Der German Chemsex Survey ist eine der ersten wissenschaftlichen Studien, die Chemsex, also Sex unter dem Einfluss bestimmter Drogen, unter MSM (Männer*, die Sex mit Männern* haben) untersuchen. Die Studie ist in Kooperation zwischen der Katholischen Hochschule NRW, der Universität Duisburg-Essen, dem LVR-Klinikum Essen sowie der Deutschen Aidshilfe entstanden. Wir sprachen mit dem Leiter der Studie, Prof. Dr. Daniel Deimel, über die Ergebnisse und deren Bedeutung für die Präventionsarbeit.

Interview: Jeff Mannes

Herr Prof. Deimel, was haben Sie in Ihrer Studie genau untersucht?

Für den German Chemsex Survey haben wir uns für die Dynamiken und Hintergründe von Chemsex bei MSM interessiert.

Uns war besonders wichtig, Datenmaterial zu sammeln, damit wir diese Population besser beschreiben können. Dazu haben wir eine sehr umfangreiche Online-Befragung durchgeführt und dabei Themen wie zum Beispiel psychische Gesundheit, Substanzkonsum, traumatische Erfahrungen, Sexualität, soziale Unterstützung, Lebensqualität, Community und Hilfesysteme abgefragt. Insgesamt haben wir eine Datenbasis von 1050 Männern*.

Grafik aus dem German Chemsex Survey zum Substanzkonsum in den letzten 12 Monaten

Was sind denn die Kernergebnisse dieser Studie?

Zuerst einmal war auffällig, dass die Männer in unserer Stichprobe in der Regel überdurchschnittlich gut gebildet sind und ein überdurchschnittlich hohes Einkommen haben. Die sexuelle Kontaktaufnahme hat dabei in zwei Drittel der Fälle auf Online-Datingplattformen und nur zu einem Drittel in sozialen Nahräumen, also zum Beispiel Bars und Saunen, stattgefunden.

Das erste interessante Ergebnis, das wir in punkto Substanzkonsum herausfinden konnten, war, dass die Gründe dafür sehr unterschiedlich sein können. Diese reichen von Spaß und Entspannung über intensiveres sexuelles Erleben, sexuelle Leistungssteigerung und das Ausleben sexueller Phantasien bis hin zum Vergessen von Problemen und dem Ausleben der eigenen Identität.

Überdurchschnittlich gut gebildet und überdurchschnittlich hohes Einkommen

45 Prozent gaben zudem an, dass sich ihre Sexualität durch den Substanzkonsum verändert habe. 9 Prozent der Befragten wünschen sich Hilfe, um dies wieder zu ändern.

Relativ häufig kam auch intravenöser Drogenkonsum vor, das sogenannte Slamming; in der Regel von den klassischen Chemsex-Drogen wie Ketamin, Mephedron und Crystal Meth. Insgesamt gaben 11 Prozent der Männer* an, dies schon einmal gemacht zu haben.

Das ist zum Opioidkonsum viel. Hier nehmen eher andere Konsumformen zu, wie inhalativer oder nasaler Konsum. Das Spritzen hingegen ist rückläufig.

Es ist schon auffallend, dass in unserem Sample der Anteil des intravenösen Substanzkonsums im zweistelligen Bereich liegt.

Können Sie etwas zu dem körperlichen und psychischen Zustand der Männer* sagen, die Chemsex praktizieren?

Signifikant schlechter ist die mentale Gesundheit

Wenn es um die körperliche Gesundheit geht, so entsprechen die Männer* in unserer Stichprobe laut eigener Einschätzung in etwa dem gesellschaftlichen Durchschnitt oder stehen teilweise sogar besser da.

Signifikant schlechter ist allerdings die mentale Gesundheit. So zeigen 13 Prozent klinisch relevante Anzeichen für eine depressive Störung und 12 Prozent für eine posttraumatische Belastungsstörung. Das sind äußerst hohe Werte!

Ebenfalls sehr hoch ist der Anteil der Männer*, die bereits Suizidversuche unternommen haben, nämlich 6 Prozent. 54 Prozent hatten zudem schon Suizidgedanken.

Wir haben hier, was psychische Gesundheit angeht, also eine ausgesprochen vulnerable Personengruppe. Deswegen ist aber noch nicht geklärt, ob das eine das andere auslöst.

Grafik aus dem German Chemsex Survey zr 30-Tage-Prävalenz des Konsums bestimmter Substanzen

Was uns aber am meisten bewegt hat, waren die Werte zu Trauma und Sexualität.

42 Prozent der Männer* berichteten, dass in ihrer Vergangenheit bereits sexuelle Grenzen verletzt wurden. Von diesen 42 Prozent gaben 30 Prozent an, dass dies unter dem Einfluss von Substanzen passierte.

Darüber hinaus gaben 15 Prozent aller Männer* an, dass sie bereits Gewalterfahrungen beim Sex erlebt haben, und 12 Prozent berichteten, dass ihnen bereits gegen ihren Willen Substanzen verabreicht wurden, was juristisch einem Körperverletzungsdelikt entspricht.

Da liegt die Frage nahe: Wie sieht es mit dem sozialen Umfeld der Chemsex-Praktizierenden aus?

Es geht auch um die Frage der Kompensation von Belastungen

Das ist in der Tat interessant, da es ja auch um die Frage der Kompensation von Belastungen geht. Leider gaben 24 Prozent an, sehr geringen Zugang zu sozialer Unterstützung zu haben. Außerdem war hier die Einsamkeit signifikant höher, als wir dies aus Daten aus der Allgemeinbevölkerung kennen.

So weit zu den Ergebnissen der Studie. Aber was bedeutet das denn jetzt ganz praktisch für die schwule* Community und für Prävention, Beratung und Therapie?

Wir hoffen, besonders in Bezug auf die sexuellen Grenzverletzungen, eine Diskussion in der schwulen* Community anzustoßen.

Konkret sollten wir uns fragen: Wie gehen wir miteinander um? Wie achtsam sind wir miteinander? Werden sexuelle Grenzverletzungen offen thematisiert oder verschwiegen?

In der #MeToo-Debatte haben wir ja gesehen, welch schambesetztes Thema es für Frauen* ist, über sexuelle Gewalterfahrungen zu besprechen.

Das Stigma, solch eine Grenzverletzung anzuzeigen, ist für Männer* womöglich sogar noch höher.

Wir müssen unsere Präventionsstrategien für diese Zielgruppe verbessern

Darüber hinaus wäre es wichtig, unsere unterschiedlichen Hilfesysteme besser zu vernetzen, da diese sehr segmentiert [Anm. d. Red.: gegliedert im Sinne von kleinteilig spezialisiert] ausgerichtet sind.

So gehen schwule Männer mit Fragen zu Lifestyle und Gesundheit zur Aidshilfe, der Substanzkonsum wird in der Suchthilfe bearbeitet und mit psychischen Problemen wird ein_e Psychotherapeut_in aufgesucht. Hier brauchen wir eine bessere Öffnung der unterschiedlichen Bereiche sowie eine Vernetzung der einzelnen Institutionen.

Grafik aus dem German Chemsex Survey zu den Motiven des Substanzkonsums in sexuellen Settings

Schlussendlich müssen wir aber auch unsere Präventionsstrategien für diese Zielgruppe an die Ergebnisse der Studie anpassen und verbessern.

Zum Beispiel war auffällig, dass 67 Prozent der Männer*, die sich Drogen spritzen, keine Spritzentauschprogramme in Anspruch nehmen. Hier haben wir eine ähnliche Situation wie Anfang der 80er-Jahre bei den Heroin-Konsument_innen. Hier muss sich die Präventionsarbeit also verändern.

Zum Schluss vielleicht noch ganz praktisch: Was ist Ihre Botschaft an Chemsex-Praktizierende?

Sehr achtsam sein und sich sehr stark mit dem Thema Schadensminderung auseinandersetzen.

Man sollte sich bewusst sein, wie Substanzen miteinander wirken und welche Risiken mit Mischkonsum verbunden sind. Man sollte auch immer mal wieder kritisch die eigenen Motive des Konsums hinterfragen.

Schlussendlich sollte man sich sofort und sehr schnell professionelle Hilfe holen, sobald Gefühle von Einsamkeit, Suizidgedanken oder Sinnfragen nach dem Leben hochkommen

Das kann die Aidshilfe sein, das kann aber auch die Suchtberatung, eine psychiatrische Einrichtung oder eine Psychotherapie sein.

Herr Prof. Deimel, vielen Dank für das Interview!

German Chemsex Survey: Studienleiter Prof. Dr. Daniel Deimel

Prof. Dr. Daniel Deimel forscht und lehrt an der Katholischen Hochschule NRW.

Folien zu einer Vorstellung des German Chemsex Survey bei einem Presseseminar der Deutschen Aidshilfe im April 2019 finden sich hier.

Auf aidshilfe.de steht die Broschüre Chemsex – Erste Hilfe zum kostenlosen Download bereit.

Unter iwwit.de/drogen gibt es zudem nützliche Informationen, wie Männer*, die Sex mit Männern* haben, gesundheitliche Risiken beim Substanzkonsum reduzieren und was sie im Notfall tun können.

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