Sexualität und Sprache

„Warum sagen wir nicht Solo-Sex?“

Von Inga Dreyer
Porträt Agi Malach
Agi Malach
Agi Malach ist Sexualpädagogin und sexpositive Feministin. Über ihr Label „Vulvinchen“ vertreibt sie Schmuck und Sticker in Vulva-Form und regt damit zum Nachdenken über Sexualität, Sprache und die Vulva an.

Sie besuchen als Sexualpädagogin häufig Schulen. Wie ist es für Kinder und Jugendliche, über Sexualität zu sprechen?

Ich habe oft das Gefühl, es ist mit Angst verbunden, wenn die Kinder und Jugendlichen erfahren, dass ich und mein Kollege kommen. Oft heißt es „ihh“ und „eklig“. Wir schaffen dann eine Atmosphäre, in der klar ist: Alle dürfen, aber niemand muss mitmachen. Dann merkt man, dass sie entspannter werden.

Aber Dinge zu benennen, fällt ihnen sehr schwer. Es fängt mit dem Wort Sex an, das nicht ausgesprochen wird. Dann sagen sie S-E-X oder machen Geräusche. Das finde ich krass. Manchmal arbeiten wir mit einer anonymen Fragebox. Dabei kommt es vor, dass manche Wörter nicht ausgeschrieben werden – da steht dann zum Beispiel „P…“. Ich muss dann erraten, dass es wahrscheinlich „Penis“ heißt. Da gibt es eine große Scham.

Woran liegt das?

Ich finde es erst mal ganz wichtig, Grenzen und Scham zu akzeptieren. Ich will nicht schamfrei arbeiten, sondern schamsensibel. Es ist ein wichtiger Schritt für Kinder und Jugendliche, eine Grenze zu setzen und zu sagen: Nee, das möchte ich jetzt nicht sagen.

„Auch bei Erwachsenen herrscht Sprachlosigkeit“

Aber auch Sprachfähigkeit ist enorm wichtig, um Sexualität zu verhandeln oder um mitzuteilen, wenn mir etwas passiert ist. Wenn ich keine Wörter für meine Genitalien habe, kann ich auch nicht zu Ärzt_innen gehen und sagen: Da tut mir etwas weh oder da brennt es. Ich glaube, ein Problem ist, dass das Umfeld keine Worte dafür hat. Auch bei den Erwachsenen herrscht Sprachlosigkeit.

Was tun Sie, um Scham und Sprachlosigkeit zu überwinden?

Wir versuchen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der klar ist: In diesem Raum ist alles in Ordnung. Wir fangen mit Wortsammlungen an und fragen ganz offen: Welche Wörter kennt ihr für Genitalien? Wir gucken dann, in welcher Situation die Wörter passen. Verwende ich sie mit meinem Partner oder meiner Partnerin oder mit meinen Ärzt_innen?

Alles sagen zu können schafft Erleichterung. Denn oft erfahren Kinder und Jugendliche sofort eine Bewertung – und das ohne Erklärung. Es heißt: Das Wort ist verboten! Aber sie wissen gar nicht, warum. Viele von ihnen benutzen zum Beispiel das Wort „Transe“. Dann versuchen wir zu erklären: Pass auf, das kann ein diskriminierender Begriff sein. Es ist ok, wenn Menschen das als Selbstbezeichnung verwenden. Aber wenn du das zu jemandem sagst, dann ist es wahrscheinlich als Beleidigung gemeint.

Es gibt im Deutschen viele Begriffe, die die „Scham“ schon in sich tragen: „Schamlippen“ oder „Schambehaarung“ etwa. Wie gehen Sie damit um?

Ich baue alternative Begriffe ganz selbstverständlich in meinen Sprachgebrauch ein. Ich mag zum Beispiel persönlich das Wort Schamlippen nicht, weil ich finde, da schwingt gleich so eine Konnotation von etwas Schlechtem und von „Verstecken-Müssen“ mit. Ich sage immer Vulvalippen. Manchmal irritiert das. Dann erkläre ich: Manche Menschen nennen das so, manche nennen das anders.

„Die meisten kennen den Unterschied zwischen Vagina und Vulva nicht“

Ich möchte Menschen nichts verbieten und finde es ganz wichtig, Wörter zu finden, mit denen man sich wohlfühlt. Aber ich glaube, dass es auch wichtig ist zu sagen: Ich kann dir Alternativen anbieten und du kannst aufgrund der Information, die ich dir mitgebe, entscheiden, welches Wort du benutzt. Auch bei der Erwachsenengeneration fehlen ja Wörter. Die meisten kennen den Unterschied zwischen Vagina und Vulva nicht. Das sind zwei unterschiedliche Körperteile! Ich bete das einfach immer wieder runter.

Inwiefern ist diese Sprachfähigkeit auch für sexuelle Gesundheit wichtig?

Sprachfähigkeit ist generell für Sexualität wichtig – aber auch für sexuelle Gesundheit. Dann erst kann ich mit meinen Partner_innen über bestimmte Sachen sprechen: Sind wir beide getestet? Wie möchten wir verhüten? Gibt es bestimmte Krankheiten, die wir bedenken müssen? Ich glaube, wenn Klarheit herrscht, kann ich mich viel mehr fallenlassen. Dann erst habe ich alle Infos, die ich brauche, um mich hingeben zu können.

Welche Rolle spielt die Sprachfähigkeit in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung?

Für sexuelle Selbstbestimmung ist es wichtig, Informationen zu haben, um Handlungsspielräume aufzuzeigen und Entscheidungen zu treffen. Außerdem ist es wichtig, das sprachlich zu artikulieren. Sexuelle Selbstbestimmung fängt schon bei Verhütung an. Wenn ich zum_zur Gynäkolog_in gehe und er_sie mir nur zwei Verhütungsmittel vorstellt, kann ich sagen: Ich habe gehört, es gibt noch mehr. Können Sie mir noch mehr zeigen?

Es geht bei sexueller Selbstbestimmung auch darum, Grenzen zu setzen und zu sagen: Das ist etwas, das mir guttut, und das ist etwas, das mir nicht guttut. Vieles kann auch nonverbal stattfinden, beispielsweise, indem ich eine Hand wegschiebe. Aber zu wissen, ich darf diese Entscheidung treffen und ich darf sie auch verbal kommunizieren – das ist sehr herausfordernd.

Wie lernt man, über Sexualität zu sprechen?

Ganz viel läuft über Vorbilder. Vielleicht muss ich nicht direkt mit demjenigen sprechen, mit dem ich Sex habe. Ich kann ja auch erst mal zu Freund_innen gehen, denen ich vertraue, und fragen: Wie machst du das denn? Dabei geht es auch darum, sich mit Unsicherheiten zu zeigen. Wir müssen nicht alles immer sofort richtig gut können. Es ist schwer, aber es ist wichtig, dass wir darüber sprechen.

„Wir müssen nicht alles sofort richtig gut können“

Es ist auch ok, wenn wir es mal nicht schaffen, unsere Grenze zu vertreten oder zu sagen, was wir gerne wollen. Das kann man auf unterschiedliche Arten lernen. Vielleicht tut es einem gut, mit anderen darüber zu sprechen. Manche Menschen lesen lieber Bücher, Interviews und Artikel. Es kann auch sein, dass man erst mal mit sich selbst übt und bestimmte Wörter laut ausspricht.

Haben Sie Beispiele für Begriffe, die Sie gut finden?

Da gibt es eine ganze Menge. Ich finde zum Beispiel das Wort Scheide nicht so gut. Das ist die direkte Übersetzung von Vagina, aber mit dem deutschen Begriff Scheide verbinde ich die Scheide, in die das Schwert gesteckt wird. Sie hat nur mit einem Gegenüber eine Funktion. Das finde ich sehr gewaltvoll.

Schwierig finde ich auch das Wort Jungfernhäutchen, weil es sofort den Mythos „Jungfrau“ transportiert. Ganz oft denken Leute, dass da eine Haut ist, die reißt und schmerzt. Dann versuche ich zu erklären: Das sind Schleimhautfalten, die sich dehnen können und bei denen es manchmal keine Verletzung gibt. Ich benutze die Worte Hymen oder Häutchen, weil ich sie angenehmer finde.

Auch für Masturbation und Onanieren gibt es schönere Begriffe. Warum sagen wir denn nicht Solo-Sex? Oft hat Selbstbefriedigung so einen niedrigen Stellenwert. Da wird dann gesagt: Das ist gar kein Sex. Ich sage: Doch, das ist Sex mit dir selbst. Das darf doch auch wertgeschätzt werden.

Einerseits sind wir in unserer Gesellschaft von sexualisierten Bildern umgeben. Andererseits ist es schwierig, über Sex zu sprechen. Wie passt das zusammen?

Oftmals wirkt es nur so, als sei unsere Kultur offen. Ich finde, dass vieles an der Oberfläche bleibt. Entweder ist etwas super sexualisiert – und dann wirkt es auf ganz viele Menschen abschreckend. Oder es ist tabuisiert – und dann macht es stumm. Es fehlt dieses Mittelfeld, in der die Kommunikation über Sexualität in die Tiefe geht.

„Es ist wichtig, sanft und freundlich zu sich selbst zu sein“

Auf vielen Menschen lastet der Druck, den perfekten Sex haben zu müssen, die perfekten Partner_innen, die beste Kommunikation, den besten Körper. Wir können dem nicht gerecht werden. Oft wird auch von den Medien ein unrealistisches Bild vermittelt.

Es ist wichtig, sanft und freundlich zu sich selbst zu sein. Ich fände es toll, wenn es auch Qualitäten von Unsicherheit, von Verletzlichkeit und „Misserfolgen“ gäbe. Sexualität ist nicht immer erfüllend und blühend und lustvoll. Sie hat auch Schattenseiten – etwa sexualisierte Gewalt, unerfüllter Kinderwunsch oder lange Zeiten von Lustlosigkeit in Partnerschaften.

Wie lernt man, über die eigenen Bedürfnisse zu sprechen?

Ich glaube, da muss man erst einen Schritt zurückgehen und fragen: Kenne ich die denn selber? Wir gehen immer davon aus, dass Menschen ganz genau wissen, was sie wollen. Für alle, die das wissen: megatoll! Aber manchmal lernen wir unsere Bedürfnisse erst in dem Moment kennen, in dem wir etwas erleben. Oder auch erst einige Zeit danach, wenn wir merken: Das hat sich ganz gut angefühlt.

Wenn man seine Bedürfnisse kennt, kann man mit Freund_innen sprechen und sagen: Ich denke öfter mal daran und würde das gerne mal ausprobieren. Wie ist das eigentlich bei euch? Es geht ja nicht darum zu fragen: „Ist das okay?“ oder „Bin ich normal?“ Es geht darum zu erfahren, wie bunt die Welt ist – auch die Welt der Bedürfnisse.

Viele Eltern fragen sich: Wie bringe ich den Kindern bei, über ihren Körper und ihre Sexualität zu sprechen?

Es ist es ganz wichtig, nicht mit unserer Erwachsenenbrille auf kindliche Sexualität zu schauen. Wir müssen uns bewusst sein: Kinder haben eine andere Sexualität. Ich bin der Meinung, dass Sexualität mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Sie zeigt sich nur in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich.

Wenn Kinder sich an den Genitalien berühren, sagen wir mit unserer Erwachsenenbrille: Oh Gott, oh Gott! Wie können die sich denn schon selbst befriedigen? Für Kinder ist das erst mal nur Neugier. Das fühlt sich gut an und bringt Wohlbefinden. Aber für sie ist das noch keine Sexualität im erwachsenen Sinne. Ich glaube, eine Grundentspannung hilft da erst mal.

„Sexuelle Bildung läuft immer auch nebenher“

Es gibt auch tolle Aufklärungsbücher. Niemand muss das alleine hinkriegen. Vielleicht gibt es andere erwachsene Personen im Umfeld, die das besser können. Oder vielleicht stelle ich auch nur ein paar Bücher ins Regal und sage: Wenn du Fragen hast, dann bin ich für dich da. Es braucht ja nicht unbedingt dieses „Komm, wir setzen uns mal an den Tisch“. Sexuelle Bildung läuft immer auch nebenher. Kinder nehmen wahr, wie Erwachsene miteinander umgehen, wie sie Zärtlichkeiten austauschen, wie sie streiten, wie sie über Rollen im Haushalt verhandeln. Das ist auch sexuelle Bildung.

Entfachen Ihr Schmuck und Ihre Vulva-Sticker Diskussionen über Sexualität?

Ja, es ist das Hauptziel, dass Menschen sich Gedanken machen und ins Gespräch kommen. Dabei ist es ziemlich egal, ob Leute die Sachen gut oder blöd finden. Es bewegt etwas in den Menschen. Das finde ich schön.

„Mit ‚Vulvinchen‘ habe ich die Leute auf meine Reise mitgenommen“

Ich glaube, mit „Vulvinchen“ habe ich die Leute auf meine Reise mitgenommen. Ich habe irgendwann angefangen, darüber nachzudenken, warum wir eigentlich diese Wörter benutzen und warum die Vulva so unsichtbar ist. Ich glaube, die Sticker im öffentlichen Raum bringen Menschen dazu, innezuhalten und zu fragen: Was ist denn das? Irritation kann etwas ganz Tolles sein. Meist sortieren sich dann Dinge neu.

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