Ich war Stonewall im Stonewall Inn
Neulich habe ich die schönste WhatsApp-Nachricht meines Lebens bekommen. Sie leuchtete auf dem Sperrbildschirm meines Handys auf als ich im Central Park in den Sonnenuntergang spazierte. Vielleicht werde ich den Screenshot einmal als Romancover verwenden. Die Nachricht wird dann der Titel. Sie lautet: „Let’s meet at Stonewall.“
Geschrieben hatte den Vorschlag ein junger Mann, kurz nachdem wir unsere Kommunikation von Tinder auf WhatsApp verlagert hatten. Kennen lernen wollte er mich nun im Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street, wo mit dem Widerstand gegen eine nächtliche Polizei-Razzia vor 50 Jahren die queere Befreiungsbewegung begann. Am Abend des 27.6.2019, genau 50 Jahre danach. Ihm war das nicht bewusst gewesen, wie er mir später erzählte. Er ging einfach gerne ins Stonewall Inn. Es ist ja eine Bar.
Dann saßen wir auch schon auf Barhockern, verstanden uns prächtig und schauten uns die gerahmten alten Fotos an den Wänden an. Sie zeigen das historische Geschehen in der Christopher Street und die Demonstrationen, die darauf folgten.
„Kannst du dich noch erinnern, wie die Nacht damals war?“, fragte er plötzlich.
Ich glaube, ich blieb äußerlich ganz ruhig. „Für wie alt hältst du mich?“, fragte ich schließlich. Er wollte sich dann darauf rausreden, dass er mich einfach für einen geschichtlich versierten Mann gehalten habe.
„Du hast gefragt, ob ich mich erinnern kann, Schätzchen!“
„Ok, ich komm aus der Nummer nicht raus“, stellte er schließlich fest. Musste er auch nicht. Es gibt Schlimmeres, als von einem politischen Mittzwanziger für einen Teil von Stonewall gehalten zu werden. Meine Beteiligung an der Revolte wurde ja geschätzt.
Um Mitternacht küssten wir uns. Zwei verschieden alte Männer verschiedener Hautfarbe mit sehr verschiedenen Leben in großer Einigkeit im Stonewall Inn. Ich fragte mich nur ganz kurz, was die anderen dachten. Niemand guckte. Es war Pride pur. Die beste Möglichkeit, den Feiertag zu begehen, die ich mir niemals hätte ausdenken können. We met in Stonewall.
Man kann vielleicht sagen, dass ich zu Stonewall schon immer ein religiöses Verhältnis gepflegt habe. In meinem Flur hängt ein Foto vom U-Bahnhof Christopher Street mit einem abfahrenden Zug, das man als Ikone deuten darf.
Für die queere Zeitschrift Siegessäule habe ich ungezählte Male die „Weihnachtsgeschichte“ von den Aufständen geschrieben, die wir so nannten, weil sie jedes Jahr erzählt wurde.
Als junger Journalist war ich tief beeindruckt von Stormé Delarverie, die laut einer der zahlreichen Legenden den ersten Schlag gegen die Polizei geführt haben soll. „The cop hit me, I hit him back. The cops got what they gave”, war ihr Mantra. Ich habe ihre markante Stimme noch im Ohr.
Stormé war auf den ersten Blick eine Butch-Lesbe of color und zu Stonewall-Zeiten ein male impersonator gewesen, was vielleicht mit drag king wiedergegeben werden darf. Ich war mir unsicher, welche Bezeichnung und welches Pronomen ich im Text verwenden sollte. Er? Sie? „Use whatever makes you comfortable“, erklärte sie lapidar.
Es ist keine verallgemeinerbare Lösung, aber es lagen großes Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit und Gelassenheit in dieser Antwort. Kein Zweifel: Stormé war der Messias. He’s a black queer lesbian from New York City.
Ich bin nie wegen meiner Homosexualität verhaftet oder geschlagen worden, aber ich war viele Jahre heimlich in einen Freund verliebt, während meine Schulkameraden das Wort „schwul“ für alles benutzten, was sie doof fanden. Ich hatte Angst vor Entdeckung und keine Ahnung, wie ich aus der Nummer je rauskommen sollte.
Ich muss nicht alle Geschichten erzählen, um deutlich zu machen: Ich war beschädigt genug, um religiös zu werden.
„Wehr dich, dann wird für dich gesorgt sein!“, lautet die frohe Botschaft aus der Christopher Street. Sie steht für die Erlösung. Das Versprechen des gelobten Landes. Stonewall war und ist Erweckung. Meine Reise nach New York war also eine Pilgerreise.
Zwar gibt es einen mittlerweile einen Konflikt mit meiner eigentlichen Religion, dem Buddhismus, denn Stonewall war ein gewaltsamer Aufstand und der Buddha predigt Gewaltlosigkeit. Ich hoffe aber, spätestens im nächsten Leben eine Lösung zu finden.
Sagen wir so: Der Heilige Geist der Christopher Street ist unübersehbarer Selbstrespekt, zu dem lange kaum jemand fähig gewesen war. In vielen Ländern sind Menschen auch heute nicht dazu fähig.
Bei der WorldPride-Demonstration rührte mich daher das schlichte Transparent der Hamburger besonders, die einfach den „Veterans“ dankten. Das Konterfei von Marsha P. Johnson, queere Ikone und Sexarbeiterin, war omnipräsent. Auch sie soll den Stein mit ins Rollen gebracht haben. Stormés Gesicht sah ich nirgendwo. Vielleicht, weil bei der Geschichtsschreibung immer jeder Mensch seine eigene Geschichte erzählt und die eigenen Helden platziert. Man kann von Trends, vielleicht sogar von Moden sprechen. Auf jeden Fall gibt es mehr Stonewall-Veterans als damals Flaschen flogen. Sogar ich werde ja neuerdings zu ihnen gerechnet.
Auch Bob gehört dazu. Ich interviewte den älteren Herrn aus New York einmal im Backstagebereichs des Europride in Hamburg fürs schwule Fernsehen. Für ihn waren die Stricher ausschlaggebend. Mit ihnen war er in der dritten Nacht der Unruhen in der Christopher Street.
Aus historischem Interesse fragte ich ihn, welche Rolle denn aber Judy Garland gespielt habe. Es heißt ja, der Tod der verehrten Diva habe damals die Homos so sehr aus der Fassung gebracht, dass sie schließlich wütend wurden, als auch noch die Polizei eintraf. Dieser Legende nach war also Judy Garland ausschlaggebend für unsere Befreiung.
„Stonewall hatte nichts mit Judy Garland zu tun“, erwiderte Bob erbost. „Sie war eine Alkoholikerin. Ein Wrack.“
Was soll ich dazu sagen, ich war nicht dabei. Ehrlich nicht.
Zurück in Berlin gab ich auf radioeins ein Interview zum World Pride in New York. Der Moderator las das Motto des Jubiläums-CSDs in Berlin vor: „50 Jahre Stonewall – Jeder Aufstand beginnt mit deiner Stimme!“ Und fragte dann herausfordernd: „Why so serious?“
„Weil das eine ernste Sache ist, soviel Spaß sie auch macht“, hörte ich mich sagen.
Später am Tag moderierte ich mit der wunderbaren Frauke Oppenberg die Sondersendung zum CSD. Wir interviewten einen 17-jährigen Trans-Mann, der unglaublich selbstbewusst seinen Weg geht, eine Aktivistin aus der Ukraine, die bei einer Demo von Rechten verletzt worden war, und die Besitzer des Stonewall Inn. Einen Aktivisten, der die Botschaft des CSD mit einer Bustour in Brandenburger Kleinstädte trägt. Und Marianne Rosenberg. Wir lasen die Messe für alle, die vorangegangen sind, für alle, die heute tanzen und kämpfen und für alle, die noch kommen.
Unter unseren Zuhörern war via Internet ein junger Mann aus El Salvador, den ich kurz zuvor auf Tinder kennengelernt hatte. Er sucht gerade nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen, in dem er immer wieder bedroht wird. Von mir hörte er das erste Mal die Weihnachtsgeschichte. Er liebte sie.
Später fragte er mich, wie es gewesen sei, in den Wirren des 2. Weltkriegs aufzuwachsen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Holger Wicht ist der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Was er hier schreibt, spricht für sich.
Weitere Kolumne zum WorldPride in New York: „The only Gay in the Village“
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