Heterosexuell und HIV-positiv: Der Fotograf Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2014 erfährt er, dass er mit HIV lebt. Wie er mit der Diagnose und dem Leben danach umgeht, erzählt er in einer fünfteiligen Serie.

Gestern war“ habe ich in mein Tagebuch geschrieben. Ich will die letzten Tage rekapitulieren, die Anstrengungen, die Strapazen. Gemeinsam mit meiner Kollegin Andrea bin ich mit einer Indischen Nichtregierungsorganisation in die Dunkelheit des indischen Rotlichtmilieus eingetaucht. Wir haben Razzien begleitet, bei denen Zwangsprostituierte befreit wurden, haben mit Polizeikommandanten, geretteten Frauen und wahren Helden gesprochen.

Jetzt sind wir erschöpft. Die emotionale Achterbahnfahrt will ich festhalten. Niederschreiben. Ich muss Ordnung in diese Reizüberflutung bringen.

Sexualität als wichtiger Aspekt der Freiheit

Reportage-Fotografie ist meine Leidenschaft, wenngleich sie mir kein Einkommen beschert. Ganz im Gegenteil. Das ganze Jahr halte ich mich als einfacher Fotograf mit Modestrecken und Kongress-Fotografie über Wasser, um mir diese Reisen irgendwie zu finanzieren. Um in eine andere Welt abzutauchen. Um den Komfort des sauberen Wiens verlassen um mich größeren Themen zu widmen – meist ziemlich erfolglos. Aber ich genieße es trotzdem. Mittellos, aber frei. Der Künstler, der Charmeur, der Abenteurer. Ich habe das Image genossen, das ich mir zurechtgelegt hatte – und umso mehr das Dasein als Single  und „Womanizer“. Natürlich hat es in der Vergangenheit die eine oder andere längere Beziehung gegeben. Frauen, die bis heute, auch nach der Leidenschaft, zu meinen engsten Freundinnen zählen.

Vielleicht war ich lange zu süchtig nach Ungebundenheit

Aber jetzt bin ich Anfang dreißig. Zu sehr der Genießer der Freiheit. Zu süchtig nach dem Flirt und der Ungebundenheit. Die verführerischen Schönheiten der Frauen faszinieren mich in all ihren Formen und Farben. Galerie-Besitzerinnen, Models oder die Anwaltsgehilfin – fast alle erwecken eine Neugier, die ich auskosten will.

Ich verstehe meine Sexualität als einen der wichtigsten Aspekte meiner Freiheit. Eine Freiheit, die mir wichtiger ist als Geld oder Karriere – der zu sein, der ich bin, und meine Sexualität zu verstehen, zu genießen und zu leben. Sie gibt mir schlicht und einfach Selbstvertrauen.

Gestern war“ habe ich gerade mit dieser Leichtigkeit des Seins geschrieben.

Dann gesellt Andrea sich zum Frühstück zu mir und unterbricht mein Schreiben. Das Satzfragment steht noch heute wie gemeißelt in meinem Tagebuch.

Der Osho-Ashram wirbt mit sexueller Freiheit – zu unverschämten Preisen

Aufgrund der Strapazen der letzten Tage wollen wir den berühmten Osho-Ashram in Pune besuchen – ein Meditationszentrum für wohlhabende Europäer, das sich mit sexueller Freiheit und Pseudo-Mystizismus brüstet. Zu unverschämten Preisen.

Reportagen über Osho gibt es schon zuhauf, trotzdem denken wir, dass wir vielleicht einen neuen, anderen Aspekt finden. Im schlimmsten Fall meditieren wir und ruhen uns mal ein wenig aus.

Als wir ankommen, zweifele ich stark daran. Der Kontrast zwischen den herumschwebenden „Westlern“ in ihren roten Roben und den indischen Straßenkindern vor den schwarzen Toren aus poliertem Marmor ist mir einfach zu krass.

Und dann sehe ich sie …

Zaghaft gehe ich dann doch hinein und fange mit der Anmeldeprozedur an. Und dann sehe ich sie, eine der Betreuerinnen. Lange dunkle Haare, große, leuchtende rehbraune Augen. Eine Perserin, auch sie in einer dieser lächerlichen Roben. Sie schenkt mir ein flirtendes Lächeln. Ich bin verzaubert. Als Teil meiner Charmeoffensive stelle ich mich ein wenig tollpatschig bei der Bedienung des Registrierungs-Computers an.

Wir lachen miteinander und spüren die sexuell aufgeladene Spannung zwischen uns. Mit dem instinktivem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch, die Gegenwart des Anderen zu spüren, setzt sie sich neben mich. Leichte Berührungen hier und da. Andrea sieht mich an, lacht und rollt mit den Augen.

Um die sexuelle Aura des Ashrams aufrechtzuerhalten, wurden in den 80ern verpflichtende HIV-Tests eingeführt. Jeder Besucher muss einen Schnelltest machen, um eintreten zu dürfen. Ich sah dem eher locker entgegen. Als mein Vater noch am Leben war, hat er als Arzt einmal jährlich einen Bluttest gemacht – HIV inklusive. Nach seinem Tod habe ich mich nicht mehr wirklich darum bemüht.

Ich habe mich nie zu einer Risikogruppe gezählt

Ja, ich hatte recht viele Sexualpartnerinnen, aber ich habe mich nie zu einer Risikogruppe gezählt, insbesondere, da ich mit fortschreitendem Alter immer konsequenter mit meinem Kondomgebrauch geworden bin, wenn auch eher aus Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft.

Ungeduldig gehe ich in das Nebenzimmer, lasse mich in den Finger piksen, gebe ein paar Bluttröpfchen auf den Teststreifen und gehe zurück zu den schönen, großen Augen. Andrea ist noch bei der Registrierung, und ich nutzte die Zeit, um mehr über meine neue Muse zu erfahren. Eine Stimme mit starkem holländischem Akzent unterbricht meine flirtende Blödelei.

„Könntest du bitte mitkommen? Es geht um deinen Test.“

„Entschuldigung, bist du Philipp?“, fragt eine ältere Dame.

„Ja, ja, das bin ich“, antworte ich ein wenig ungeduldig.

„Könntest du bitte mit mir mitkommen? Es geht um deinen Test.“

„Ja klar“, sage ich und folge ihr in einen riesigen Glaskubus.

Ich drehe mich noch einmal um, schaue der Perserin in die Augen, lächele sie an. Ihr Blick spricht Bände an unausgesprochener Leidenschaft und sexueller Vorfreude. Sie lächelt zurück.

Es wird meine letzte Erinnerung an mein „Vorher“ sein. Und für viele Jahre auch das letzte Mal, dass ich mit jemandem flirte.

Der HIV-Test ist positiv

Die holländische Frau spuckt ihren Fluch aus: „Dein Test kam positiv zurück.“

Ein Fluch, der jeden Muskel, jeden Gedanken und jede Pore verkrampfen lässt. Ein Fluch, der meine Lungen mit Wasser füllt, meinen Mund austrocknet und mich erstarren lässt.

Ich kann mich nicht bewegen. Meine Hände sind nass vor Schweiß. Meine Augen müssen panisch aufgerissen sein.

In den nächsten Monaten wird mich der erste Gedanke weiter in wellenartiger Regelmäßigkeit einholen: „Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht passieren.“

Das Prisma, in dem ich sitze, zerstückelt mich in meine Einzelteile. Ungläubig starre ich die alte Frau an – ich höre sie reden, aber ich höre kein Wort.

Eine Sintflut an Fragen spült mich fort

Meine Gedanken nehmen Fahrt auf. Panisch rattern tausende Fragen durch meinen Kopf: „Was bedeutet das?“,„Ist mein Leben zu Ende?“, „Werde ich sterben?“, „Kann ich Kinder kriegen?“, „Kann ich Sex haben?“, „Was wird meine Familie sagen?“, „Kann ich das meiner Familie überhaupt sagen?“, „Was soll ich sagen?“, „Wie kann das sein?“, „Wie ist das passiert?“, „Kann das wahr sein?“…

Eine Sintflut an Fragen spült mich fort. Mir wird schlecht. Mein Magen dreht sich. Schockstarre, während ich in die Scheinwerfer des herannahenden Wagens blicke. Todesangst. Ich hatbe einfach keine Ahnung, was das bedeutet.

Emotionale Distanzierung hilft, mit dem Ergebnis umzugehen

Dann fange ich mich. Dank meiner antrainierten Fähigkeit, mich emotional zu distanzieren, setze ich eine provisorische Maske auf. Ich spreche mit ihr, als ob es nicht um mich ginge, nicht um meinen Körper und mein Leben.

Meine journalistische Herangehensweise übernimmt die Situation. Mit zitternder Stimme frage ich, was ich tun kann und wie genau der Test ist. Meine Gedanken verfestigen sich unterdessen zu einem: Recherche.

Die Holländerin sagt, sie würden zwecks Bestätigung noch einmal Blut abnehmen und einen genaueren Test machen. Ich solle in 24 Stunden wiederkommen.

Vor mir liegen die längsten 24 Stunden meines Lebens

Während sie mich zum Marmor-Ausgang begleitet, sagt sie auch, ich solle lieber keinen Test woanders machen. Ich könnte ausgewiesen werden. Sie beim Ashram würden mich nicht registrieren.

Ich sehe Andrea und sage ihr, dass ich nicht hineindarf. Sie versteht sofort. Andrea lächelt beruhigend und nickt. Ich sage ihr, ich würde sie im Hotel wiedersehen. In diesem Moment entsteht eine Verbindung, die sich zu einer tiefen Freundschaft weiterentwickeln wird.

Ich drehe mich nicht mehr um. Die Perserin ist weg. Ich brauche Antworten. Vor mir liegen die längsten 24 Stunden meines Lebens.

Gestern war.

Der letzte Tag meines bisherigen Lebens.

Die Serie „Heterosexuell und HIV-positiv“

Teil 1 | Dating mit HIV

Teil 2 | Gestern war …

Teil 3 | Die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens

Teil 4 | E-Mails, die niemand bekommen möchte

Teil 5 | Nebenwirkungen des Lebens

Zurück

„Wir sind Teil der Lösung“

Weiter

Bock bloggt Teil 4 | Work-Life-Balance auf Chinesisch

Über

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel ist das Pseudonym von Christopher Klettermayer. 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

51 + = 54

Das könnte dich auch interessieren