NAMES Project AIDS Memorial Quilt: Vor 30 Jahren wurden in Washington erstmals tausende Gedenktücher zur Erinnerung an die an den Folgen von Aids Verstorbenen und als Anklage gegen die Verantwortlichen in der Politik öffentlich präsentiert 

Rund 54 Tonnen wiegen die in Washington präsentierten Quilts. Foto: The Names Project

November 1985. San Francisco ist neben New York die weltweit am stärksten von Aids betroffene Stadt. Über 1.000 Tote sind bereits zu beklagen. Um ihrer zu gedenken, ruft der Homosexuellen-Aktivist Cleve Jones beim jährlichen Trauermarsch zu Ehren des ermordeten Stadtverordneten Harvey Milk die Teilnehmer_innen auf, die Namen der Verstorbenen auf Plakate zu schreiben. Zu Hunderten hängen diese dann an den Mauern des San Francisco Federal Building. Am nächsten Tag freilich werden sie wieder beseitigt.

AIDS Memorial Quilts: So individuell wie die Menschen, an die sie erinnern

Cleve Jones entwickelt deshalb eine längerlebige Form des öffentlichen Gedenkens und Mahnens: die Aids Memorial Quilts. Im Februar 1987 beginnt er, für seinen verstorbenen Freund Marvin Feldman ein solches Gedenktuch zu nähen. Er greift damit die US-amerikanische Tradition der „memory quilts“ auf: Flickenteppiche, die aus allen möglichen Gegenständen von Familienangehörigen bestehen. Auch die Aids Memorial Quilts setzen sich aus unterschiedlichsten Materialien zusammen. Lieblingskleidungsstücke, Leder und Nerz, Plüschtiere, Fotografien, feine Stickereien: kein Gedenktuch ähnelt dem anderen, alle sind so individuell wie die Toten, an die sie erinnern sollen und deren Namen die Quilts zieren.

Jedes Tuch ist von Hinterbliebenen gefertigt. Foto: The Names Project

Im Juni 1987 gründet Jones zusammen mit anderen Freiwilligen in San Francisco The NAMES Project Foundation, und ihre Idee findet sofort landesweit großen Zuspruch. Der Aids-Quilt erfüllt offensichtlich ein enormes Bedürfnis. Denn nicht immer hat man sich von verstorbenen Freund_innen verabschieden können, zum Beispiel, weil ihre Familie sie in ihre Heimatorte zurückgeholt hatte oder die schwulen Freunde auf den Trauerfeiern nicht erwünscht waren.

Ein schlichtes und daher umso eindrucksvolleres politisches Mahnmal

Am 11. Oktober 1987 werden die Panels, wie die einzelnen Gedenktücher genannt werden, erstmals vor dem Weißen Haus ausgebreitet: Fast 2.000 waren landesweit innerhalb weniger Monate entstanden. Sie vermitteln auf anschauliche Weise das Ausmaß der Epidemie und den Verlust von Freund_innen und Angehörigen. Es ist ein schlichtes und daher umso eindrucksvolleres politisches Mahnmal, das die US-Regierung zu einer effektiveren und engagierten Aidspolitik mit angemessener gesundheitlicher Versorgung und menschenwürdiger Sterbebegleitung bewegen soll.

Das NAMES Project wurde 1989 für den Friedensnobelpreis nominiert. Foto: The Names Project

Im Jahr darauf sind es bereits 8.200 Panels. Eine Fläche so groß wie acht Fußballfelder wird benötigt, um sie alle auslegen zu können. 1996 kann der auf 45.000 Panels angewachsene Quilt zum letzten Mal in voller Größe auf der National Mall in Washington D.C. ausgebreitet werden. Die öffentliche Verlesung der Namen der Toten, die zu einem festen Ritual der Quilt-Präsentation geworden ist, dauert von der Morgendämmerung bis in die späte Nacht.

Man kann den kompletten AIDS Memorial Quilt auch online erkunden

2012, 25 Jahre nach Gründung des NAMES Project, wird der Aids Memorial Quilt noch einmal anlässlich der Welt-Aids-Konferenz am US-Regierungssitz  gezeigt. In Gänze ist dies allerdings nicht mehr realisierbar. Über 48.000 Panels sind es mittlerweile geworden – zwölf Hektar würde man benötigen, wollte man sie komplett auslegen. So entscheidet man sich, täglich über 35.000 Panels auf der National Mall und weitere 4.800 an 50 anderen Orten in der Stadt auszubreiten.

Um tatsächlich alle Gedenktücher zeigen zu können, wird ein Teil von ihnen auf der National Mall täglich ausgewechselt. Eine App für Tablets und Smartphones ermöglicht es, den kompletten Quilt auch mobil zu erkunden. So kann zum Beispiel nach bestimmten Panels gesucht werden, um persönliche Erinnerungen an Verstorbene zu ergänzen.

Aids-Quilts in Deutschland, Österreich und in der Schweiz

Inspiriert von den USA wird auch in vielen Städten Europas die Idee der Memorial-Quilts als Form der Erinnerungs- und Trauerarbeit aufgegriffen, doch so richtig durchsetzen können sie sich letztlich nicht. Die Projekte selbst werden schon seit längerem nicht mehr fortgeführt. Einige der entstandenen Quilts werden jedoch weiterhin bewahrt und bisweilen auch ausgestellt. In der Aids-Hilfe Wuppertal beispielsweise ist es lediglich ein einziges Gedenktuch, das dort in Ehren gehalten wird. Die HIV/Aids-Seelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich hat sogar eine große Zahl an Quilts archiviert. Den wohl größten Bestand im deutschsprachigen Raum findet sich jedoch beim Names Project Wien. Zwölf Quiltquadrate – bestehend aus 96 Tüchern mit mehr als 360 Namen – entstanden direkt beim Projekt; hinzugekommen sind im Jahr 2010 vier Quiltquadrate, die in der vom Names Project Wien organisierten „QuiltFactory“ bei der Welt-Aids-Konferenz 2010 in Wien hergestellt wurden.

Weitere Informationen rund um den AIDS Memorial Quilt:

Link der offiziellen Internetseite des NAMES Project San Francisco

Internetseite zur Quilt-Präsentation in Washington 2012

Trailer des Oscar-prämierten Dokumentarfilms „Common Threads: Stories from the Quilt“ von Robert Epstein und Jeffrey Friedman. (DVD mit deutschen Untertitel bei Salzgeber Medien)

Ausschnitt aus John Coriglianos „Symphony No. 1 -1 Apologue: Of Rage and Remembrance“, für die sich der Komponist vom Aids-Quilt inspirieren ließ. (CD-Einspielung mit dem Chicago Symphony Orchestra ist bei Warner/Erato)

Ausschnitt aus einer Londoner Produktion des Liedzyklus „Elegies for Angels Punks and Raging Queens“ mit Songs und Monologen zu HIV und Aids, inspiriert vom vom NAMES Project AIDS Memorial Quilt.

Zurück

HIV-Medikamente 2017: Was gibt’s Neues?

Weiter

God’s Own Country: eine der berührendsten Liebesgeschichten des Filmjahres

Über

Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

7 + 3 =

Das könnte dich auch interessieren