Während die HIV-Epidemie in weiten Teilen der Welt auf dem Rückzug ist, breitet sie sich in Russland rasant aus. Hauptgrund ist die russische HIV-Politik: Leugnung der Tatsachen, Propaganda gegen „den Westen“, fehlende Unterstützung oder gar Bekämpfung der Zivilgesellschaft, (oft religiös verbrämte) Ideologie und feindselige Einstellungen gegen Drogengebraucher_innen und Schwule.

Von Peter Wiessner, Referent für Advocacy und Öffentlichkeitsarbeit beim Aktionsbündnis gegen AIDS, und Holger Sweers, Referent für Aufklärung und Information der Deutschen AIDS-Hilfe

Im Osten nichts Neues

Nachrichten aus Russland erschrecken – nichts Gutes scheint derzeit aus dem Land zu kommen. Das gilt auch für die HIV-Situation im Land. Die Zahl der Menschen mit HIV im Land wird auf 1,3 bis 1,5 Millionen geschätzt, etwa ein Prozent der Bevölkerung. Bis 2020, so der Vadim Pokrovsky, Leiter des russischen Föderalen Aids-Zentrums, könnten es 3 Millionen werden.

Im Kampf gegen HIV und Aids geht die Regierung Putins indes „eigene Wege“. Ihr Handeln gleicht dabei auf fatale Weise demjenigen der Regierung Thabo Mbekis, der von 1999 bis 2008 südafrikanischer Präsident war: Seine Regierung leugnete den Zusammenhang zwischen HIV und dem Ausbruch der Krankheit Aids. Bis heute halten viele Südafrikaner_innen HIV für eine westliche Verschwörung.

Schlechtes Beispiel Südafrika

Südafrika pochte bis 2008 auf sein Recht, selbst zu definieren, wie Aids am besten vermieden werden könne, und sei es durch die Behandlung mit Knoblauch und Vitaminpräparaten. (Eine unheilvolle Rolle spielte hier auch der deutsche Arzt Matthias Rath.)

Unter dem Einfluss sogenannter Aidsleugner verzögerte Mbeki die Einführung der antiretroviralen HIV-Therapie um viele Jahre, was Schätzungen zufolge mehr als 330.000 Menschen das Leben kostete und zu über 170.000 vermeidbaren HIV-Infektionen führte.

Als Ursache der Misere im Land wurde nicht HIV identifiziert, sondern die „üblichen Verdächtigen“, die immer gerne aus dem Hut gezaubert werden, wenn man sich der eigenen Verantwortung entziehen möchte: globale Ungerechtigkeit, Ausbeutung durch die Kolonialmächte und anderes mehr.

Es ist sicher „harter Tobak“, sich mit der Regierung Mbeki vergleichen lassen zu müssen, doch im Falle Russlands ist das bedauerlicherweise berechtigt. Wiederholt sich die Geschichte?

Russische HIV-Politik als Teil des Propagandakrieges

Auch die Regierung Putins und die Spitzen des Gesundheitswesens verwehren sich aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, verbitten sich die Einmischung in die HIV-Prävention oder diskreditieren nachgewiesenermaßen wirksame Interventionen. Als Folge dieser Politik steigen die Infektionszahlen und sterben Menschen, deren Tod verhindert werden könnte.

Russland pocht auf das Recht, „anders“ zu sein, „traditionelle Werte“ hochzuhalten. Damit ist die HIV-Politik des Landes Teil des Propagandakrieges geworden.

Die Propagandamaschinerie trägt dabei seltsame Früchte. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen …

Keuschheitsappelle und Klassiker statt Kondome und Aufklärung

Das Kreml-nahe „Institut für Strategische Wissenschaften“ (RISI) etwa stellt das HIV-Problem als Teil eines „Informationskrieges“ dar, den „der Westen“ gegen Russland führe. Die „Expert_innen“ bezweifeln die Zahlen der Infizierten („Fake-News“-Schreier_innen auf Russisch) und auch die international bewährten Gegenmaßnahmen. Kondome zum Beispiel trügen sogar zur Ausbreitung von HIV bei, weil sie junge Menschen zu außerehelichem Sex ermutigten.

Auch Sexualaufklärung an Schulen ist in Russland verpönt. Der damalige russische Ombudsmann für Kinderrechte Pavel Astakhov empfahl stattdessen im Jahr 2013 die Lektüre der russischen Klassiker.

Die Schulen, heißt es aus der Orthodoxen Kirche, sollten zu Keuschheit und ehelicher Treue erziehen und die Familienwerte lehren. Im Vatikan hätte man das nicht besser formulieren können. Und zu allem Überfluss gehört die neue Ombudsfrau für Kinderrechte, Frau eines orthodoxen Priesters, zu einer Social-Media-Gruppe, für die HIV und Aids der größte Schwindel des 20. Jahrhunderts sind …

Drogenkonsum als „moralisches Versagen“, Homosexualität als „unrussisch“

Über die Hälfte der HIV-Infektionen in Russland sind allerdings auf die gemeinsame Benutzung von Spritzen und Nadeln beim intravenösen Drogengebrauch zurückzuführen. Doch Drogenabhängigkeit gilt dort als persönliches, moralisches Versagen (wahlweise auch als Erscheinung des „verrotteten Westens“). Behandelt wird sie ausschließlich mit Abstinenztherapien, oft mit „kaltem Entzug“ in gefängnisähnlichen Einrichtungen. Eine halbwegs angemessene Therapie bekommt nur, wer sie sich leisten kann.

Auch der steigenden Zahl an HIV-Infektionen unter Schwulen und anderen Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), kann kaum mehr angemessen begegnet werden, seitdem 2013 das Gesetz gegen „Homo-Propaganda“ in Kraft trat. Dieses Gesetz verbietet faktisch jegliche positive oder neutrale öffentliche Darstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensweisen. Einer Untersuchung aus St. Petersburg zufolge stieg der Anteil der HIV-Positiven unter den MSM von etwa 10 Prozent im Jahr vor Inkrafttreten des Gesetzes auf 22 Prozent im Jahr 2015, so Foreign Policy.

Substitutionstherapie? Verboten!

Die nachgewiesenermaßen erfolgreiche Substitutionsbehandlung – von der WHO, dem Büro der Vereinten Nationen zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) und UNAIDS schon 2004 als unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung Drogenabhängiger bezeichnet – ist in Russland illegal und kann mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden.

Der russische Außenminister nannte sie eine „narkoliberale Idee“ – und verglich sie mit der Behandlung von Alkoholkranken mit Cognac … Victor Ivananov, der ehemalige Chef des Föderalen Diensts für die Kontrolle von Narkotika (FSKN, mittlerweile eine Abteilung im Innenministerium), sprach sogar von einer „mörderischen Therapie“, die nur den Zielen der internationalen Drogenlobby und der Pharmaindustrie diene.

Dabei heben Expert_innen hervor, dass die Substitutionstherapie auch für die HIV- und Tuberkulose-Behandlung sehr wichtig ist: „Ohne Substitutionsbehandlung kommen die HIV- und Tuberkulosepatienten nur dann, wenn sie sich todkrank fühlen, und verschwinden so bald wie möglich wieder, um sich Stoff für den nächsten Druck zu besorgen“, erzählte ein Moskauer Lungenspezialist der Zeitschrift Foreign Policy – die erforderliche tägliche Tabletteneinnahme lässt sich so nicht gewährleisten.

Kaum Angebote zur Schadensminderung

Zum Glück ist wenigstens die Abgabe von sterilen Spritzbestecken zur Verhinderung von HIV- und Hepatitis-Infektionen in Russland nicht illegal, auch wenn die Regierung sich 2009 gegen solche Programme ausgesprochen hat.

Die Zahl der Orte, an denen man sterile Spritzen und Nadeln bekommt, ist allerdings nach dieser Erklärung des Gesundheitsministeriums und nach dem Rückzug des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria stark gesunken und wird dem Bedarf bei Weitem nicht gerecht.

Aufrechterhalten werden die wenigen Spritzen- und Nadelprogramme fast ausschließlich von NGOs wie der Andrey-Rylkov-Stiftung. Der Druck auf diese Einrichtungen aber ist stark gewachsen, seit Russland 2012 das berüchtigte „Gesetz über nicht-kommerzielle Organisationen“ einführte. Es verpflichtet politisch aktive NGOs, die Gelder aus dem Ausland bekommen, sich als „ausländische Agenten“ registrieren zu lassen. Viele kleinere Organisationen haben deswegen mittlerweile aufgegeben.

Unzureichende Behandlung und Medikamentenengpässe

Bei der Behandlung der Menschen mit HIV sieht es nicht besser aus. Dabei trägt die antiretrovirale Therapie ART) auch zur Verhinderung von Übertragungen bei: Erfolgreich behandelte Menschen mit HIV, deren HIV-Menge im Blut („Viruslast“) seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze der üblichen Testverfahren liegt, können HIV zumindest sexuell nicht übertragen.

Landesweit erhalten aber weniger als 25 Prozent der Menschen mit HIV eine ART – damit ist Russland meilenweit von der Erreichung der „90-90-90-Ziele“ entfernt (90 % der Menschen mit HIV sind diagnostiziert, davon sind 90 % in Behandlung und unter den Behandelten sind 90 % unter der Nachweisgrenze).

Einer der Gründe ist, dass die Kosten für die Behandlung in Russland lange Zeit besonders hoch waren. Bis 2017 wurden die Medikamente nicht zentral, sondern von den 85 Regionen eingekauft – was auch der Korruption Tür und Tor öffnete. Ab 2017 soll nun ein zentraler Einkauf die Preise senken, und die National Immunobiological Company, die zum staatlichen Rostec-Konzern gehört, soll selbst antiretrovirale Medikamente produzieren.

Ob dies die immer wieder auftretenden Engpässe in der Versorgung mit HIV-Medikamenten verhindern kann, die zur Entwicklung von Resistenzen, zu Therapieversagen und im schlimmsten Fall zu Aids und sogar zum Tod führen können, bleibt abzuwarten. Russische HIV-Patient_innen jedenfalls versuchen lieber, sich selbst zu helfen, zum Beispiel, indem sie nicht mehr benötigte Medikamente von Verstorbenen sammeln und verteilen.

Haftanstalten als „Durchlauferhitzer“ für Tuberkulose, Hepatitis C und HIV

450 von 100.000 Russ_innen sind inhaftiert, darunter überproportional viele Drogengebraucher_innen. Ihre gesundheitliche Versorgung ist katastrophal schlecht. Ein ehemaliger Gefangener berichtete Forscher_innen der Yale-Universität: „Wir waren 36 Männer in einer Kammer mit zwölf Betten. Wir standen, husteten aufeinander, während andere in Schichten schliefen. Viele von uns bezahlten mit ihrem Leben. Manche erwischten eine Überdosis, andere infizierten sich mit HIV so wie ich, und die Tuberkulose erledigte den Rest von uns.“

Mittlerweile, so der Aids-Experte Pokrovsky, gebe es Anzeigen, dass sich die Epidemien auf andere Bevölkerungsteile ausweite, etwa über die Partner_innen von Drogenkonsument_innen.

Zivilgesellschaft von politischer Verfolgung bedroht

Leider misstraut die Regierung Putins der Zivilgesellschaft, die sie als Bedrohung wahrnimmt. Das Klima der Angst, das sie zum Beispiel durch das „Ausländische-Agenten-Gesetz“ erzeugt, und die drohende (oder befürchtete) politische Verfolgung tragen dazu bei, dass das Engagement im Land immer geringer wird.

Anders als in Südafrika, wo letztendlich Aktivist_innen der Zivilgesellschaft ihre Regierung zur Einsicht zwangen, scheint die Zivilgesellschaft in Putins Russland weitgehend zerschlagen. So wie es derzeit aussieht, dürfte sich das letztlich doch positive Beispiel Südafrikas hier nicht wiederholen.

Quellen/weitere Informationen

„Eine Regierung, die den Gesundheitsschutz sabotiert“ (Interview mit Anna Sarang von der Andrey-Rylkov-Stiftung auf magazin.hiv, 10.01.2017)

Russia’s Silent HIV Epidemic (foreignpolicy.com, 22.11.2016)

Why Russia’s Heroin Addicts Are Going Through Hell (gizmodo.com, 04.11.2016)

AIDS in Russia: Immune to reason (economist.com, 29.09.2016)

HIV-Prävention in Südafrika: Verspätete Vernunft (magazin.hiv, 15.07.2016)

In Russland braut sich eine Superseuche zusammen (sueddeutsche.de, 30.06.2016)

Homepage der Andrey-Rylkov-Stiftung (englische Version)

Bericht über die Arbeit der Andrey-Rylkov-Stiftung in den Jahren 2015 und 2016 (Oktober 2017; PDF-Datei in englischer Sprache)

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