Heterosexuell und HIV-positiv: Der Fotograf Philipp Spiegel liebt das Leben und die Frauen. 2014 erfährt er, dass er mit HIV lebt. Wie er mit der Diagnose und dem Leben danach umgeht, erzählt er in einer fünfteiligen Serie.

Andrea und ich machen uns zurück an die Arbeit. Wir verbringen unsere Tage in den Slums und Rotlichtbezirken Mumbais. Wir interviewen, fotografieren, portraitieren und konzentrieren uns auf die Projekte. Genau die Ablenkung, die ich brauche.

Meine Nächte sind lang und schlaflos. Panikattacken, Abertausende Fragen, Ängste um die Zukunft kreisen um mich im Rhythmus des quietschenden Deckenventilators. Ich fange an, mir eine Liste zu machen, und durchforste die letzten Monate meines Liebeslebens in meinem Kopf.

Wie kam es zu meiner Infektion?

Wer war es? Wann war es? Wie kam es dazu?

Ja, ich bin ein Charmeur, ein „Womanizer“. Aber ich halte stets Kontakt mit den Frauen, mit denen ich zusammen war, sei es über Facebook oder ihre Nummern. Ich bin nicht jemand, der einfach verschwindet. Sehr oft ergeben sich aus meinen Liebschaften Freundschaften. Sogar sehr enge. Zumindest aber herrscht stets ein respektvoller Umgang – zum Glück. Das macht wenigstens die logistische Arbeit einfacher.

Die frühe Diagnose ist das Beste, was mir passieren konnte

Dank der Recherchearbeit über die Inkubationszeit, den Krankheitsverlauf und die Primär-Infektion kann ich den Zeitrahmen der Infektion in etwa berechnen. Es muss vor circa fünf  Monaten gewesen sein. Ein Glück. Eine so frühe Diagnose ist das Beste, was mir in so diesem Fall passieren konnte. Das Virus hat noch wenig Schaden angerichtet – ich kann es bald gut bekämpfen.

Die Liste der Frauen ist bald fertig. Es gibt vier, die ich informieren muss. Vier Frauen, die ich angesteckt haben könnte. Und eine, bei denen ich mich angesteckt habe.

Die Angst, eine dieser Frauen angesteckt zu haben, erdrückt mich. Einer der Hauptgründe der schlaflosen Nächte. Dass ich mir das Virus eingefangen habe, damit kann ich noch irgendwie umgehen. Aber dafür verantwortlich zu sein, jemanden angesteckt zu haben, ist ein grausiger Gedanke für mich, der mir den Schlaf raubt. Ich will für diesen Fluch, wie ich es empfinde, nicht verantwortlich sein.

Die schwierigste Nachricht, die ich jemals geschrieben habe

Ein paar Tage gebe ich mir Zeit. Die Angst ist zu groß – ich will die Aufgabe verschleppen und führe viele lange Gespräche mit Andrea. Ich suche Ausreden, es nicht zu tun, aber ich weiß: Ich muss da durch.

Zaghaft schleppe ich mich in das enge, heiße Internetcafé mit den verstörend lauten Ventilatoren. Neben mir skypen Inder laut und fröhlich mit ihren Familien, zocken Videospiele. Und ich sitze vor dem offenen Mailprogramm.

„Das ist die schwierigste Nachricht, die ich jemals geschrieben habe “, fange ich an. Und schreibe. Erkläre. Entschuldige mich tausende Male.

Wann ist ein guter Zeitpunkt für eine E-Mail, die niemand bekommen möchte? Ich füge noch die Öffnungszeiten der jeweiligen Aidshilfen ein. Damit sie alle am nächsten Tag gleich zum Test gehen können. Meine Finger zittern, die Maus schwebt lange über der „Senden“-Schaltfläche.

Ich verschicke Worte, die Leben verändern

Und dann verschicke ich den Fluch um die Welt. Worte, die Leben verändern.

Die Warterei fängt wieder von vorne an. Kein Internet im Hotel zu haben, ist vielleicht sogar eine gute Sache. So kann ich nicht alle fünf Minuten nachsehen. Am nächsten Tag habe ich noch keine Antworten. Unsicher, ob die Nachrichten angekommen sind, quetsche ich mich in die sargähnliche Telefonzelle des Internetcafés und rufe an.

Während um mich der chaotische, indische Alltag rauscht, habe ich ruhige, intime und warme Gespräche. Angespannt, ängstlich – aber ruhig. Sie werden es mir morgen sagen können. Zumindest die zwei, die ich erreichen konnte. Auf mein eigenes Resultat warten war eine Sache, aber auf die Resultate der Frauen zu warten, ist noch mal eine Nummer größer. Mein schlechtes Gewissen quält mich die ganze Nacht.

Erleichterung: Ich habe niemanden angesteckt

Und dann trudeln die Nachrichten ein.

Negativ.

Und negativ.

Dann kommt eine Nachricht aus Argentinien, die mich überrascht. „Wie kannst du mir so etwas nur sagen? Was fällt dir ein!? Ich habe gerade eine Beziehung angefangen!“

Und dann das dritte „negativ“.

Wenigstens war es ein wunderschönes Wochenende

Mit jedem„negativ“ fällt mir der nächste Stein vom Herzen. Überglücklich im Sturm, der mein Leben geworden ist. Ich bin erleichtert – ich habe niemanden angesteckt. Und ich weiß jetzt auch, von wem ich es habe.

Die Wütende. Sie wusste es noch nicht und hat Angst. Sie würde es in ein paar Tagen erfahren. In den nächsten Tagen denke ich oft an die Zeit mit ihr. Das wunderschöne Wochenende in Spanien. Wir hatten schon Jahre zuvor, in Argentinien, eine Romanze. Wie der Zufall es wollte, waren wir zur gleichen Zeit in Madrid– und die Magie von damals war wieder da. Eine intensive sexuelle Verbindung, Leidenschaft und Erotik umhüllten uns. Wir wussten, es wird nur ein Wochenende, verbarrikadierten uns im Hotel und genossen uns gegenseitig. Ja – bei der Penetration benutzte ich natürlich Kondome. Aber Sex ist so viel mehr als das. Während wir eng umschlungen das Wochenende verbrachten, hatte sie auch ihre Regelblutung. Blut war überall. Am Körper, am Penis, am Mund.

Wie ich später erfahren werde, hat sie sich kurz vor unserem Wochenende infiziert – die Viruslast war enorm hoch. Sie war höchst ansteckend.

Nach vielen Jahren kommt mir noch immer der Gedanke: Wenigstens war es ein wunderschönes Wochenende, an dem Leidenschaft herrschte. Und nicht ein dummer One-Night-Stand oder ein sinnloses Tinder-Date.

Es war auch meine Entscheidung

Ich bin ihr auch heute nicht böse. Zum Sex gehören zwei. Es war schließlich auch meine Entscheidung. Obwohl wir nach diesem Schock noch einige Zeit Kontakt hatten, verflüchtigte sich dieser später. Ich merkte, sie tat sich schwer, mit mir zu reden – im Wissen, dass ich mich bei ihr angesteckt habe.

Die letzten Tage in Indien sind von Traurigkeit überschattet. Andrea und ich beenden unsere Projekte, und ich fange an, mich zu verabschieden. Von dem Leben, das ich bis dahin hatte. Der Mensch, der vor ein paar Wochen hier angekommen ist, bleibt hier. Bei meiner Ankunft in Wien wird mich eine neue Realität willkommen heißen.

Als ich in das Flugzeug steige, weiß ich, dass ich mich meinen Dämonen stellen muss. Den Dämonen, die ich mir selber geschaffen habe.

Die Serie „Heterosexuell und HIV-positiv“

Teil 1 | Dating mit HIV

Teil 2 | Gestern war …

Teil 3 | Die letzten zwölf Tage meines bisherigen Lebens

Teil 4 | E-Mails, die niemand bekommen möchte

Teil 5 | Nebenwirkungen des Lebens

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Über

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel ist das Pseudonym von Christopher Klettermayer. 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

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