• Ein steigender Teil der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM) und dabei Drogen wie Crystal Methamphetamin, Mephedron und GHB/GB konsumieren, sucht bei Problemen Hilfe etwa bei ihren Ärzt_innen oder Präventions- und Beratungseinrichtungen. Doch für Chemsex-Abhängigkeit fehlen stationäre Behandlungsangebote.

Drogen und Sex, das war für Florian eine bewährte Kombination. „Wenn ich auf Sexpartys ging, habe ich regelmäßig Substanzen genommen. Das war überhaupt kein Problem“, erzählt der 40-Jährige. „Ich konnte dennoch ein ganz normales Erwerbsleben führen und am Montagmorgen wieder fit zur Arbeit gehen.“

Dann kam Crystal Meth. Als es Florian das erste Mal angeboten wurde, hatte er keine Vorstellung davon, was die Droge mit ihm machen würde. Doch die Neugierde war zu groß. Das erste Crystal-Erlebnis: „48 Stunden Sex ohne Pause und Unterbrechung. Unfassbar, aber ungemein erfüllend und beglückend.“

Florians erstes Crystal-Erlebnis: 48 Stunden Sex ohne Unterbrechung

Gleich am nächsten Wochenende, erzählt Florian, wollte er dasselbe Feeling wiederhaben. Alle anderen Substanzen waren nun uninteressant. Aber es wurde nie mehr so wie beim ersten Mal. Im Rückblick wurde ihm klar: „Ich war sofort süchtig.“

Schon nach dem ersten Konsum musste er sich krankmelden. „Innerhalb weniger Wochen war ich in einem Zustand, den ich im Nachgang als die schlimmste Zeit meines Lebens bezeichnen möchte.“ Er litt unter starker Paranoia und Angstzuständen, die Vernunft schien wie ausgehebelt.

Als er nach einem Zwischenfall in die Notaufnahme gebracht werden musste, entließ er sich selbst – und konsumierte weiter. „Ich habe eineinhalb Jahre gebraucht, um so tief zu sinken, dass ich zur Reflexion fähig war.“ Erst als Florians Beziehung zu seinem Partner zu zerbrechen drohte, suchte er sich Hilfe – bei einem Therapeuten.

Chemsex und Chemsex-Abhängigkeit: Daten gibt es kaum

Die Zahl der MSM, die Substanzen wie GHB/GBL, Mephedron und Crystal Meth im sexuellen Kontext konsumieren, ist nicht bekannt. Die bisher vorliegenden Datenerhebungen und Datenerhebungen, wie etwa die German Chemsex Survey,  sind noch lange nicht ausreichend. In der Ende 2017 bis Anfang 2018 durchgeführten EMIS-Befragung von rund 130.000 MSM gaben fast 19 Prozent an, mindestens einmal im Leben Kokain konsumiert zu haben, 17 Prozent Ecstasy-Pillen, 14 Prozent Amphetamine, 10 Prozent GHB/GBL, 8 Prozent Ketamin, 7 Prozent Crystal Meth und 5 Prozent Mephedron.

Auf die Frage, ob sie im Jahr vor EMIS-2017 Sex unter dem Einfluss von Drogen gehabt hatten, gaben etwa 7 Prozent an, dies sei fast immer oder immer der Fall gewesen.

Gestiegen ist aber offenbar die Zahl jener Männer, bei denen der Konsum psychische wie körperliche Schäden und Folgen einer Sucht zeigt. Erste Anlaufstellen für Hilfesuchende sind dann häufig schwule Beratungseinrichtungen oder auch Checkpoints für die schwule Community.

Checkpoint Berlin: Anlaufstelle für Chemsex-User

In Berlin wurde ein solches Beratungs- und Behandlungszentrum im Frühjahr 2019 eröffnet. Eine längerfristige Therapie kann Männern mit Suchtproblemen dort allerdings nicht angeboten werden. „Wir versuchen zunächst gemeinsam mit dem Hilfesuchenden herauszufinden, in welcher Situation er sich befindet und was für ihn der geeignete nächste Schritt sein könnte“, erläutert Dr. Christoph Weber, medizinischer Leiter des Checkpoint Berlin. Geklärt wird, ob eine Kurzintervention ausreicht oder ob es sich um einen akuten Notfall handelt und  womöglich eine Klinikeinweisung notwendig ist.

„Wir sind sehr eng mit anderen Einrichtungen in der Stadt vernetzt, die sich ebenfalls mit dem Chemsex-Thema beschäftigen, und können dann gezielt etwa die Schwulenberatung und andere Hilfeeinrichtungen kontaktieren“, erläutert Weber. In der Regel sei so bereits innerhalb weniger Tage ein Folgegespräch möglich.

Christoph Weber weiß um die privilegierte Situation in Berlin. Wahrscheinlich besteht in keiner anderen deutschen Stadt ein vergleichbar gutes Netzwerk mit entsprechenden Strukturen. „Wir können an homofreundliche Therapeut_innen vermitteln und wissen auf Basis des über Jahre gesammelten Feedbacks, welche Reha-Einrichtungen gut funktionieren und schwulen- bzw. queerfreundlich sind“, sagt Christoph Weber.

Auch in Berlin reichen die Kapazitäten nicht aus

Doch die Kapazitäten reichten bei Weitem nicht aus. „Angesichts des Bedarfs gibt es zu wenig Therapieplätze und wenige Berater und Therapeuten, die in diesem Bereich ausgebildet und spezialisiert sind“, so Weber weiter.

Ein Grund dafür: Das Phänomen ist noch recht neu. Früher wurde in der Szene zwar auch Speed, Kokain oder LSD konsumiert, doch Chemsex-Drogen haben sich erst in den letzten Jahren in Deutschland stark verbreitet, und die Auswirkungen werden erst jetzt sichtbar.

Schwulenberatung Berlin: Seit fast zehn Jahren Hilfe bei Chemsex-Problemen

Bei der Schwulenberatung Berlin tauchten die ersten Klienten mit Chemsex-Problemen  vor etwa acht Jahren auf, sagt Jan Großer, der sich dort ehrenamtlich engagiert. Als Psychiater mit Spezialisierung auf Suchterkrankungen hatte er das Phänomen bereits zuvor während seiner Zeit als Leiter einer Suchtambulanz in London kennengelernt. Die Zahl der schwer abhängigen Männer habe sich in den vergangenen fünf Jahren vervielfacht, sagt er.

Großer schätzt, dass allein in Berlin mehrere tausend Männer einen problematischen  Chemsex-Konsum haben, also  nicht nur beim Feiern und auf Sexpartys Drogen nehmen, sondern auch im Alltag, etwa um nach dem Wochenende wieder herunterzukommen oder um Schlafprobleme zu überwinden.

Nur selten ist der problematische Substanzkonsum ein isoliertes Phänomen

Häufig sind es einschneidende oder aufrüttelnde Erlebnisse, die diese Männer dazu  bringen, ihren Konsum zu reflektieren und Hilfe zu suchen. „Manche haben eine Nacht im Koma im Krankenhaus gelegen, andere sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder ein Freund ist infolge des Drogenkonsums gestorben“, nennt Jan Großer als auslösende Momente. Andere wiederum kämen  wegen scheinbar völlig anderer Themen zur Beratung, etwa wegen Depressionen oder Partnerschaftskonflikten, und erst im Laufe des Gesprächs werde deutlich, dass Drogen dabei eine gewichtige Rolle spielen.

Nur selten sei der problematische Substanzkonsum ein isoliertes Phänomen, meist sei er mit anderen Dingen gekoppelt – seien es negative Erfahrungen als Migrant, glücklose Arbeitsuche oder andere psychische Belastungen. 

„Es ist schwierig und schmerzhaft, zu der Einsicht zu gelangen, dass man abhängig ist und Hilfe benötigt. Denn auf der einen Seite steht eine Sexualität, die man als erfüllt und geil erlebt. Davon abgetrennt auf der anderen Seite sind die Probleme im Alltag“, erklärt Großer.

Diese Erkenntnis könne für die Betroffenen durchaus auch bedrohlich wirken. Denn in dem Augenblick, in dem man sich  eingestehe, dass man Probleme mit den Drogen habe, stelle man auch seine Sexualität mit Drogen in Frage. „Für jemanden, der lange Sex unter Substanzkonsum hatte, und fürchtet, dies ohne Drogen nicht mehr zu können, ist das schon beängstigend. Mit dieser Angst müssen diese Betroffenen umgehen lernen.“

Oft reichen schon kurze Interventionen aus

Häufig reichen schon kurze Interventionen eines Beraters aus, um den aus der Kontrolle geratenen Drogenkonsum wieder in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus kann die Schwulenberatung auf eigene offene queere Suchtgruppen und Selbsthilfegruppen verweisen. Bei schwierigeren Fällen kann auch eine ambulante Rehabilitation angeboten werden; als anerkannter Träger kann die Schwulenberatung die Kosten dafür mit den Krankenkassen abrechnen. Das hauseigene Angebot umfasst darüber hinaus auch Wohngemeinschaften und betreutes Wohnen für Männer mit Suchtproblemen. 

Ambulante Therapien sind überwiegend abstinenzorientiert und umfassen je nach Problematik wöchentlich für wenige Stunden oder auch tageweise eine individuelle Therapie oder Gruppenarbeit. Die Klienten schlafen in diesem Falle zu Hause und können gegebenenfalls auch ihrem Beruf nachgehen.

Nur eine suchttherapeutische Einrichtung für Chemsex-Abhängigkeit 

„Für schwer von GHB/GBL oder Crystal Abhängige ist eine ambulante Reha das falsche Setting, um tatsächlich den Absprung zu schaffen“, erklärt Großer. In solchen Fällen bleibe nur der stationäre Aufenthalt in einer Suchtklinik. Genauer gesagt: in der salus klinik Köln-Hürth. Sie ist bislang die einzige suchttherapeutische Einrichtung, die sich dezidiert der  Chemsex-Sucht widmet und deren Mitarbeiter_innen auch in schwuler Sexkultur geschult ist – für das Verständnis von Chemsex eine nicht unerhebliche Grundvoraussetzung.

Fernab des gewohnten Lebensumfeldes und damit auch geschützt vor Verführungen und Reizen soll in der Klinik wieder ein Leben ohne Drogen und erfüllte Sexualität auch ohne Substanzkonsum ermöglicht werden. 

Anne Iking, therapeutische Leiterin der Suchtabteilung , arbeitet dort in einem multiprofessionellen Team aus Therapeut_innen und Ärzt_innen. So können beispielsweise auch sexuelle Funktionsstörungen erkannt und behandelt werden, die durch den Konsum entstanden sein könnten. In Einzelsitzungen werden Aspekte die  aktuelle Sexualität,  Problemlagen  und auch die psychosexuelle Entwicklung aufgearbeitet, denn auch Ausgrenzungserfahrungen etwa beim Coming-out sind unter Umständen wichtige Faktoren bei der Entwicklung einer Sucht.

Häufig stehen Ausgrenzungserfahrungen und krisenhafte Entwicklungen am Beginn einer Sucht

Bei jüngeren Patienten habe sich immer wieder gezeigt, dass sie die eigene Unsicherheit im Coming-out durch Alkohol, Cannabis oder Partydrogen zu überspielen versuchten und dann im Zusammenhang mit Sexkontakten  zu Chemsex-Drogen kamen.

Andere kommen erst im höheren Erwachsenenalter zum Chemsex, oft durch krisenhafte Entwicklungen im Privatleben  wie einer Trennung vom Partner, einer HIV-Diagnose oder durch die altersbedingt abnehmende Attraktivität. 

„Gerade bei  extremem, zum Teil ja auch selbstschädigendem Konsumverhalten spielen internalisierte, mit Schuld und Scham verbundene Ausgrenzungserfahrungen eine bedeutende Rolle“, weiß Anne Iking aus den Patientengesprächen. Die interne Auswertung von 40 Patientenberichten aus zwei Jahren hat ihr zufolge gezeigt, dass die psychischen Belastungsfaktoren wie Depressivität, Ängstlichkeit und Unsicherheit als Folgen internalisierter Ausgrenzungserlebnisse deutlich höher sind als bei Vergleichsgruppen, die nicht Chemsex praktikzieren.

Durch die Spezialisierung kann die salus klinik  Gruppengespräche ausschließlich für MSM anbieten. Zudem sind die Therapeut_innen mit dem Thema wie auch mit den verschiedensten Aspekten schwuler Sexualität vertraut. Beides, so zeige die Erfahrung, ermögliche eine schnelle und bessere Öffnung im Gespräch, so Anne Iking.

Wichtig: Wege, um Sexualität und Drogenkonsum wieder zu entkoppeln

In speziellen Gesprächgruppen zu Lust und Rausch können die Patienten ihren Konsum in Verbindung mit der gelebten Sexualität reflektieren und Wege finden,  Sexualität und Konsum wieder zu entkoppeln. Für die Betroffenen sei dies ein oft schmerzhafter und besonders schwieriger Prozess, so Iking: „Unter Konsum können Praktiken ermöglicht werden oder eine sexuelle Leistungsfähigkeit, die unter Abstinenzbedingungen nicht mehr möglich ist.“ 

Rund 24 Wochen verbringen die  Patienten in der Regel in der salus klinik. Die Abbrecherquote sei relativ gering. Doch auch wer danach als abstinent nach Hause zurückkehre, habe es nicht zwangsläufig für immer geschafft. „Sucht ist eine chronische Krankheit“, betont Anne Iking. „Rückfälle sind durchaus auch ein Symptom der Erkrankung. Das Suchtgedächtnis kann durch Außenreize immer wieder aktiviert werden, und so kann es zu einem Rückfall kommen.“ Als Erfolg sei es deshalb auch zu bewerten, wenn das Rückfallgeschehen frühzeitig beendet werden könne und die Klienten nicht wieder in das frühere Konsumverhalten zurückfielen.

Verinnerlichte Scham und Beschämung bleiben eine Herausforderung

Auch Florian hat solche Rückschläge erlebt. Völlige Abstinenz war für ihn von vornherein keine Option. „Ich bin weiterhin kein Kind von Traurigkeit, allerdings verzichte ich jetzt auf Substanzen, die mir nicht guttun und in meinem Leben viel Schaden angerichtet haben.“ Crystal wird er deshalb nicht mehr anrühren. „Die große Leistung war es, zu erkennen, dass es auch erfüllten Sex ohne Substanzen gibt.“ Das wieder neu zu erlernen, war für Florian  ein langer und mühsamer Weg, der längst noch nicht abgeschlossen ist. Auch nach mittlerweile mehreren Jahren sucht Florian ab und an das Gespräch mit seinem Therapeuten. 

Heute sieht er sich  als „reflektierten, erwachsenen Menschen, der trotz dieser schwierigen Phase Lust auf Liebe, guten Sex und die eine oder andere Ausgeflipptheit nicht verloren hat.“ Die verinnerlichte Scham und die Beschämung, sagt Florian allerdings, sind und bleiben eine Herausforderung. „Dagegen anzuarbeiten, mich damit auseinanderzusetzen, wird noch für eine sehr lange Zeit meine Aufgabe bleiben.“

(Mitarbeit: Paul Schulz)

Literatur:

Abschlussbericht des Modellprojekts „Qualitätsentwicklung in der Beratung und Prävention im Kontext von Drogen und Sexualität bei schwulen Männern (QUADROS)“, Mai 2016 (PDF-Datei)

Anna Dichtl, Niels Graf: Chemsex in Deutschland – Perspektiven drogenkonsumierender MSM in sexuellen Kontexten und Anforderungen an die Praxis. Vortrag auf dem 40. fdr+sucht+kongress des Verbands Drogen- und Suchthilfe, 15./16. Mai 2016 in Berlin (PDF-Datei)

Anne Iking; Marcus Pfliegensdörfer: MSM und Chemsex. Impulsvortrag vom 2.11.2018 (PDF-Datei)

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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