Drugreporter sprach mit David Stuart, der den Begriff Chemsex prägte und dessen Arbeit auch in der Dokumentation „Chemsex“ von VICE UK vorgestellt wurde. Stuart ist außerdem einer der Mitbegründer des European Chemsex Forum, dessen zweite Auflage im März 2018 in Berlin stattfand.

Drugreporter: Seit Jahrtausenden haben Menschen Sex unter dem Einfluss von Alkohol und anderen Drogen. Warum wird dann so viel Wirbel um Chemsex gemacht – und wie unterscheidet er sich von Sex unter dem Einfluss von Drogen?

David Stuart: Chemsex ist nicht einfach nur eine Bezeichnung für den Konsum von Alkohol oder Drogen beim Sex. Das ist eine zu einfache Interpretation, die sich die Mainstream-Medien zu eigen gemacht haben, um Schlagzeilen zu machen. Ich habe den Begriff 2001 geprägt, um etwas zu beschreiben, was mir in meinen eigenen lokalen schwulen Communities und sexuellen Netzwerken begegnete und das sich für mich deutlich von den anderen Drogenkonsumkulturen unterschied, die ich kannte.

Spezifisch für die moderne schwule Kultur

Das Wort Chemsex beschreibt ein Phänomen, das nur in der modernen schwulen Kultur zu finden ist. Es ist spezifisch und ausschließlich mit Trends der schwulen Kennenlernkultur und den Eigenarten verbunden, die sich rund um das Online-Dating und den Gebrauch von Sex-Apps entwickelt haben (HIV-Serosorting [Auswahl von Sexpartnern nach ihrem HIV-Status] und andere Formen der HIV-bezogenen Stigmatisierung, Abwertung von „Tunten“ oder im Gegenteil von „Männlichkeit“, Identifizierung mit und Zurückweisung von „Tribes“ [„Stämme“]).

Darüber hinaus bezieht sich Chemsex auch auf die außerordentlich breite Verfügbarkeit von potenziell sehr schädlichen Freizeitdrogen (auch „Chems“ genannt – Crystal/Methamphetamin, Mephedron und GHB/GBL), die durch Online-Dating-Apps sehr vielen schwulen, bisexuellen und queeren Männern bekannt geworden sind. Auch wenn es bei Chemsex häufig einfach nur um die Suche nach lust- und genussvollem schwulem Sex geht, geht es oft auch um den Einsatz von Drogen, um mit komplexen Problemen umzugehen, die genussvollen schwulen Sex verhindern, etwa die gesellschaftliche und internalisierte Homophobie, die Auswirkungen der HIV/Aids-Epidemie auf die schwulen Kulturen und religiös oder kulturell begründete Scham, die häufig mit schwulem Sex verbunden ist.

Chemsex beschreibt ein internationales Phänomen, das schwule Communities in vielen Städten der Welt überproportional stark betrifft und das zu einer erschreckend hohen Zahl von Todesfällen, Suchtproblemen, psychischen Problemen und medizinischen Notfällen führt.

Wissen wir, wie verbreitet Chemsex in Europa ist?

Nein. Chemsex ist ein relativ neues Phänomen, das von vielen immer noch missverstanden wird. Es gibt anekdotische Berichte aus den schwulen Communities, es gibt die Verbreitung, die jeder Nutzer von schwulen Sex-Apps selbst feststellen kann, und es gibt ein paar Daten aus Einrichtungen zur sexuellen Gesundheit oder rund um HIV aus verschiedenen Teilen Europas. Aber nur sehr wenige schwule Männer, die Chemsex haben, wenden sich an traditionelle Drogen- und Suchtberatungsstellen. Stattdessen suchen sie lieber Unterstützung bei schwulen Communityzentren oder Checkpoints, die aber nicht immer Daten zu diesen speziellen Problemen sammeln. Das European Chemsex Forum in Berlin sollte unter anderem auch dazu dienen, diese Einrichtungen bei der Erhebung solcher Daten zu unterstützen.

Was sind die größten Gefahren beim Chemsex und wie können wir die Risiken senken?

Die größten Gefahren sind Todesfälle durch GHB/GBL-Überdosierungen, Suizide infolge von Depressionen oder der chaotischen Zustände, die mit regelmäßigem Konsum einhergehen können, und das neurochemische Ungleichgewicht, das durch Chems verursacht wird. Eine körperliche Abhängigkeit von GHB/GBL kann zu nicht mehr beherrschbaren Entzugserscheinungen führen, die ebenfalls zum Tod führen können. Bei Leuten, die Mephedron und/oder Crystal Meth konsumieren, sind kurzfristige drogeninduzierte Psychosen häufig, insbesondere in Verbindung mit Schlafentzug, was bei diesen hochpotenten Stimulanzien häufig vorkommt. Eine solche Psychose ist für die Person, die sie durchlebt, extrem beängstigend, traumatisch, und kann zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten führen. Auch HIV, Hepatitis C und andere Geschlechtskrankheiten können unerwünschte Folgen von Chemsex sein. Weitere, weniger gefährliche Schäden sind Depressionen und andere psychische Probleme, die Unfähigkeit, auch ohne Drogen Sex zu genießen, die Entfremdung von Angehörigen und Freund_innen, der Verlust des Interesses an nichtsexuellen Aktivitäten oder das Abdriften in Chaos und Depression, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit.

Kulturkompetent informieren, um Schäden zu minimieren

Um diese Risiken zu senken, können wir kulturkompetente Informationen zur Schadensminimierung zur Verfügung stellen, und zwar sowohl online als auch an Orten, welche diese Männer wahrscheinlich aufsuchen, zum Beispiel in schwulen Communityzentren oder Checkpoints rund um die sexuelle Gesundheit. Außerdem können wir die kulturelle Kompetenz rund um Chemsex innerhalb bestehender Unterstützungsangebote für Menschen mit Alkohol- oder Drogenproblemen  verbessern sowie, noch wichtiger, innerhalb von Angeboten zur sexuellen Gesundheit und rund um HIV, wo viele Männer, die Chemsex haben, wahrscheinlich irgendwann mit den Folgen des Chemsex aufschlagen. Und wir können den Dialog innerhalb des Gesundheitssystems und der schwulen Communities fördern, um Chemsex und seine Ursachen zu entstigmatisieren, damit Menschen es leichter haben, Hilfe zu suchen, wenn sie Hilfe brauchen.

Das ist ja auch Teil Ihrer Arbeit. Bitte erzählen Sie uns doch, wie Sie Menschen mit Chemsex-bezogenen Problemen helfen.

Meine Arbeit umfasst Aktivismus auf internationaler Ebene und Schulungen von Angehörigen unterschiedlichster Bereiche des Gesundheitssystems, zum Beispiel Psycholog_innen und Gesprächstherapeut_innen, Mitarbeiter_innen aus der Suchthilfe oder aus Einrichtungen zur sexuellen Gesundheit, Politiker_innen, Mitarbeiter_innen schwuler Wohltätigkeitsorganisationen und Entscheider_innen aus dem Bereich HIV-Prävention. Darüber hinaus biete ich kostenlose Einzelberatungen für Leute an, die Chemsex haben, und unterstütze sie dabei, herauszufinden, welche Rolle Sex in ihrem Leben spielt und welche Rolle Chems dabei spielen können. So kann ich ihnen vielleicht helfen, den Sex zu genießen, den sie wirklich wollen, und zwar hoffentlich mit weniger schädlichen Folgen. Besonders am Herzen liegt mir die Community-Arbeit – ich besuche schwule Communities auf der ganzen Welt und unterstütze sie bei der Bewältigung der traumatischen Auswirkungen von Chemsex auf unsere Szenen und Communities und bei der Entwicklung von Strategien, die den Dialog und Diskussionen innerhalb der Communities fördern und uns allen dabei helfen, mit diesem komplexen Problem umzugehen.

Suche nach Sex, Liebe und Verbundenheit

Können Sie uns ein bisschen vom zweiten European Chemsex Forum erzählen, das im März 2018 in Berlin stattfand?

Am Chemsex Forum haben über 250 Menschen aus ganz Europa teilgenommen, alle aus ganz unterschiedlichen Gründen. Und wir haben dort außergewöhnliche Geschichten gehört. Viele Mut machende, aber auch viele verstörende. Viele Teilnehmer_innen aus den unterschiedlichsten Regionen haben von den häufigen Todesfällen in ihren eigenen Communites und Netzwerken berichtet. Zur Erinnerung an diese Menschen, die auf der Suche nach Sex und Liebe und Verbundenheit an den Folgen von Chems gestorben sind, haben wir eine Schweigeminute abgehalten. Das war ein sehr eindrücklicher und schmerzlicher Moment für alle. Außerdem gab es zwei Abendsveranstaltungen – eine Open-Mic-Veranstaltung in einer Bar unter dem Titel Let’s Talk About Sex and Drugs, bei der Leute aus den lokalen Comunities und Teilnehmer_innen des Forums gemeinsam über ihre Erfahrungen sprachen oder sie in Performances ausdrückten, und eine Aufführung der Chemsex Monologues von Patrick Cash, die vier ineinander greifende Geschichten darüber erzählen, wie Chemsex sich auf das Leben der User_innen, ihrer Freund_innen, Lover, Angehörigen und Partner_innen auswirkt. Beide Veranstaltungen sollten die Teilnehmer_innen dabei unterstützen, den kulturellen, menschlichen Kontext von Chemsex besser zu verstehen – insbesondere jene, die sich vor allem aus akademischer Perspektive mit dem Phänomen beschäftigen.

Entgegen den Empfehlungen des Civil Society Forum on Drugs wird Chemsex im EU-Aktionsplan zu Drogen nicht erwähnt. Sollten die Politiker_innen mehr tun, um dieses Problem anzugehen?

Natürlich kann man mehr tun. Es ist verständlich, dass Politik und Aktionspläne in den frühen Jahren einer neuen Syndemie hinterherhinken und lieber auf empirische Daten warten. Aber die Realität sieht so aus, dass schwule Männer außerordentlich stark und überproportional von Chemsex betroffen sind, und wir haben genügend Daten unterschiedlichster Art, welche die Unterstützung durch und das Handeln seitens unserer Regierungen rechtfertigen. Der 2017er-Bericht der Globalen Kommission zur Drogenpolitik spricht von Chemsex als ernstem Problem, dem sich die Politik widmen müsse. Insbesondere London verfügt über einige exzellente kulturkompetente Unterstützungsangebote rund um Chemsex innerhalb der Angebote zur sexuellen Gesundheit und rund um HIV, die häufig von schwulen, bisexuellen und queeren Männern aufgesucht werden – hier ist ja die Zahl der HIV-Infektionen um 80 Prozent gesunken. Ich hoffe, dass unsere Public-Health-Organisationen und Politiker_innen diesem ernsten Problem der öffentlichen Gesundheit die Aufmerksamkeit widmen, die es verdient.

*Original: Improving Cultural Competence to Chemsex, veröffentlicht am 27. März 2018 auf drugriporter.hu; Übersetzung: Holger Sweers. Vielen Dank an Péter Sárosi und David Stuart für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!

Audiodateien, Poster und Präsentationen des 2. European Chemsex Forum finden sich hier: https://drive.google.com/drive/u/0/folders/14QF4AxUkTVpLT9Iyp90Oj-VDbwUkRIlQ.

Bericht zum 1. European Chemsex Forum vom 6. bis 8. April 2016 in London: https://de.slideshare.net/Checkpoints14/european-chemsex-forum-report

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