Am 29. September 2020 verstarb Timothy Ray Brown, der erste von HIV geheilte Mensch, an Leukämie. Kurz vorher hatte der HIV/Aids-Aktivist und Blogger Mark S. King mit ihm und seinem Mann Tim gesprochen. Herzlichen Dank, dass wir dieses berührende Porträt veröffentlichen dürfen.

Von Mark S. King*

PALM SPRINGS – Tim Hoeffgen recherchiert kurz auf Google, als er auf dem Weg zu seinem Scruff-Date ist. Es ist Anfang 2013. Tim lebt in Nevada, und der Typ, mit dem er über die Dating-App gechattet hat, sieht dem Mann, der in dieser Woche auf der Titelseite des LGBTQ-Magazins in Las Vegas zu sehen war, sehr ähnlich…

„Ich war sofort von Timothys Persönlichkeit bezaubert“

Als sich die Tür öffnet, sieht Tim, dass er richtig liegt: Es ist Timothy Ray Brown, der erste Mann in der Geschichte, der von HIV geheilt wurde, und der weltweit Wissenschaft und Öffentlichkeit fasziniert.

„Ich war sofort von seiner Persönlichkeit bezaubert“, erzählt Tim in einem Telefonat aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Palm Springs, „Timothy ist unheimlich liebenswert.“ Seit diesem Tag sind die beiden Männer, Tim und Timothy, zusammen.

Der „Berliner Patient“ war ein historischer HIV-Meilenstein

Timothy Ray Brown ist äußerst schüchtern – und strahlt Wärme, Bescheidenheit und Dankbarkeit für die virale Wende seines Schicksals aus. Er ist im wahrsten Sinn ein historischer HIV-Meilenstein und eine wichtige Figur für die Community, seit er sich 2010 als „Berliner Patient“ zu erkennen gab.

Die grauenhaften Details von Timothys medizinischer Odyssee als Mensch mit Krebs und HIV sind kompliziert. Vereinfachend könnte man sagen, dass 2008 – Timothy lebte damals in Berlin – ein genialer Onkologe Timothys Leukämie mit einer Stammzelltransplantation von einem Menschen behandelte, der genetisch gegen eine HIV-Infektion resistent ist. Als alles geschafft war, zeigte sich: In Timothys Blut konnte kein HIV mehr nachgewiesen werden.

Diesen wissenschaftlichen Durchbruch, über den erstmals auf der Internationalen Aids-Konferenz 2008 berichtet wurde, feierte man weltweit.

Es zeigte sich aber auch: Die Behandlung hätte Timothy beinahe umgebracht und wurde bisher genau einmal erfolgreich wiederholt. Dennoch hat sie wichtige Erkenntnisse über mögliche Wege der HIV-Heilungsforschung geliefert.

Rapider Verfall durch die Leukämie

Aber das ist Jahre her, und Timothys traumatisierter Körper war nie wieder derselbe. In den letzten sechs Monaten ging es rapide bergab mit seiner Gesundheit, nachdem die Leukämie wieder aufgetreten und in seine Wirbelsäule sowie sein Gehirn eingedrungen war.

Seine HIV-Heilung hätte Timothy Ray Brown beinahe umgebracht

Sein Partner Tim, das Scruff-Date aus Nevada, ist dabei die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen. Das ist keine Übertreibung: Nachdem Timothy im April ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lebte Tim sieben Wochen lang mit ihm in seinem Krankenzimmer. Aufgrund der COVID-19-Beschränkungen konnte keiner von ihnen das Klinikgelände verlassen. „Es war ein Segen, mit ihm dort zusammen zu sein“, erzählt Tim mir, „aber gleichzeitig auch hart. Zu Hause ist es einfach viel, viel besser.“

In der Einzimmerwohnung, die Tim und Timothy sich teilen, steht ein Krankenhausbett. Timothy ist bettlägerig und wird zu Hause von einem Hospizdienst betreut. Tim teilt sich seine Zeit zwischen der Pflege von Timothy und Telefonaten mit besorgten Freund_innen sowie mit Forscher_innen auf, denen Timothy im Laufe der Jahre großzügig eine Blut- und Gewebeprobe nach der anderen zur Verfügung gestellt hat.

„Timothy stirbt nicht an HIV, um das gleich klarzustellen“, sagt Tim. „HIV wurde seit seiner Heilung nicht mehr in seinem Blut nachgewiesen. Das Virus ist verschwunden. Das hier kommt von der Leukämie. Gott, wie ich Krebs hasse.“

Tim telefoniert mit mir quasi an Timothys Krankenhausbett; er klingt erschöpft und hat sich mit dem abgefunden, was jetzt kommen wird.

„Am schwersten war es, mit anzusehen, wie es mit Timothy bergab ging“, sagt Tim und bricht plötzlich in Tränen aus – jene Tränen, die ohne Vorwarnung kommen, obwohl der erwartete Tod eines geliebten Menschen noch gar nicht eingetreten ist. „Timothy ist ein Mensch, den man einfach lieben muss. Er ist so süß. Die Krebstherapie war hart – manchmal frage ich mich, ob sie nicht schlimmer war als die Krankheit selbst.“

Timothy Ray Brown verkörperte die kollektive Hoffnung auf HIV-Heilung

Viele meiner Freund_innen, die ich durch die Folgen von Aids verloren habe, würden ihm da sicher zustimmen. „Ob du es glaubst oder nicht“, sagt Tim, „es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden verlieren werde …“ – und er ringt erneut um Fassung.

Tim und ich wissen beide, dass sein Partner, ans Bett gefesselt und von medizinischen Geräten umgeben, eine beunruhigende Ähnlichkeit mit einem Menschen hat, der an den Folgen von Aids verstirbt – als ob ein rachsüchtiges Schicksal den Aids-Patienten hole, der ihm einst entkommen war.

„Timothy ist ein Mensch, den man einfach lieben muss“

Timothy hat im Laufe der Jahre ohne zu murren zahllose Medien-Anfragen beantwortet und Einladungen angenommen, und obwohl es ihm eigentlich widerstrebt, ist er zu einer wichtigen Figur auf dem HIV/Aids-Feld geworden. Er verkörpert gewissermaßen die kollektive Hoffnung auf eine anwendbare HIV/Aids-Heilung.

Auf Konferenzen und Community-Veranstaltungen werden Menschen mit HIV magisch von Timothy hingezogen, wollen ihn umarmen und ihm dafür danken, dass er diesen körperlich so anstrengenden Weg gegangen ist. Er ist eine Projektion unserer Sehnsucht nach neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und ein Gradmesser dafür, wie weit wir schon gekommen sind.

Tim hat in dieser ganzen Zeit liebevoll über Timothy gewacht – und bei Bedarf eingegriffen, damit Timothy nicht von den ganzen Anfragen überspielt wird. Er war Pressesprecher und manchmal auch „bad cop“, um Timothy zu beschützen.

Ich frage Tim, ob sein Mann weiß, dass er im Sterben liegt. „Ja, das weiß er“, sagt Tim. „Aber manchmal weiß er es auch nicht. Es kommt darauf an. Aber ich habe ihn gefragt, was ich den Leuten sagen soll, wenn wir seine Lage öffentlich machen. Und er hat geantwortet: ‚Sag den Leuten, sie sollen weiterkämpfen. Setzt euch für eine HIV-Heilung ein, die bei allen funktioniert. Ich wollte nie der Einzige sein.‘“

„Ich werde weiterkämpfen, bis ich nicht mehr kämpfen kann“

Tim Hoeffgen wird bald Teil einer exklusiven Gruppe sein: der Gruppe der zurückgebliebenen Partner_innen von Menschen, die einen besonderen Platz in der Geschichte einnehmen. Er wird wahrscheinlich für den Rest seines Lebens als Witwer von Timothy Ray Brown bekannt sein. „Das wäre mir eine Ehre“, sagt Tim. „Ich liebe ihn so sehr und werde seine Botschaft und sein Vermächtnis mit Freuden bewahren und weitergeben.“

Unser Telefonat neigt sich dem Ende zu, ich weiß, dass Tim sich wieder um Timothy kümmern muss. Als ich gerade unser Gespräch beenden will, höre ich plötzlich Timothys Stimme in der Leitung.

„Hallo Mark“, sagt er, „ich hoffe, es geht dir gut.“ Ich bejahe und überlege, ob ich ihm für alles danken soll, was er getan hat, als eine Art Abschied, aber das fühlt sich zu aufdringlich an. Stattdessen sage ich ihm, er solle so lange kämpfen, wie er will – mit anderen Worten: nicht länger, als er will.

„Timothy sagte: Setzt euch für eine HIV-Heilung ein, die bei allen funktioniert“

„Ich werde weiterkämpfen“, antwortet Timothy, „bis ich nicht mehr kämpfen kann.“

Tim nimmt das Telefon zurück, und ich weiß, es ist Zeit, mich zu verabschieden. Ich merke, dass Tim sich von Timothys Bett entfernt, während er mir leise etwas anvertraut.

„Einer der Forscher wollte, dass Timothy seinen Körper der Wissenschaft vermacht“, erzählt Tim. „Aber ich habe geantwortet: ‚Danke, aber nein. Ich denke, er hat genug getan.‘“

(Tim Hoeffgen und Timothy Ray Brown haben mich gebeten, diese Geschichte zu verbreiten, um der Community zu danken und dieses letzte Kapitel von Timothys Reise zu erzählen. Sie bitten darum, dass wir ihnen den Raum gewähren, den sie während ihrer verbleibenden gemeinsamen Zeit brauchen. Tim Hoeffgen wird sich zu gegebener Zeit wieder zu Wort melden.)

*Übersetzte Fassung des Beitrags As Timothy Ray Brown Faces Death, a Great Love Endures auf marksking.com. Wir danken dem Autor herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung. Übersetzung: Literaturtest

Zurück

positive stimmen 2.0: Umfrage zum Leben mit HIV

Weiter

Notapotheke

Über

Gastbeitrag

Gastautor_innen schreiben für magazin.hiv

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

9 + 1 =

Das könnte dich auch interessieren