David Stuart hat selbst jahrelang „Chems“ konsumiert. In diesem Beitrag beschreiben wir in seinen eigenen Worten, was er unter dem von ihm geprägten Begriff „Chemsex“ versteht.

Chemsex beschreibt nicht einfach nur den Gebrauch von Alkohol oder Drogen beim Sex. Diese stark vereinfachende Interpretation haben sich viele Medien zu eigen gemacht, um aufregende Schlagzeilen daraus zu machen.

Ich habe das Wort Chemsex im Jahr 2001 geprägt, um etwas zu beschreiben zu versuchen, was ich in meinen eigenen schwulen Communitys und sexuellen Netzwerken beobachtete und was sich von allen anderen mir bekannten Drogenkulturen zu unterscheiden schien.

Chemsex ist oft eine Selbstmedikation für komplexe Themen rund um schwule Sexualität

Auch wenn es beim Chemsex für viele darum geht, schwulen Sex zu genießen und Freude daran zu haben, geht es oft auch um eine Selbstmedikation für komplexe Themen, die den Genuss schwuler Sexualität verhindern, zum Beispiel gesellschaftliche und verinnerlichte Homophobie, die Auswirkungen der HIV/Aids-Epidemie auf schwule Kulturen oder religiöse oder kulturelle Scham, die häufig mit schwulem Sex verbunden sind.

„Chems“: Die mit Chemsex assoziierten Drogen und ihre Wirkungen

Drogen und Alkohol wurden schon immer in sexuellen Kontexten eingesetzt. Crystal Methamphetamin, Mephedron und GHB/GBL jedoch führen zu einem ganz speziellen, sexuell enthemmendem „High“ und stellen die öffentliche Gesundheit vor andere Fragen als andere Drogen.

Unglücklicherweise sind diese drei Drogen im Verlauf des letzten Jahrzehnts in den schwulen „Szenen“ breit und einfach verfügbar geworden und sind weit verbreitet.

Ihr Konsum ist außerdem mit einem höheren Risikoverhalten assoziiert, als beim Konsum anderer Drogen beobachtet wurde.

Gebraucher_innen können sich unverletzlich fühlen und extrem selbstsicher, gleichgültig gegenüber den Konsequenzen ihres Handels, sexuell abenteuerlustig, sie können ein erhöhtes Maß an Genuss empfinden und über eine Energie und Ausdauer verfügen, die sie über mehrere Tage wachhält.

Der Konsum dieser Drogen in sexuellen Settings kann dazu führen, dass Safer-Sex-Praktiken weniger Bedeutung beigemessen wird und es in einer kurzen Zeitspanne zu Sex mit einer höheren Zahl von Partner_innen kommt.

Zu den unerwünschten Wirkungen der Drogen können unter anderem Aggression, Paranoia, Halluzinationen oder das Gefühl gehören, verfolgt zu werden.

Die Rolle von Dating-Apps wie Grindr für das Phänomen Chemsex

Geodatenbasierte Dating-Apps haben das Leben vieler schwuler Männer in mancherlei Hinsicht verbessert. Es gibt aber auch negative Folgen.

Für schwule Männer ist Sex häufig mit Risiken und Gefahren assoziiert – eine Folge der HIV-Epidemie, die in Ländern wie England schwule Männer besonders stark getroffen hat.

Viele Männer haben aber auch Probleme mit Sexualität und Intimität, weil sie beim Heranwachsen mit ihrer abweichenden sexuellen Identität und kultureller (oder verinnerlichter) Homophobie klarkommen mussten, einfach dazugehören oder Ablehnung vermeiden wollen.

Chems sind für viele ein Werkzeug, um mit den Herausforderungen der schwulen Kultur umzugehen

Dating-Apps haben sich rasch in den schwulen Communitys verbreitet, um sich zu Treffen oder zum Sex zu verabreden. Es ist allerdings für viele nicht leicht, ihre eigenen sexuellen und emotionalen Bedürfnisse über Profiltexte, Abkürzungen oder mit Bildbearbeitungssoftware aufgehübschte Fotos zu kommunizieren.

„Chems“ sind für viele zu einem Werkzeug geworden, um mit diesen Herausforderungen umzugehen, und sind häufig – besonders in Städten mit großen schwulen Communitys – auch über diese Apps verfügbar.

Probleme mit Chemsex und Unterstützung

Die Mehrheit der schwulen Männer, die Unterstützung im Zusammenhang mit Chemsex suchen, tun dies nicht wegen eines Drogen- oder Suchtproblems, sondern wegen der Konsequenzen des Konsums für ihre sexuelle Gesundheit.

Wer tatsächlich wegen seines Chemsex-Verhaltens Rat sucht, benennt häufig Themen rund um die Suche nach Sex oder Beziehungen, die Nutzung von Dating-Apps, die Angst vor HIV und Stigmatisierung, die Suche nach Nähe und Gemeinschaft oder andere Eigenheiten der schwulen Kultur, die ihr Sex- und Liebesleben beeinflussen.

Für diese Männer geht es nicht um ein Problem mit Drogen, sondern um Probleme mit schwulem Sex.

Wir sollten uns über sexuelle Wünsche und Grenzen unterhalten

Der beste Weg, um Schäden durch Chemsex zu verringern, ist, ein tieferes Verständnis dafür zu entwickeln, wie wir uns unser Sex- und Liebesleben wünschen, uns Ziele zu setzen und Grenzen zu definieren – und uns dieser Wünsche, Ziele und Grenzen bewusst zu sein sowie über die kommunikative Kompetenz zu verfügen, sie zu verfolgen und zu schützen.

Wenn wir alle uns eines sexuellen Wohlbefindens erfreuten, das sich aus einem kulturellen Dialog über die Rolle von Sex und Intimität in unserem Leben speist, könnten wir die mit Chemsex verbundenen Schäden besser vermeiden.

Daher ist es wichtig, dass Einrichtungen der sexuellen Gesundheit und schwule Community-Organisationen nicht nur Tests und Behandlung anbieten, sondern die Patient_innen und Communitys dabei unterstützen, sexuelles und allgemeines Wohlbefinden zu erlangen. Dazu gehört auch, mit kulturellen Veränderungen umzugehen, mit denen viele Männer Schwierigkeiten haben.

Entnommen aus https://www.davidstuart.org/what-is-chemsex; Übersetzung: Holger Sweers

Mögliche mit Chemsex verbundene Schäden

Die größten Gefahren sind Todesfälle durch GHB/GBL-Überdosierungen, Suizide infolge von Depressionen oder der chaotischen Zustände, die mit regelmäßigem Konsum einhergehen können, und das neurochemische Ungleichgewicht, das durch Chems verursacht wird.

Eine körperliche Abhängigkeit von GHB/GBL kann zu nicht mehr beherrschbaren Entzugserscheinungen führen, die ebenfalls zum Tod führen können.

Bei Leuten, die Mephedron und/oder Crystal Meth konsumieren, sind kurzfristige drogeninduzierte Psychosen häufig, insbesondere in Verbindung mit Schlafentzug, was bei diesen hochpotenten Stimulanzien häufig vorkommt. Eine solche Psychose ist für die Person, die sie durchlebt, extrem beängstigend, traumatisch, und kann zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten führen.

Auch HIV, Hepatitis C und andere Geschlechtskrankheiten können unerwünschte Folgen von Chemsex sein.

Weitere Schäden sind Depressionen und andere psychische Probleme, die Unfähigkeit, auch ohne Drogen Sex zu genießen, die Entfremdung von Angehörigen und Freund_innen, der Verlust des Interesses an nichtsexuellen Aktivitäten oder das Abdriften in Chaos und Depression, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit.

Aus: „Die kulturelle Kompetenz im Umgang mit Chemsex verbessern“, Beitrag auf magazin.hiv vom 3.4.2018

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