Philipp Spiegel ist Fotograf, Künstler und Autor. Auf magazin.hiv schreibt er über sein Leben mit HIV. In diesem Beitrag erzählt er von seinem „ersten Mal“ HIV-Diskriminierung.

Der Druck stieg stetig. In meinem Kiefer fing es an zu pulsieren. Es fühlte sich an, als ob mein Zahn bald explodieren würde.

Der Druck musste irgendwo raus

Nach einer Woche mit einer komplizierten Wurzelkanal-Behandlung lag ich erschöpft in meinem Bett. Ich wusste, dass der Schmerz nicht nachlassen würde. Der Druck musste irgendwo raus. Die provisorische Füllung musste geöffnet werden.

Es war noch nicht zu spät. Gegen 21 Uhr griff ich mir mein Smartphone und suchte die Nacht-Notdienste in Wien. Als ich eine Adresse in der Nähe gefunden hatte, machte ich mich auf den Weg.

Die Praxis lag in einem Altbau und hatte offensichtlich ebenfalls schon einige Jahre auf dem Buckel. Es roch leicht modrig.

Egal, der Schmerz musste aufhören. Ich begann den Patientenbogen auszufüllen.

 Sollte ich es hinschreiben?

„Chronische Erkrankungen?“ Check. HIV.

Früher hatte ich stets ein mulmiges Gefühl gehabt. „Soll ich es hinschreiben? Muss ich es sagen?“

Sei es aus Trotz, aus Stolz, wie gut ich mittlerweile mit meiner HIV-Infektion umgehen konnte, oder mit dem Gedanken, dass es vielleicht Wechselwirkungen mit meinen HIV-Medikamenten geben könnte – ich schrieb „HIV“ in das Feld. Mittlerweile war ich es schon so gewohnt, meinen Status anzugeben, dass ich nicht noch einmal darüber nachdachte.

Es war überraschend wenig los an dem Abend. Nicht einmal eine Handvoll anderer Patient_innen saßen im Wartezimmer, sichtlich von Schmerzen geplagt , die Hände an den Wangen. Gelbliche Lampen ließen die Praxis noch älter aussehen, als sie war.

„Ich will Ihnen ja helfen …“

Arzterprobt nahm ich mein Buch und fing an zu lesen, als ich nach nur ein paar Minuten Wartezeit plötzlich ins Behandlungszimmer gerufen wurde.

Die Assistentinnen standen um den alten Arzt herum, alles sahen besorgt aus.

„Herr Spiegel!“, sagte der Herr Zahnarzt höflich und nervös. „Was können wir denn da machen? Na, Sie wissen schon, oder? Ich will Ihnen ja helfen, aber ich muss ja auch die anderen Patienten berücksichtigen. Man weiß ja nie!“

Ich war zunächst perplex. „Äh… ja…? Was meinen Sie?“

„Na“, sagte der Herr Zahnarzt und wand sich, „man weiß ja nie! Sie wissen, ich will Ihnen ja helfen. Ich bin ja auch dazu verpflichtet, wissen S’?

„Man weiß ja nie!“

Da dämmerte mir, was er meinte. Er traute sich aber offensichtlich nicht, die drei Buchstaben in den Mund zu nehmen.

„Sie meinen wegen HIV?“

„Na ja, ja. Ganz genau! Ich müsste ja die ganze OP-Einheit desinfizieren. Wir sind ja eine Notfall-Station, und dann müssten die anderen Patienten noch länger warten. Na Sie wissen ja, man weiß ja nie!“

Seine leicht quietschende Stimme zitterte. Er schien peinlich berührt. „Na, warum sind S’ denn überhaupt da? Was muss denn gemacht werden? Vielleicht können wir ja schauen, was wir tun können.“

Ich fing an zu lachen. Ich konnte nicht glauben, was der Mann von sich gab, fing aber trotzdem an, die Geschichte meiner Wurzelbehandlung zu erklären.

„Im Endeffekt muss der Zahn aufgebohrt werden. Die provisorische Füllung aufgemacht. Das ist alles“, sagte ich.

Mein Blick fiel auf meinen Patientenbogen. Jemand hatte mit einem roten Stift in riesigen Buchstaben „HIV!“ darauf geschrieben.

Er überlegte kurz. Mit den Augen flehte er die Zahnarztschwestern um Hilfe an.

Aus dem Mund hingegen kamen schleimig-wienerische pseudohöfliche Beteuerungen, wie sehr er mir doch helfen wolle, ja sogar müsse. Dazu sei er schließlich da.

Ich wollte aufschreien, den Zahnarzt bloßstellen

„Wissen S’ was, das ist ja nicht so schwer. Das sollt’ dann kein Problem sein. Wir werden einfach im anderen Raum, auf der anderen Einheit operieren.“

Er redete weiter und weiter, wohl um sein Unbehagen zu überspielen, und wies die Schwestern an, die OP-Einheit vorzubereiten.

Ein Teil von mir wollte aufschreien, wollte ihn bloßstellen und ihm sagen, wie unglaublich lächerlich und unmöglich sein Verhalten war.

Auf der anderen Seite war ich erschöpft und zitterte vor Schmerzen. Ich wollte es einfach hinter mich bringen. Ich war ausgeliefert.

Seine Angst vor mir war jedoch auch ein Vorteil. Keine zehn Minuten später wurde ich nochmals aufgerufen. So wie ich einfach schmerzfrei sein wollte, so sehr wollte der Herr Zahnarzt mich offenbar aus seiner Praxis haben.

Ich setzte mich auf den Stuhl und wir fingen an. Keine Assistenzschwester war dabei. Und während der kleine Bohrer sich laut in meinen Zahn kreischte, wiederholte er wieder und wieder seine lächerlichen Aussagen.

Der Schmerz entwich, der Ärger nicht

„Man weiß ja nie! Sie verstehen das ja sicher! Sie kennen sich ja wahrscheinlich sogar besser als ich damit aus, oder?! Wissen S’, dann müsst ich ja den Röntgenapparat auch noch desinfizieren – man weiß ja nie!“

Die Füllung öffnete sich. Der Druck entwich sofort – der Schmerz gleich mit. Ich war erlöst.

„So! Das war’s schon!“, sagte er laut. Ein widerliches, selbstzufriedenes Lächeln schmückte sein Gesicht – offensichtlich war er stolz auf sich selbst, dass er so ein toller, hilfsbereiter Zahnarzt war.

„Wie geht’s Ihnen denn jetzt?“

„Viel besser, danke“, murmelte ich höflich.

Aufklären und der HIV-Diskriminierung den Zahn ziehen

Wir gaben uns nicht die Hand. Er merkte wohl, dass ich ihn und seine lächerlichen Aussagen peinlich fand.

Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich gerne etwas gesagt, nur wusste ich tatsächlich nicht, was. Ich war sprachlos.

Ich erhielt ein Rezept für Schmerzmittel und sah noch mal meinen Patientenbogen mit den großen roten Buchstaben „H I V !“

Die Situation ließ mich am nächsten Tag nicht los. Ich dachte immer wieder, dass ich mehr hätte tun sollen. Mehr aufklären, mehr gegensprechen, mehr Haltung zeigen.

Immerhin war ich behandelt worden. Hätte er die Behandlung verweigert, hätte ich mich gewehrt, hätte auf die Behandlung bestanden. Aber nur, weil ich mittlerweile mit meinem HIV-Status gut umgehen kann.

Was aber wäre gewesen, wenn ich mich noch für HIV schämen würde? Wenn es mir peinlich wäre? Wenn es mich verunsichern würde und ich weniger redegewandt wäre? Wäre ich dann weggeschickt worden? Hätte man mich nicht behandelt?

Ich bin mir sicher: Wäre es kein Notfall-Nachtdienst gewesen, der Zahnarzt hätte mich weggeschickt.

Was sollte ich tun? Ich musste am nächsten Tag für einen Foto-Auftrag nach Barcelona fliegen und hatte noch nichts vorbereitet. So blieb mir nur eins: Ich meldete mich bei der Diskriminierungsstelle der Aidshilfe und bat, man möge dem Herrn Zahnarzt und seinen Assistenzschwestern doch Informationsbroschüren zum heutigen Wissensstand rund um HIV schicken.

Wie ich gehört habe, sind sie angekommen. Ich hoffe, sie wurden auch gelesen. Man weiß ja nie …

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Über

Philipp Spiegel

Philipp Spiegel ist das Pseudonym von Christopher Klettermayer. 2014 bekam er seine HIV-Diagnose. Als Fotograf, Autor und Künstler beschäftigt er sich unter anderem mit Themen rund um HIV.

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