Pionierin der Sexberatung

„1 Meter 40 konzentrierter Sex“

Von Axel Schock
Foto: © Filmwelt Verleihagentur
Seit vier Jahrzehnten liefert Ruth Westheimer als Therapeutin eine One-Woman-Show in Sachen Sexaufklärung: Mit Humor, Empathie und Unbefangenheit hat sie Menschen zu einem offeneren Umgang mit Sexualität verholfen, aber auch Einstellungen zu Aids, Homosexualität, Abtreibung und Frauenrechten verändert. Die ungemein unterhaltsame Kinodokumentation „Fragen Sie Dr. Ruth“ porträtiert nun diese außergewöhnliche Frau und ihr beeindruckendes Leben.

Pierre Lehu hält durch. Seit fast 40 Jahren ist er bereits Ruth Westheimers Assistent und eigentlich hatte er schon vor Jahren in Rente gehen wollen. Doch Dr. Ruth, wie die Sexualtherapeutin von allen genannt wird, macht keine Anstalten sich zur Ruhe zu setzen. Der Terminkalender, den Lehu für sie organisiert, ist so voll wie eh und je.

Die mittlerweile über 90-Jährige hält weiterhin Vorlesungen an Universitäten, gibt Interviews, sitzt in Talkshows und hetzt mit schnellem Schritt von Termin zu Termin. Ruth Westheimer hat seit Beginn ihrer Karriere für ordentlich frischen Wind in Sachen Sexaufklärung gesorgt. Anfang der Achtzigerjahre war sie für eine Familienberatung tätig und eher zufällig als Expertin in eine Radiotalkshow geraten – und fand dort ihre Bestimmung. Oder kreierte besser gesagt ein ganz neues Berufsbild: das der Sexberaterin für die Massen – mit vielen Hundert eigenen TV-Sendungen und mehreren Dutzend, in viele Sprachen übersetzten Ratgeber-Büchern.

„1 Meter 40 konzentrierter Sex“ lautet ihre prägnante Selbstbeschreibung in Talkshows. Ihr starker deutscher Akzent und ihr keckes Lachen machen sie allen Menschen sofort sympathisch, ihre kleine Statur und herzerwärmende Empathie erinnert an den Typ „Liebevolle Großmutter“. Sie ist authentisch, anteilnehmend und spontan. Ihr wissenschaftlicher Hintergrund wiederum unterstreicht die Kompetenz und fachliche Autorität der promovierten Psychologin und Soziologin.

Über Sex wurde kaum geredet – und wenn, dann verschämt

All das hat Ruth Westheimer zu einer Kultfigur und einem Teil der US-Popkultur werden lassen. Dass und wie sie die Menschen tatsächlich erreicht und damit nachhaltig das Verständnis von Sexualität verändert hat, versteht man bereits nach wenigen Minuten der Dokumentation „Fragen Sie Dr. Ruth“. Der Film von Regisseur Ryan White („The Case Against 8“) kommt nun erfreulicherweise auch hierzulande in die Kinos.

Ob im Gespräch mit Freund_innen und Familienmitgliedern, in Interviewsituationen oder in ihren vielen Hundert Fernseh- und Radiosendungen: Überall beweist Ruth Westheimer entwaffnenden Charme, kraftvolle Präsenz, unbändige Energie und sprühenden Witz, und das alles überträgt sich unmittelbar von der Leinwand auf die Zuschauer_innen. Vor allem war und ist dies die Grundlage für ihren Erfolg als wohl erste Radio- und TV-Sexberaterin.

Filmemacher Ryan White hat dazu viele sehr prägnante Situationen aus ihrer langen Laufbahn ausgewählt. Über Sex wurde auch in den USA der Achtzigerjahre kaum geredet, und wenn, dann völlig verschämt. Dann aber kam Ruth Westheimer. Sie redete nicht nur vor laufender Kamera frank und frei über alle Aspekte der Sexualität.

Scham hat in der Sexualität nichts verloren

Allein, dass sie als Gast in Late-Night-Shows die Moderatoren auch mal schelmisch dazu animierte, Wörter wie Vagina oder Klitoris einfach mal auszusprechen oder dass sie den weiblichen Orgasmus überhaupt zum Thema machte, rührte an Tabus. Ruth Westheimer wollte etwas bewirken. Und gerade deshalb gab sie sich betont unpolitisch. Was aber nicht bedeutet, dass sie keine Haltung hat. „Ich mache keine Politik, aber bei vielen Themen habe ich nie Kompromisse gemacht“, sagt sie bei einer Anhörung zum Recht auf Abtreibung.

Sie fordert Frauen dazu auf, sich der eigenen sexuellen Bedürfnisse bewusst zu werden und sie dem Partner gegenüber auch zu verbalisieren. Und immer wieder hämmert sie ihrem Publikum ein: „There ist no such thing as normal“ – So etwas wie „normal“ gibt es in der Sexualität nicht. Folgerichtig ist Homosexualität nicht unnormal – und Homosexuellenfeindlichkeit nicht zu tolerieren.

„Respekt ist nicht verhandelbar“

„Respekt ist nicht verhandelbar“ ist einer jener Grundsätze, die Westheimer in einer der Talkshow-Ausschnitte ausnahmsweise mit sehr ernstem Ton ihrem Publikum mit auf den Weg gibt. Weil die Menschen ihr vertrauten, konnte Ruth Westheimer beispielsweise die öffentliche Wahrnehmung zu HIV und Aids in einer breiten Bevölkerung tatsächlich verändern.

Als ein Moderator in einer TV-Show Aids als Problem der Homosexuellen und Drogenabhängigen bezeichnet, lässt sich Westheimer auf diese Diskussion gar nicht erst ein, sondern kontert forsch und unmissverständlich: „Ich verschwende meine Zeit nicht, um die eine oder andere Gruppe zu beschuldigen. Klären wir auf und finden ein Heilmittel.“

Ryan Whites Film dokumentiert nicht nur den internationalen Erfolg von Ruth Westheimer, sondern erzählt auch ihre bewegte Lebensgeschichte. Ob es notwendig war, die Kindheitserinnerung mit animierten Sequenzen zu illustrieren und nicht allein auf Westheimers Erzählstimme zu vertrauen, sei einmal dahingestellt. Unbestritten aber ist, wie wichtig es ist, auch das Leben Westheimers vor ihrer Übersiedlung in die USA 1958 zu erzählen.

Aufgewachsen ist sie als Karola Ruth Siegel in einer jüdisch-orthodoxen Familie in der Nähe von Frankfurt am Main. Als Zehnjährige gelangt sie 1939 mit einem Kindertransport in ein Schweizer Kinderheim, überlebt dort den Holocaust und wandert nach Palästina aus.

Dass sie sich dort zur Scharfschützin ausbilden lässt und in der zionistischen Untergrundorganisation im Palästinakrieg kämpft, hätte man der kleinen, zierlichen Frau dann doch nicht zugetraut. Gemeinsam mit dem Filmteam besucht sie in Israel die Gedenkstätte Yad Vashem und lässt in der Datenbank nach ihren Eltern suchen, die den Holocaust nicht überlebt haben.

„Deutsche Juden weinen nicht in der Öffentlichkeit, das machen wir zu Hause“

„Verschollen“ ist bei ihrer Mutter vermerkt, der Vater wurde in Auschwitz ermordet. Ruth Westheimer ist sichtlich bewegt, aber sie kontrolliert ihre Gefühle und sagt lediglich: „Deutsche Juden weinen nicht in der Öffentlichkeit, das machen wir zu Hause.“

Es sind sehr berührende Momente in dieser sonst so heiteren, ja ausgelassenen Dokumentation, mit der sich vielleicht auch Ruth Westheimers Umtriebigkeit erklären lässt: Rastlosigkeit als eine Art Schutzschirm, um sich nicht zu sehr mit den traumatischen Kindheitserlebnissen, den Jahren der Ungewissheit im Schweizer Kinderheim und dem Verlust der Familie auseinandersetzen zu müssen. Selbst mit ihren eigenen Kindern und Enkeln hat Ruth Westheimer wenig und erst sehr spät darüber gesprochen.


„Fragen Sie Dr. Ruth“. Regie: Ryan White. USA 2019. 100 Min. OmU. Kinostart in Deutschland: 27. August.

 

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