drogen-Gebraucher_innen werden an den Rand gedrängt

Der Film wurde von Menschen produziert, die selbst auch Drogen gebrauchen. Er will Mythen und Vorurteile gegenüber Drogen und Drogengebraucher_innen abbauen. Er gibt jenen eine Stimme, die zu den am stärksten an den Rand gedrängten Gruppen der Welt gehören, damit sie ihre bislang nicht erzählten Geschichten über Liebe, Hass, Leiden und auch Glück erzählen können. Er zeigt, wie sie sich sozial und politisch engagieren, um das Schweigen zu brechen und die Stigmatisierung zu bekämpfen, die tiefe Schatten auf ihr Leben wirft.

Hallo! Mein Name ist Alexey, ich bin 35 und lebe in Kasan, Russland.

Ich habe zwei Söhne, einer ist 10 Jahre alt und der andere ist 12.

Manchmal bin ich von ihrem Verhalten enttäuscht. Ich werde böse, wenn sie schlechte Noten in der Schule bekommen, ich rege mich auf, wenn sie ihre Betten nicht machen oder sehr lange vor dem Computer aufbleiben und im Internet surfen.

Deswegen wollte ich sie verändern, sie dazu bringen, sich „richtig“ zu verhalten – aus meiner Sicht. Wenn ich sie bestrafte, glaubte ich wirklich, dass ich ihnen half: Ich habe ihnen ihre Freiheit genommen, das Taschengeld gestrichen, sie nicht zu ihren Freunden gelassen, hab kontrolliert, dass sie ihre Hausaufgaben machen, usw.

Aber an einem Punkt wurde mir klar, dass es ihr Leben ist, ihre Entscheidung, ihre Fehler, und dass ich als Vater sie so akzeptieren sollte, wie sie sind. Das Einzige, was ich als Elternteil tun sollte, ist, mich um sie zu kümmern, ihnen die volle Entscheidungsfreiheit zu lassen.

Wer in Russland Drogen nimmt, gilt als unerwünscht

In meinem Land ist die Haltung gegenüber drogenabhängigen Menschen ähnlich wie die von Eltern gegenüber ihren ungezogenen Kindern: Wir werden genauso unserer Freiheit beraubt, man nimmt uns das „Taschengeld“ weg, das heißt die Möglichkeit, auf anständige Weise Geld zu verdienen, und oft sterben wir, weil sich unsere Regierung nicht um uns kümmert.

Zum ersten Mal habe ich Drogen ausprobiert, als ich 13 war, und das wirkt sich bis heute auf mein Leben aus. Ich wurde abhängig von ihnen.

In meinem Land, so wie in vielen anderen, werden Menschen wie ich als etwas Schlimmes wahrgenommen, als unerwünscht, schlecht und nutzlos.

„Ich konnte nicht aufhören mit der Selbstzerstörung“

Aber das Erschreckendste daran ist, dass ich irgendwann diese Einstellung mir selbst gegenüber übernahm. Ich fing an zu denken, dass all die Krankheiten, die ich habe, HIV, Hepatitis, der Tod meiner liebsten Freunde, das Leid, das ich meiner Familie zugefügt habe – dass alles meine Schuld ist und ich allein bin die Ursache für all das bin.

Manchmal glaubte ich, es wäre besser gewesen, ich wäre nie geboren worden, als so zu leben. Ich konnte nicht aufhören mit meiner Selbstzerstörung und ich konnte auch nichts dagegen tun, dass ich mich selbst und die Menschen um mich herum verletzte.

2010 waren in Russland 589.000 Menschen mit HIV registriert. Heute liegt die Zahl bei über einer Million.

In Russland sterben jährlich mehr als 100.000 Menschen an Überdosen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen in Russland nehmen Drogen, erleben Gewalt und müssen sich vor jedem verstecken: vor der Polizei, vor Ärzt_innen, vor ihren Freund_innen und Familien und sogar vor sich selbst. Versteck dich und stirb.

Um 1991 herum traf ich zum ersten Mal einen Mann, der mir erklärte, dass man mit dem Drogenkonsum verbundene Schäden vermeiden kann und dass die Abhängigkeit selbst eine behandelbare Krankheit ist. Dadurch hat sich meine Sicht auf Drogenabhängigkeit verändert, und seit dem Augenblick weiß ich, dass ganz normale menschliche Behandlung, Respekt und Liebe das einzige Heilmittel sind, das nicht nur mir, sondern auch tausenden anderen Menschen wie mir helfen kann.

Vor ein paar Jahren verlor ich meine erste Frau und mein jüngerer Sohn verlor seine Mutter.

Die Rechte von Drogen-Gebraucher_innen werden verletzt

Wie viele andere kann ich nicht glücklich und in Frieden leben, denn ich weiß, dass meine Rechte verletzt werden. Der einzige Wunsch, den ich in solchen Momenten habe, besteht darin, diese Situation mit allen möglichen Mitteln zu verändern.

Obwohl die Substitutionstherapie in mehr als 75 Ländern weltweit durchgeführt wird und Drogenabhängigen hilft, sich nicht mit HIV zu infizieren, nicht an einer Überdosis zu sterben, ihre Tuberkulose zu behandeln, einen Job zu finden, eine Familie zu gründen, Kinder zur Welt zu bringen und einfach nur ein normales Leben zu leben, ist diese Behandlung in meinem Land gesetzlich verboten.

„Ich war es leid, mich immer wieder verstecken zu müssen“

Deswegen entschloss ich mich 2010, mein Recht auf Behandlung mit einer Methadon-Substitution vor Gericht durchzusetzen. Meine Klage in Straßburg [2014, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Anm. d. Red.] gab mir Hoffnung, dass ich wirklich etwas bewegen könnte, damit Drogenabhängige endlich die Behandlung bekommen, die ihnen hilft.

Ich war es leid, immer wieder Angst haben zu müssen. Ich war es leid, mich immer wieder verstecken zu müssen. Eins war mir klar: Wir sind selbst für unser Leben verantwortlich.

Ich bin Anwalt geworden und verteidige die Rechte von Menschen wie mir, und gleichzeitig versuche ich, repressive Gesetze in meinem Land zu ändern. Ich mache Videos über das alltägliche Leben von Menschen.

Viele sind nach der Krim-Annexion gestorben

Als die Krim noch zur Ukraine gehörte, konnten Drogenabhängige hier Substitutionsbehandlungen machen. 2014 gab es 806 von ihnen. Am 20. Mai 2014 wurden diese Programme geschlossen, da auf der Krim nun russisches Recht gilt. Als Folge sind viele Menschen gestorben, und wer überlebte, zog entweder von der Krim weg oder kehrte zu den Straßendrogen zurück und wurde wieder zu einem Geächteten.

Man schätzt, dass seitdem über 100 Menschen, ehemalige Patient_innen aus Substitutionsprogrammen, auf der Krim gestorben sind. Aber die Behörden leugnen diese Tatsache. Auf der Suche nach der Wahrheit sind wir auf die Krim gefahren, um mit jenen, die überlebt haben, über die zu sprechen, die verstorben sind.

„Keine Abhängigen, keine Probleme“, so denken die Leute

Ein Mann erzählte uns: „Der 20. Mai 2014 war ein schwarzer Tag. Es war der Tag, an dem wir zum letzten Mal unsere Substitutionstherapie bekamen. Jeder wusste, dass die Programme am nächsten Tag geschlossen werden und wir uns alle in irgendwelchen Drogenhöhlen Straßendrogen besorgen müssen. Ich kenne viele Leute, die nicht nur mit ihren Tuberkulose-Medikamenten aufhörten, sondern auch mit ihren HIV- Medikamenten, nachdem die Methadonsubstitution nicht mehr verfügbar war. Selbst wenn mir ein Platz in der Rehabilitation angeboten würde, könnte ich ihn nicht annehmen, weil ich ein behindertes Kind habe. Viele sind am Entzug gestorben oder haben sich das Leben genommen. Einige flohen aus den Reha-Zentren und brachen sich die Beine, Arme oder die Wirbelsäule. Als die neue Regierung kam, hat sich niemand um uns gekümmert. Wir sind ja nur Abhängige! Wenn wir schnell sterben, gibt es ein Problem weniger. Keine Abhängigen, keine Probleme, so ist das.“

Über die Verfolgung von Drogen-Gebraucher_innen sprechen

Zum ersten Mal Drogen ausprobiert habe ich mit 13, und auch das Meer habe ich zum ersten Mal mit 13 gesehen. Viele von denen, die ich kannte, haben niemals das Meer gesehen und werden es niemals sehen. Niemals.

Vor nicht allzu langer Zeit hat die Krise auf der Krim erneut das Leben meiner Freunde beschädigt. Und heute spreche ich darüber.

Einer meiner Freunde ist angeklagt, weil er angeblich Drogen gekauft hat, und ich spreche darüber.

In meiner Stadt wurden mehrere Leute in Rehabilitationszentren umgebracht, und die Gewalt dort geht weiter. Eine Freundin von mir hat das Sorgerecht für ihr Kind verloren, weil sie nicht mit dem Drogenkonsum aufhören kann, und ich spreche darüber.

Hunderte Menschen auf der Krim haben den Zugang zur Substitutionstherapie verloren. Dutzende von ihnen sind deswegen gestorben, und ich mache Videos darüber.

„Ich kann das nicht einfach so geschehen lassen“

Warum? Weil ich nicht einfach danebenstehen und das so geschehen lassen kann. Das kann ich mir einfach nicht erlauben.

Viele Leute nennen es Aktivismus. Ich glaube, es ist einfach der Wunsch, ein lebenswertes Leben zu leben; der Wunsch nach Integrität. Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, immer menschlich zu bleiben, wie die Umstände auch sein mögen.

Die Geschichten der anderen Protagonist_innen sowie weitere Artikel zum Thema Drogenpolitik finden Sie hier.

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