Zehn Praxen und Kliniken haben seit September 2018 ein Fortbildungsprogramm der Deutschen Aidshilfe durchlaufen und das Gütesiegel „Praxis Vielfalt“ für einen diskriminierungsfreien Umgang mit Patient_innen erhalten, darunter auch das Berliner Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung am Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Zwanzig weitere sind gerade auf dem Weg.

Das Gebäude an Berlins Hohenzollerndamm 174–177 birgt ein Geheimnis dunkler Geschichte: Anfang der Dreißigerjahre errichtet, hatte dort die „Deutsche Arbeitsfront“, der Zwangsverband von Arbeitnehmer_innen und Arbeitgeber_innen im Dritten Reich, ihren Dienstsitz.

Auch heute schaffen es die schier endlosen und düsteren Flure noch, ihre Besucher_innen einzuschüchtern, während die Schritte in ihnen verhallen. In ihrer Seelenlosigkeit erinnern sie an das Setting eines Kafka-Romans: die Einzelperson, dem anonymen System einer Verwaltung ausweglos unterworfen.

Ziel: ein niedrigschwelliges Gesundheitsangebot für eine diverse Klientel

Dabei wollen die rund 25 Mitarbeiter_innen des Zentrums für sexuelle Gesundheit und Familienplanung im Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf das genaue Gegenteil sein: ein niedrigschwelliges Gesundheitsangebot für eine diverse Klientel! Sozialarbeiter_innen, Sprachmittler_innen, Psycholog_innen, Ärzt_innen, Medizinische Fachangestellte und eine Auszubildende arbeiten hier gemeinsam an diesem Ziel.

Das Team des Gesundheitszentrums und jana maria knoop vom Projekt „Praxis Vielfalt“ der Deutschen Aidshilfe (Bild: DAH/Jason Richter)

Noch unterschiedlicher als die Berufsfelder sind die Gruppen von Menschen, die hier eine Anlaufstelle für ihre Gesundheitsprobleme finden. Dr. Tessa Winkel, Ärztin am Gesundheitszentrum, zählt sie auf: Das beginnt mit schwangeren Frauen ohne Papiere, die hier ihre Vorsorgeuntersuchungen machen können, ohne an die Ausländerbehörden „verpfiffen zu werden“, und einkommensschwachen Frauen, die ihre Verhütungsmittel bekommen, und geht weiter mit Sexarbeiter_innen, nicht wenige von ihnen trans*, die dringend benötigte Tests auf Geschlechtskrankheiten sonst oft schwer oder gar nicht als Kassenleistung bekommen.

Viele Klient_innen haben gar keine Krankenversicherung, manche auch dann nicht, wenn sie aus EU-Ländern stammen. Auch Männer, die Angst vor einer Ansteckung mit HIV haben und eine oft noch größere Angst davor, dass ihr gelegentlicher Sex mit anderen Männern ans Tageslicht kommen könnte, gehören zur Klientel am Hohenzollerndamm.

„Vielfalt ist per se unser Geschäft“, sagt Dr. Tessa Winkel, „auch was Sprachen angeht!“ Rund ein Drittel aller Gespräche im Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung finden auf Englisch statt. Sprachmittler_innen gehören zum Stab, an verschiedenen Tagen werden verschiedene Sprachen angeboten.

Angetan von der Idee „Praxis Vielfalt“

Auf einem Fachkongress im Frühjahr 2019 sah Dr. Tessa Winkel einen Flyer von „Praxis Vielfalt“, einem Gütesiegel, das von der gleichnamigen Koordinierungsstelle bei der Deutschen Aidshilfe (DAH) seit September 2018 an „ärztliche Praxen, Ambulanzen und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens für wertschätzenden, kultursensiblen und diskriminierungsfreien Umgang mit Menschen mit HIV und LSBTIQ*-Personen und anderen Patient_innen wie Patient_innen mit Migrationshintergrund und/oder Fluchterfahrung“ verliehen wird. Die Idee dazu entstand aufgrund der vielen Berichte über negative Erlebnisse und Diskriminierungen aus diesen Gruppen, die immer wieder an die Aidshilfen herangetragen wurden.

„Wir wollen nach außen tragen, dass jede_r zu uns kommen kann“

Die Ärztin des Charlottenburg-Wilmersdorfer Gesundheitszentrums fühlte sich von der Idee des Gütesiegels sofort angesprochen. Ihr Vorschlag, es zu erwerben, fiel im Haus sehr schnell auf fruchtbaren Boden: „Natürlich dachten wir vorher schon, wir seien offen. Trotzdem waren alle angetan von der Idee, sich weiterzubilden. Man wird ja nicht blöder, wenn man es noch mal professionell angeht. Gesundheitsamt klingt nun wirklich nicht community-nah, also dachten wir, vielleicht ist das auch eine Möglichkeit, besser nach außen zu tragen, dass wir wertschätzend arbeiten und jede_r zu uns kommen kann, mit was auch immer.“

Basis für die Verleihung des Gütesiegels „Praxis Vielfalt“ ist neben einer Selbstverpflichtung ein kostenloses Fortbildungsprogramm, bestehend aus acht unterschiedlichen Lernmodulen, darunter ein E-Learning-Tool, ein Webinar, ein Vor-Ort-Seminar und verschiedene Gruppendiskussionen. Zwölf Arbeitsstunden in einem Zeitraum von bis zu einem halben Jahr für das gesamte Team sind dafür vonnöten.

Dr. Tessa Winkel vom Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung am Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf und jana maria knoop von der Deutschen Aidshilfe (Bild: DAH/Jason Richter)

Susa Freud-Fourure, Sozialarbeiterin im Gesundheitszentrum, fand es großartig, sich im Rahmen dieser Fortbildung „nochmals gemeinsam zu verorten“. Auch Dr. Tessa Winkel fand das Fortbildungsprogramm gut, auch wenn „wir zum Teil von der Vielfalt der Module etwas erschlagen waren. Vielleicht sollte das noch mal nach Berufsgruppen sortiert werden, sodass nicht alle alles machen müssen.“

Die Arbeit am Gütesiegel führte auch gleich zu Veränderungen in der Arbeit und im Haus. Die Mitarbeiter_innen führten Namensschilder inklusive Berufsbezeichnung ein. Ein Stundenplan für Sprachen wurde erstellt und besser plakatiert. Das Zentrum, das in dem alten Gebäude mit vielen anderen Behörden untergebracht ist, führte Unisextoiletten ein, was „sehr, sehr schwer war, baulich umzusetzen“.  Doch dank des Einsatzes von Dr. Tessa Winkel und dem Team des Zentrums, gibt es nun vom Facility Management eine zentrale Unisextoilette fürs ganze Haus. Auch an Kleinigkeiten wurde viel verändert, Formblätter besser gefasst zum Beispiel.

Eine erfreuliche erste Bilanz

Bild: DAH/jana maria knoop

Das Zentrum für sexuelle Gesundheit und Familienplanung ist mit seiner Begeisterung für „Praxis Vielfalt“ nicht allein. Zum Jahresende 2019 kann sich die Bilanz des Projekts, das vom AOK-Bundesverband finanziert wird, durchaus sehen lassen. Nach 15 Monaten Laufzeit verweist jana maria knoop, Koordinatorin von „Praxis Vielfalt“ bei der Deutschen Aidshilfe, auf die sehr erfreuliche Zahl von 30 Einrichtungen, die seit Projektstart im September 2018 an dem Gütesiegel-Programm teilnehmen. Darunter finden sich HIV-Schwerpunktpraxen und Praxen für Allgemeinmedizin, zwei Zahnmedizinpraxen sowie eine Klinik für psychosomatische Kurzzeittherapie – und auch eine Apotheke ist dabei. Zehn Gesundheitseinrichtungen haben den Zertifizierungsprozess bereits abgeschlossen.

Dr. Tessa Winkel will das bunte Siegel von „Praxis Vielfalt“ nun möglichst rasch nicht nur an die Wand des grauen Behördenflurs hängen, sondern auch auf die Webseite packen.

„Wir haben das Thema Vielfalt noch mal ganz anders wertschätzen gelernt“

Zudem hofft sie unter ihrer Klientel auf Mundpropaganda. Anderen Gesundheitsämtern oder Arztpraxen kann sie die Teilnahme am Projekt „Praxis Vielfalt“ nur empfehlen: „Es hat uns Spaß gemacht, und wir haben das Thema Vielfalt in unserer Einrichtung nochmal ganz anders wertschätzen gelernt.“

Das Gütesiegel „Praxis Vielfalt“ wird finanziert vom AOK Bundesverband. Weitere Projektinformationen gibt es unter: https://www.praxis-vielfalt.de/

 

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Über

Dirk Ludigs

Dirk Ludigs arbeitet als freier Journalist u. a. für verschiedene TV-Formate, die deutsche LGBT-Presse und das Reisemagazin "Merian". Zuvor war er Nachrichtenleiter des schwulen Senders TIMM und Chefredakteur verschiedener bundesweiter Magazine ("Front", "Du & Ich").

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