Manfred Salzgeber: Das Leben eines „Filmversklavten“
Gerade einmal 45 Sekunden dauert die entscheidende Szene. Und doch reicht diese knappe Minute, in der Manfred Salzgeber nichts anderes tut, als einen Mann zu küssen, um ihn unsterblich zu machen.
Der leidenschaftliche Kuss in Großaufnahme und aufdringlicher Länge ist nur eine von vielen Provokationen in Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, der bei der Fernsehausstrahlung 1973 für Empörung und Diskussionen in deutschen Wohnzimmern sorgte. Und dabei ist die Szene sogar deutlich gekürzt. Ungeschnitten dauert die Knutscherei ganze viereinhalb Minuten.
Manfred Salzgebers Kuss schrieb Filmgeschichte
Mit diesem Kurzauftritt hat sich Manfred Salzgeber in die schwule Filmgeschichte eingeschrieben. Seine Verdienste für den queeren Film nicht nur in Deutschland, sondern weltweit sind allerdings weitaus komplexer und umfassender – und bis heute lebendig, auch 25 Jahre nach seinem Tod in Folge von Aids am 12. August 1994. 51 Jahre alt war er da.
Geboren 1943 in Litzmannstadt (dem heutigen Łódź), aufgewachsen in Stuttgart, kam Manfred Salzgeber 1965 nach Berlin und erlebte gleichermaßen den Aufbruch einer kritischen Gegenkultur wie der Schwulenbewegung.
Er hatte ein Gespür dafür, das wirklich Aufregende und Innovative zu entdecken
Er arbeitete als Buchhändler und Filmkritiker und machte gemeinsam mit Freunden aus einem vernachlässigten Bezirkskino einen Treffpunkt für Cineast_innen und einen Ort für filmische Entdeckungen.
Salzgeber hatte nicht nur eine ungeheure Leidenschaft fürs Kino, er hatte ein Gespür dafür, das wirklich Aufregende, Neue und Innovative zu entdecken.
Vor allem konnte er seine Begeisterung dafür klug und engagiert erklären und andere Menschen damit tatsächlich auch anstecken.
Zum Beispiel bei den alljährlichen Einführungen in das schwul-lesbische Programm der Berlinale. Dort hatte Salzgeber zunächst die Sektion Forum mitbegründet und damit das Berliner Filmfestival zu einem Ort auch für junge Filmschaffende und die Avantgarde gemacht.
1986 schuf Manfred Salzgeber die neue Berlinale-Sektion Panorama
1986 schuf er als Leiter und Chefkurator die neue Sektion Panorama und präsentierte nun auf einem der größten internationalen Filmfestspiele Arthouse-Filme und gesellschaftskritische Dokumentarfilme, die im schnelllebigen und in erster Linie kommerziell orientierten Filmgeschäft zu leicht übersehen werden.
Zum Beispiel Filme von und über Lesben und Schwule. Salzgeber und sein Assistent Wieland Speck (der 1992 die Leitung der Sektion Panorama übernahm) trugen aus allen Ecken der Welt die damals noch sehr spärlichen, mangels Budget oft unter abenteuerlichen Bedingungen produzierten Filme zusammen.
Binnen kürzester Zeit entwickelte sich die Berlinale so zu einer der wichtigsten internationalen Plattformen für LGBT-Filme und einem wichtigen Treffpunkt für alle, die mit queeren Filmen zu tun haben: Filmschaffende genauso wie Festivalmacher_innen und Verleiher_innen.
So lag es denn auch nahe, LGBT-Filme durch einen eigenen Preis zu mehr öffentlicher Wahrnehmung und damit auch zu einem größeren Publikum zu verhelfen. Seit 1987 werden die besten queeren Filme der Berliner Filmfestspiele mit dem Teddy Award prämiert.
Manfred Salzgebers besondere Fähigkeit bestand darin, Ideen wie die des Teddy Awards tatsächlich auch umzusetzen, Initiativen loszutreten, zu kommunizieren und zu vermitteln.
Salzgeber war ein genialer Filmvermittler
Ob in seinen Berlinale-Einführungen vor immer größerem Publikum – zunächst noch im Buchladen Eisenherz, dann in Kinosälen vor Hunderten von Menschen – oder im privaten Gespräch: Manfred Salzgeber vermochte es, anderen mit Verve auch sogenannte schwierige Filme nahezubringen und für sie zu kämpfen – und das hieß, wenn es sein musste, um jeden Zuschauer und jede einzelne Zuschauerin. Filme, die erzählerisch oder ästhetisch die altvertrauten Pfaden verlassen, und solche, die eine politisch und gesellschaftlich klare, im Zweifelsfalle auch streitbare Position beziehen.
Manfred Salzgeber glaubte daran, dass das Kino tatsächlich etwas bewegen kann. Zum Beispiel, Lesben, Schwule und Trans* sichtbar zu machen und ihre Geschichten zu erzählen. Und dann, ab Mitte der 80er-Jahre, zu zeigen, was die Aidsepidemie mit den Erkrankten, mit ihrer Community und mit der Gesellschaft macht.
Manfred Salzgeber holte diese Filme nicht nur ins Berlinale-Programm, er versuchte für die ihm besonders wichtigen auch einen deutschen Verleih zu finden und damit ein breiteres Publikum zu erreichen. Meist allerdings vergeblich.
Vom Filmvermittler zum Filmverleiher
Also wurde er wieder einmal selbst aktiv und brachte 1985 kurzerhand Artur J. Bressans „Buddies“, den ersten Spielfilm zu Aids überhaupt, mit eigener Kraft ins Kino. Er war sich sicher: „Dieser Film kann Leben retten“. Unverhofft war Manfred Salzgeber nun auch zu einem Kinoverleiher geworden.
„Dieser Film kann Leben retten“ (Manfred Salzgeber über „Buddies“, den ersten Spielfilm zu Aids)
„Ich glaube nicht, dass je eine andere Firma auf der Welt aus so einer Stinkwut heraus entstanden ist“, sagte er später mal über die Gründung seiner „Edition Salzgeber“. Deren Programm wuchs zügig, und zwar nicht nur um Filme zu Aids, sondern auch um viele weitere seiner schwul-lesbischen Berlinale-Entdeckungen, etwa von Derek Jarman, Gus Van Sant und Monika Treut.
Manfred Salzgeber versuchte nicht nur Kinos, sondern auch Schwulengruppen und Aidshilfen zu bewegen, so wichtige Filme wie „Buddies“ zu zeigen. „Ein Film kann in acht Minuten so viel leisten wie diese ganzen Trauerseminare in Wochen“, war sich Salzgeber sicher. Doch seine Idee, dass die Deutsche Aidshilfe Lizenzen dieser Filme kauft und ihren Mitgliedsorganisationen Videokopien kostenlos zur Verfügung stellt, stieß auf wenig Resonanz.
Stattdessen musste er erleben, dass Raubkopien auf VHS-Cassetten kursierten. „Die Vorstellung, dass Derek Jarman krank in einer kleinen Bude in London hockt und seine Miete nicht bezahlen kann, während die Aidshilfen für Staatsknete Hochglanz-Broschüren drucken lassen, macht mich wahnsinnig“, beklagte er sich 1993 in einem taz-Interview.
Aber er gab nicht auf. Sichtete und kuratierte weiterhin weltweit neue Filme für die Berlinale und nahm immer weiter Filme ins eigene Verleihprogramm. Es umfasste bald mehrere hundert Produktionen.
Manfred Salzgeber war ein „Filmversklavter“
Manfred Salzgeber war ein Besessener, ein „Filmversklavter“, wie er sich bezeichnete, und das schon von Kindesbeinen an. Als Jugendlicher hatte er bereits so viele Filme gesehen, dass er ein Western-Lexikon mit 800 korrigierenden Anmerkungen versah.
Salzgeber war aber auch ein Workaholic, der nie zur Ruhe kam und über unerschöpfliche Energiequellen zu verfügen schien.
Wenn er mal auf ein Bier in die Lederkneipe ging und dort im Darkroom verschwand, konnte man sich fast sicher sein, dass er anschließend noch mal in sein Büro zurückkehren würde.
Doch seine Aidserkrankung forderte ihren Tribut. Was Manfred Salzgeber sich abverlangte, vermochte sein Körper immer häufiger nicht mehr zu leisten.
Das hat ihn maßlos geärgert, aber umso weniger hat er sich deshalb geschont, schon gar nicht bedauert. Er hat sich der Krankheit nicht ergeben, sondern ihr getrotzt.
Bis zwei Wochen vor seinem Tod kümmerte er sich um das nächste Berlinale-Programm, und selbst seine Trauerfeier im Berliner Astor-Kino nutzte Salzgeber, um einem für ihn besonders wichtigen Film zur verdienten Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Manfred Salzgebers Vermächtnis lebt
Nach den Reden wurde auf seinen Wunsch hin „Blue“ gezeigt, Derek Jarmans letzter Film. Der britische Filmemacher und Homosexuellenaktivist war durch eine aidsbedingte Augenerkrankung erblindet, was ihn aber nicht davon abgehalten hatte, noch ein letztes Werk zu produzieren.
„Blue“ verbindet Kindheitserinnerungen, Reflexionen über Kunst, Homosexualität und Gesellschaft mit der Meditation Jarmans über den Verlust des Augenlichts, den Tod von Freunden und den eigenen, nahen Tod. Eine Collage aus Stimmen, Musik und Geräuschen – während die Leinwand für die gesamten 76 Minuten ausgefüllt bleibt von jenem Blau, das Jarmans Sehfeld zuletzt vereinnahmt hatte.
Manfred Salzgeber hätte keinen besseren Film für seine Trauerfeier wählen können als dieses poetische, radiale und meditative Werk des Abschieds.
Salzgebers Name und Werk leben weiter
25 Jahre sind seitdem vergangen, aber er ist alles andere als vergessen.
Manfred Salzgeber hat bleibenden, prägenden Eindruck bei jenen Menschen hinterlassen, die den manchmal durchaus widerborstigen und unbequemen, aber stets freundlichen und diskussionsfreudigen Mann erleben durften.
Auch sein Verleih, den er zu Lebzeiten an seine Mitarbeiter_innen übergeben hatte, lebt weiter. Unter dem Namen Salzgeber & Co. Medien ist er zu einem der bedeutendsten unabhängigen Filmverleiher des Landes geworden, in dem weiterhin Arthouse-Filme und insbesondere queere Produktionen sowie Filme zu HIV und Aids (wie zuletzt etwa „Sauvage“, „Sorry Angel“ und „120 BPM“) für das deutsche Publikum zugänglich gemacht werden.
Und inzwischen gehört auch ein auf schwule Themen fokussierter Verlag zum Unternehmen, bei dem auch der Albino Verlag und die Edition Männerschwarm eine neue Heimat gefunden haben.
Manfred Salzgebers Vermächtnis lebt.
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