„Es sagt sich eben so leicht: ,Dann hör doch auf, das Zeug zu nehmen‘“
Es war ein Februarsonntag, als er in meiner Küche saß. Bertram sagte nur: „Mama, ich häng’ jetzt auch an der Nadel.“ In diesem Moment bin ich ins Bodenlose gefallen.
Wir alle wussten ja, was das bedeutet. Mein Neffe war nur ein Jahr älter als er und schon eine Weile schwer abhängig. „Du siehst doch, was aus Rudolf geworden ist“, hab’ ich zu ihm gesagt. Aber Bertram glaubte damals tatsächlich, es in den Griff zu kriegen. Rudolf ist 2013 an den Folgen seiner Sucht gestorben, und mein Sohn Bertram nun an diesem 15. Februar.
„Allein kämpft man auf verlorenem Posten“
Zunächst war da nur diese völlige Hilflosigkeit. Die typischen Schuldgefühle, das kam bei mir erst viel später. Allein, das war mir schnell klar, kämpft man auf verlorenem Posten. Meine Schwägerin hat mich damals zum Elternkreis nach Ravensburg mitgenommen.
Ich habe dann auch bald einen eigenen Kreis in Leutkirch ins Leben gerufen. Einfach schön zu wissen, dass es da Menschen gibt, mit denen ich reden kann; die genau verstehen, wie es einem geht, wenn man einfach nicht mehr weiterweiß – das allein war schon eine enorme Hilfe und innerliche Stütze.
Damals dachte ich noch, dass ich Bertram tatsächlich dabei helfen kann, die Sucht zu überwinden. Es hat lange gedauert, bis ich gelernt hatte, dass ich ihm lediglich eine helfende Hand reichen kann. Bis dahin musste ich erst noch durch einige Täler hindurch. Ich habe ihm immer wieder versichert, dass er mein Sohn bleibt und dass ich hinter ihm stehen werde – egal, was passiert. Das war mir immer wichtig, und das wusste er auch.
Er hat eine Therapie ganz durchgestanden und mehrere abgebrochen. Er konnte dann sogar in Leutkirch substituiert werden. Endlich kam Struktur und Ruhe in sein Leben. Das gab uns allen Hoffnung. Aber er kam mit der Ärztin nicht klar und ist dann wegen seines Beikonsums wieder aus der Behandlung rausgeflogen. Und wieder saß er wie ein Häuflein Elend bei mir am Küchentisch und wusste nicht mehr weiter.
„Endlich kam Struktur und Ruhe in sein Leben“
Die nächstgelegene Substitutionspraxis ist in Ravensburg, über 200 Patient_innen werden dort behandelt. Doch ohne eigenes Auto ist man wegen der schlechten Nahverkehrsanbindung Stunden dorthin unterwegs. Als dann die Möglichkeiten des Hausarztmodells geschaffen wurden, hat Bertram unseren Hausarzt gefragt, ob er ihn behandeln würde. Doch er lehnte ab.
Bertrams Sucht war ein ständiges Auf und Ab. Er wollte davon loskommen, aber er ist immer wieder an sich selbst gescheitert. Weil er über so wenig Selbstwertgefühl verfügte, fiel es ihm schwer, Hilfe anzunehmen. Stattdessen glaubte er, sich selber herunterdosieren zu können – auch auf die Gefahr hin, instabil zu werden und einen noch größeren Rückfall zu erleben.
Vor etwa zwei Jahren hatte er begonnen, sich Kokain in die Halsschlagader zu spritzen. Als ich ihn damals sah, abgemagert wie der leibhaftige Tod, wurde mir klar, wohin sein Weg nun geht. Ich hatte lange die Hoffnung, dass es bei ihm – wie bei vielen anderen – mit 40 noch einmal einen kräftigen Schub in der Persönlichkeitsentwicklung gibt und er etwas zur Ruhe kommt.
„Meine Trauerzeit habe ich schon zu Bertrams Lebzeiten durchgemacht“
Stattdessen aber dann dieser exzessive Kokainkonsum. Es hört sich vielleicht seltsam an, aber ab diesem Zeitpunkt habe ich begonnen, um ihn zu trauern, und so meine Trauerzeit schon zu Bertrams Lebzeiten durchgemacht.
Es gab zum Glück immer wieder Ärzte, die ihm zumindest helfen konnten, dass sich seine Situation nicht verschärfte. Der Arzt, bei dem er zuletzt in Behandlung war, hat sich intensiv mit Bertram ausgetauscht und auf Augenhöhe mit ihm geredet. So etwas ist leider nicht selbstverständlich und es hat Bertram sichtlich sehr gutgetan.
Dieser Arzt hatte ihm dann auch die Fentanylpflaster verschrieben. Sie wurden ihm zunächst in der Praxis aufgeklebt. Erst als der Arzt Bertram soweit vertraute, dass er verantwortungsvoll damit umgeht, bekam er sie mit nach Hause. Ich gebe dem Arzt keine Schuld. Ich bin mir sicher, dass Bertram keinen Suizid begangen hat. Und er hätte sicherlich einen anderen Weg gefunden, um sich irgendwas zu beschaffen.
Problematisch war wohl, dass er kurz davor offenbar ein Kombi-Präparat mit Schmerzmitteln abgesetzt hatte, weil er wieder mal glaubte, reduzieren zu müssen. Als Ausgleich aber hat er zusätzlich Fentanylpflaster ausgekaut. Ich war gerade vom Elternkreistreffen aus Stuttgart zurück, als Bertrams Freundin mich anrief: „Der Notarzt ist wieder da. Er reanimiert“. Eine Viertelstunde später rief sie wieder an und sagte nur: „Bertram ist tot“.
Ich war in dem Moment so leer und wusste gar nicht, was ich denken sollte. Als dann mein Mann nach Hause kam, hat er mich zu Bertrams Wohnung gefahren. Die Polizei und der Notarzt waren da noch vor Ort. Es hatte in den Wochen davor schon Notarzteinsätze gegeben, einmal hatten sie es gerade noch mal geschafft, ihn zurückzuholen.
Als wir Bertram endlich sehen durften, lag er schon in diesem schwarzen Leichensack, nur der Kopf lag frei. Ich habe ihn dann gesegnet und ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Im Sarg habe ich ihn mir nicht mehr angeschaut.
In den Tagen und Wochen nach Bertrams Tod habe ich mich in Aktionismus retten können. Es gab zum Glück viel zu erledigen. Ich habe zum Beispiel die Texte für die Traueranzeigen und Sterbebilder selbst geschrieben. Das war mir ungeheuer wichtig und mein Weg, ihm Lebwohl zu sagen. Für viele war es ungewöhnlich, dass ich so gefasst war und selbst am Grab Haltung bewahren konnte. Aber ich hatte meine Tränen alle schon in den Jahren davor geweint. Erst langsam bin ich wieder soweit, dass ich Emotionen nicht nur in Worte fassen, sondern sie auch zulassen, spüren und erleben kann. Seit diesem Februar ist jeder 15. eines Monats ein Tag, an dem ich diese Stunden noch einmal durchlebe.
„Bertram ist zwar nicht mehr da, aber das Problem ist deshalb nicht aus der Welt“
Bertram ist zwar nicht mehr da, aber das Problem ist deshalb nicht aus der Welt. Deshalb werde ich auch weiter den Elternkreis in Leutkirch leiten. Er war gegenüber dem, was ich mache, sehr aufgeschlossen. Ich hatte sogar das Gefühl, dass er auf gewisse Weise stolz darauf war, dass mich seine Sucht dazu gebracht hat, anderen einen Weg aufzuzeigen, damit fertig zu werden.
Wenn er unterwegs Jugendliche gesehen hat und ahnte, was läuft, dann ist er zu ihnen hin, hat sich vorgestellt und gesagt: „Guckt mich an. Ich habe so viel Scheiße in meinem Leben erlebt. Macht nicht den gleichen Fehler. Und wenn eure Eltern Probleme haben, weil ihr was nehmt, dann schickt sie zu meiner Mutter, die hat einen Elternkreis.“
Es wurden wahrscheinlich noch nie so viel Drogen konsumiert wie heute. Wenn ich im Elternkreis höre, wie sich deren Kinder, viele noch nicht einmal volljährig, mit allem zudröhnen, was sie erwischen – und ich meine damit nicht nur Cannabis und NPS, also die sogenannten Designerdrogen –, dann lässt mich das verzweifeln.
Es wird konsumiert auf Teufel-komm-raus, und alle machen die Augen zu. Und doch sind wir Eltern von Drogen konsumierenden Kindern Paradiesvögel in der Selbsthilfegruppen-Landschaft. Die Gesellschaft muss endlich kapieren, dass dies ein allgemeines Problem ist, und nicht ein Problem von Eltern, die irgendetwas falsch gemacht haben. Das alles macht mich so zornig, aber es treibt mich auch weiter an. Was wir brauchen, ist eine regulierte Abgabe an Volljährige und ausreichend Geld für intensive Prävention und Aufklärung.
„Verbote bringen nichts, das müssten doch mittlerweile alle gelernt haben“
Die Verbote bringen nichts, das müssten doch mittlerweile alle gelernt haben. Außerdem muss die Substitution weiter vorangebracht werden.
Für mich war ein Schlüsselerlebnis die Begegnung mit dem Stuttgarter Suchtmediziner Dr. Albrecht Ulmer. Ich hatte ja erlebt, wie Bertram bei mir heulend am Küchentisch saß, weil es mit der Therapie einfach nicht funktionierte. Mir wurde klar, dass sich in der Substitutionstherapie etwas verändern muss. Dass sie menschlicher werden und auf Augenhöhe mit den Patient_innen geschehen muss.
Es hat mir auch sehr geholfen, mit Leuten von JES zu sprechen, deren Magazin „Drogenkurier“ zu lesen und damit eine ganz andere, nämlich drogenakzeptierende Sichtweise auf die Sache zu erhalten. Wir hatten in unserem Elternkreis ja lange Zeit ganz auf Abstinenz abgezielt. Es sagt sich eben so leicht: „Dann hör doch auf, das Zeug zu nehmen“. Ich hatte ja auch diese Denkweise.
Aber wir haben einfach nicht bedacht, dass unsere drogenabhängigen Kinder das vielleicht gar nicht können oder wollen.
Wie oft habe ich mich für Bertram geschämt und gedacht: „Wie der wieder rumläuft! Man kann sich mit ihm ja nicht mehr zeigen“. Wenn Familienfeste anstanden, habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich ihn überhaupt einladen kann. Dann die Angst: Hat er schon was eingeworfen? Wie wird er sich verhalten?
Dann die Blicke der anderen Familienmitglieder zu beobachten; zu sehen, dass er innerhalb der Familie abgelehnt wird, weil er es manchmal übertrieben und sich ungebührlich verhalten hat – das hat mich manchmal fast zerrissen. Und es tut mir heute noch im Herzen weh, dass ich damals so gedacht habe.
Wir haben nicht das Recht dazu, unsere Kinder zu verdammen, weil sie anders sind. Es sind und bleiben unsere Kinder. Aber wir können lernen, damit zu leben. Ganz unberührt wird uns das nie lassen. Aber wir müssen begreifen, dass wir irgendwann die Kinder ihren Weg gehen lassen müssen und dass wir daran nicht zugrunde gehen.
(aufgezeichnet von Axel Schock)
Weitere Artikel zum Thema:
Was muss passieren, damit es Menschen, die Drogen gebrauchen, viel besser geht?
Diesen Beitrag teilen
1 Kommentare
Madhu 15. Juli 2020 15:50
Thanks for the post!!!