Niedersachsen hatte 2015 als erstes Bundesland den anonymen Krankenschein eingeführt, der Menschen ohne Aufenthaltspapiere eine Gesundheitsversorgung ermöglichte. Nach drei Jahren lief das Modellprojekt einfach aus.

Die kleine, unscheinbare Chipkarte, die beim Ärzt_innenbesuch eingelesen wird, ist keine Selbstverständlichkeit. So gibt es in Deutschland Menschen, die nicht krankenversichert sind – beispielsweise, weil sie über keinen geregelten Aufenthaltsstatus verfügen.

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben sie trotzdem Anspruch auf medizinische Versorgung. Allerdings werden die ärztlichen Honorare über das Sozialamt erstattet, das verpflichtet ist, die Daten an die Ausländerbehörde weiterzugeben. Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden, führt deshalb dazu, dass Menschen nicht oder zu spät zum Arzt / zur Ärztin gehen.

Ohne Angst zu Ärzt_innen

Eine Möglichkeit, die Hürde zu senken, ist der anonyme Krankenschein. Mit ihm können Menschen ohne Papiere ohne Preisgabe ihrer Identität zu Ärzt_innen gehen.

Ende 2015 hatte Niedersachsen als erstes Bundesland ein dreijähriges Modellprojekt dazu gestartet, das jedoch Ende 2018 ausgelaufen ist und nicht verlängert wurde – obwohl die Erfahrungen positiv waren, wie Maren Mylius berichtet. „Menschen, die sonst keine Möglichkeit hatten, medizinische Versorgung zu erhalten, konnten zeitnah ärztliche Hilfe bekommen“, sagt die Ärztin, Gesundheitswissenschaftlerin und Epidemiologin, die ehrenamtlich die Vergabestelle des anonymen Krankenscheins in Hannover betreut hatte.

Betrieben wurden die Hannoveraner und die Göttinger Vergabestelle vom Verein Gesundheitsversorgung für Papierlose, einem Zusammenschluss der örtlichen Medinetze. Diese Nichtregierungsorganisationen, die manchmal auch MediBüros heißen und auch in vielen anderen Städten in Deutschland zu finden sind, engagieren sich auf ehrenamtlicher Basis für die Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere.

„Die meisten Menschen kamen aufgrund eines akuten Krankheitszustandes“

In den niedersächsischen Vergabestellen bekamen Geflüchtete mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, die akute gesundheitliche Beschwerden hatten, einen Schein, mit dem sie zu Ärzt_innen ihrer Wahl gehen konnten. Finanziert wurde das Projekt vom Land Niedersachsen. Abgerechnet wurde über einen vom Sozialministerium eingerichteten Fonds. 500.000 Euro standen pro Jahr zur Verfügung – für die ärztlichen Honorare, die Kosten für Laboruntersuchungen und Computertomografien, Operationen und Medikamente sowie die Verwaltung des Projekts.

Die Zahl der Menschen, die die Vergabestellen aufsuchten, sei kontinuierlich gestiegen, berichtet Maren Mylius. „Die meisten Menschen kamen aufgrund eines akuten Krankheitszustandes, zum Beispiel wegen Atemnot, Fieber, Gelenkschwellungen oder starken Bauchschmerzen.“ Auch vielen Schwangeren habe der anonyme Krankenschein geholfen, weil sie darüber Vorsorgeuntersuchungen haben in Anspruch nehmen können.

„Bei chronischen Erkrankungen ist die Gesetzeslage unklar“

Die Leistungen über den anonymen Krankenschein richten sich nach den Vorgaben des Asylbewerberleistungsgesetzes. Laut Paragraf 4 hat man Anspruch auf Behandlung bei akuten Krankheiten und Schmerzzuständen sowie auf Untersuchungen und Behandlungen rund um Schwangerschaft und Geburt. Auch einige Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen werden übernommen.

„Ein großes Problem sind jedoch chronische Erkrankungen, wenn sie nicht mit einem akuten Erkrankungs- und Schmerzzustand einhergehen“, sagt Maren Mylius. In solchen Fällen sei die Gesetzeslage unklar. In dem niedersächsischen Modellprojekt sei aber letztlich die Einschätzung des Arztes oder der Ärztin ausschlaggebend gewesen. In Zweifelsfällen habe ein Beirat entschieden.

Auch Menschen mit HIV nutzten das Angebot in Göttingen und Hannover. Da die Betroffenen mit Schmerzen oder Erkrankungen gekommen seien, habe es keinen Zweifel darüber gegeben, ob sie einen Krankenschein bekommen. „Für einige Monate konnte in diesen Fällen eine Medikation finanziert werden“, erzählt Mylius.

Überraschendes Ende

Der Verein war davon ausgegangen, das Modellprojekt werde fortgeführt, berichtet sie. „Es war für uns eine große Überraschung, dass es nicht weiterläuft. Denn das, was der Landtag beschlossen hat, wurde erreicht – nämlich: einen niedrigschwelligen Zugang zu schaffen.“

Allerdings hatten sich in der Laufzeit des Projekts die politischen Machtverhältnisse geändert. Die rot-grüne Regierungskoalition im niedersächsischen Landtag, unter der der anonyme Krankenschein eingeführt worden war, wurde von einer rot-schwarzen abgelöst.

„Die Situation ist wieder so, als hätte es das Modellprojekt nie gegeben“

Derzeit hieße es, die Gesamtbewertung des Modellprojekts müsse abgewartet werden, sagt Maren Mylius. In der Zwischenzeit aber hätten die Betroffenen keine Anlaufstelle. „Sie werden alleingelassen. Die Situation ist wieder so, als hätte es das Modellprojekt nie gegeben. Das ist für alle Seiten schwer verständlich.“ Hilfebedürftige seien wieder auf ehrenamtliche Angebote angewiesen.

Thüringen übernimmt niedersächsisches Modell

Während der anonyme Krankenschein in Niedersachsen wieder auf Eis liegt, wurde er in Thüringen eingeführt. Seit Anfang 2017 können dort nicht nur Geflüchtete mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, sondern auch unversicherte EU-Bürger_innen und Deutsche einen anonymen Krankenschein bekommen.

Die Patient_innen wenden sich entweder an die zentrale Versorgungs- und Vermittlungsstelle in Jena oder an „Vertrauensärzt_innen“, die in fast allen Thüringer Landkreisen vertreten sind. Dort wird der anonyme Krankenschein ausgestellt, mit dem sie dann Ärzt_innen ihrer Wahl aufsuchen können.

Wie in Niedersachsen ist das Thüringer Modellprojekt aus den Erfahrungen und dem hartnäckigen Kampf von Aktivist_innen hervorgegangen; es wird vom gemeinnützigen Verein „Anonymer Krankenschein in Thüringen“ durchgeführt und von der Thüringer Landesregierung gefördert. Wie das niedersächsische Projekt ist es zunächst auf drei Jahre ausgelegt.

Clearingstellen ermöglichen Integration ins Regelsystem

Neben dem anonymen Krankenschein sind Clearingstellen ein weiteres Modell, um Menschen zu helfen, die nur einen sehr eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben oder faktisch davon ausgeschlossen sind.

Wenden sich Betroffene an diese Einrichtungen, wird zunächst geklärt, ob eine Vermittlung in das reguläre Gesundheitssystem möglich ist. Ist das nicht der Fall, kommt ein Notfallfonds zum Tragen, über den gegebenenfalls notwendige medizinische Behandlungen finanziert werden können.

Im Falle der Clearingstellen kooperieren der Öffentliche Gesundheitsdienst und freie Träger. Sie dürfen die Daten der Klient_innen nicht weitergeben, sodass auch Menschen ohne Papiere keine Meldung an öffentliche Stellen fürchten müssen. Der Leistungsumfang bezieht sich in der Regel auf das Asylbewerberleistungsgesetz.

„Work in progress“-Zustand beim Berliner Krankenschein

In Berlin hatte die rot-rot-grüne Regierung die Einführung eines anonymen Krankenscheins im Koalitionsvertrag vereinbart. Seit Herbst 2018 können sich Betroffene in einer Clearingstelle, die an die Berliner Stadtmission angegliedert ist, beraten lassen. Seit Anfang Juni 2019 gibt die Stelle auch Behandlungsscheine aus.

„Wir sind dabei, die ersten Erfahrungen zu sammeln“, erzählt Jessica Groß vom Medibüro Berlin, dessen ehrenamtliche Mitarbeiter_innen Betroffenen die Clearingstelle empfehlen oder sie dorthin begleiten. Bisher sei dort aber noch vieles „Work in progress“. „Eigentlich ist uns versichert worden, dass es bei Situationen mit dringlicherem Behandlungsbedarf sofort eine Kostenübernahme geben wird. Den Eindruck haben wir noch nicht so ganz“, sagt die Ärztin. Mit dem Behandlungsschein können Betroffene zu ausgewählten Ärzt_innen gehen. Doch gebe es ihrer Einschätzung nach noch nicht genügend Mediziner_innen, die über die Clearingstelle vermittelte Behandlungen anbieten.

Bei dem sogenannten Clearing wird der aufenthaltsrechtliche und sozialrechtliche Status der Klient_innen geklärt. „Das dauert seine Zeit. Das liegt in der Natur der Sache“, sagt Jessica Groß. Im Rahmen eines Asylantrags könne eine Gesundheitsversorgung ermöglicht werden, führt sie fort. Allerdings sei wichtig, dass man beim Clearing ergebnisoffen bleibe. Es müsse auch die Möglichkeit geben, dass sich Klient_innen gegen einen Asylantrag entschieden. Für Menschen mit einer geringen Chance auf ein Bleiberecht sei es schließlich ein Risiko, persönliche Daten an die Ausländerbehörde zu geben. Das Medibüro fordert daher, dass auch unabhängig von der Entscheidung des_r Klient_in eine medizinische Behandlung ermöglicht werde.

Seit 2012 hat Hamburg eine Clearingstelle

Clearingstellen gibt es auch in anderen Städten: in Nordrhein-Westfalen beispielsweise in Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Köln und Münster. In Hamburg wurde eine solche Stelle zur medizinischen Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltstitel bereits 2012 ins Leben gerufen. Seit 2015 wird außerdem an verschiedenen medizinischen Anlaufstellen eine mobile Beratung angeboten. Die Stadt stellt pro Jahr 250.000 Euro für medizinische Behandlungen und Rezeptkosten zur Verfügung.

Falls Klient_innen nicht ins Regelversorgungssystem integriert werden können, verweisen die Mitarbeiter_innen an Ärzt_innen, deren Behandlungskosten aus dem Notfallfonds honoriert werden.

Andrea Niethammer, Koordinatorin der am Hamburger Flüchtlingszentrum angesiedelten Clearingstelle, kann allerdings nicht einschätzen, ob die Betroffenen schnell genug einen Behandlungstermin bekämen. Manchmal gehe das ganz schnell, manchmal dauere es länger, sagt sie. Engpässe bei Fachärzt_innen gebe es schließlich auch in der Regelversorgung.

1.600 Beratungsgespräche mit 460 Klient_innen

Von Jahr zu Jahr stiegen die Zahlen der Menschen, die bei der Hamburger Clearingstelle Hilfe suchten, so Andrea Niethammer weiter. 2017 habe man rund 1.600 Beratungsgespräche mit 460 Klient_innen geführt. Wie in Niedersachsen kämen auch in Hamburg viele, um Untersuchungen im Rahmen einer Schwangerschaft in Anspruch zu nehmen. Die meisten gesundheitlichen Probleme könne man über den Notfallfonds abrechnen. Vereinzelte Ausnahmen gebe es beispielsweise bei Zahnersatz.

„Clearingstellen sind ein Schritt in die richtige Richtung“

„Clearingstellen sind ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Jessica Groß vom MediBüro Berlin. Wichtig sei, dass die Behandlung von Menschen ohne Papiere nicht durch ein Fondsmodell gedeckelt werde. „Wir haben von Anfang an eine Abrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung angestrebt“, erklärt sie. Außerdem plädiert das Berliner Medibüro für eine freie Ärzt_innenwahl. Die beste Lösung wäre, „dass es einen echten anonymen Krankenschein gäbe, der es den Menschen erlauben würde, in jedes Krankenhaus und in jede Praxis zu gehen“.

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Inga Dreyer

Inga Dreyer ist freie Journalistin in Berlin und schreibt über Kultur, Politik und soziale Themen.

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