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Jennys Leben mit Drogen 1: Von chronischen Schmerzen zu Heroin aus dem Darknet

Von Holger Sweers
Jenny
Bild: privat

Jenny T. lebt in einem kleinen Ort in Brandenburg. Im Interview erzählt sie, wie sie sich gegen ihre chronischen Schmerzen selbst geholfen hat und dadurch opioidabhängig wurde.

In und mit der Deutschen Aidshilfe haben sich schon früh auch Drogen gebrauchende Menschen für ihre Rechte, gegen Diskriminierung und für eine menschliche Drogenpolitik engagiert – auch aus der Erkenntnis heraus, dass nur diejenigen ihre Gesundheit schützen können, die in ihrer Lebenswelt weder diskriminiert noch kriminalisiert werden. Auch wenn die Drogenpolitik immer noch auch auf Repression und Kriminalisierung setzt, hat die akzeptierende Drogenarbeit seither viel erreicht, etwa die Einrichtung von Drogenkonsumräumen in mittlerweile acht Bundesländern oder die Einführung der Substitutionsbehandlung auf breiter Basis.

Wie wichtig diese Angebote der Schadensminimierung und Überlebenshilfe sind, zeigt die Geschichte von Jenny, die mit uns über ihr Leben mit Drogen gesprochen hat. Wir veröffentlichen das Interview in zwei Teilen, Teil 2 findet sich hier.


Teil 1

Liebe Jenny, danke, dass du dir die Zeit für ein Gespräch nimmst. Wir wollen über dein Leben mit Drogen reden – und über Schadensminimierung, zum Beispiel durch Drogenkonsumräume. Aber zunächst einmal zu dir: Was sollten Leser*innen über dich wissen?

Ich heiße Jenny, lebe in einem kleinen Ort in Brandenburg und bin 26 Jahre alt. In meiner aktiven Drogenzeit habe ich einige Jahre in Berlin verbracht – bis ich ganz unten war. Damals habe ich selbst erlebt, wie Drogenkonsumräume Leben retten – und wie Menschen sterben, wenn ihnen bei einer Überdosis nicht geholfen wird. Mittlerweile bin ich in einer Substitutionsbehandlung in einer tollen Berliner Praxis – ohne die wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.

Seit meiner Kindheit habe ich mit chronischen Schmerzen zu tun. Außerdem habe ich psychische Probleme, hatte aber bisher keine Chance auf eine vernünftige Psychotherapie.

Bis ich 17, 18 war, wollte ich mit Drogen nichts zu tun haben

Zwar tut sich gerade einiges bei mir und ich bin dabei, mein Leben neu zu ordnen, aber meine Vergangenheit holt mich immer wieder ein, vor allem in Form von Stigmatisierung durch Ärzt*innen und Behördenmitarbeiter*innen.

Dazu möchte ich einen Satz von Beate Stör aus dem Elternkreis Suchtgefährdeter und Suchtkranker Leutkirch wiedergeben, die sich auch in der Initiative #mybrainmychoice für eine faktenbasierte menschliche Drogenpolitik engagiert. Sie sagt: „Lassen Sie uns die Menschen, die in einer Abhängigkeit gefangen sind, nicht ausklammern, sondern gleichfalls als Menschen ansehen – mit all den Bedürfnissen, die Sie und ich ebenfalls haben.“ Dieses Zitat ist mir sehr wichtig.

Bei unserem ersten Kontakt hast du geschrieben, dass du keine „klassische“ Drogenkarriere hingelegt hast. Was wäre denn „klassisch“ – und wie war deine „Drogenkarriere“?

Unter einer „klassischen“ Drogenkarriere stellen sich die meisten wohl vor, dass man neugierig ist, von anderen mal was angeboten bekommt, es ausprobiert, gut findet, mehr nimmt und dann irgendwann immer härtere Sachen braucht. Ich dagegen wollte, bis ich so 17, 18 war, mit Drogen nichts zu tun haben. Trotzdem hat bei mir eigentlich alles schon mit neun Jahren angefangen.

Wie das?

Ich hab damals schon meine erste Periode bekommen. Und damit fingen Schmerzen an. Kein Schmerzmedikament hat geholfen, und von Monat zu Monat wurde es schlimmer. Manchmal waren die Schmerzen so stark, dass ich schreien musste. Einmal kam sogar die Polizei, weil die Leute in der Nachbarschaft dachten, ich würde misshandelt. Erst war das nur während der Periode so, später wurde es dann chronisch. Und jeden Monat kam einmal oder mehrmals der Rettungswagen und brachte mich in die Notaufnahme.

Was haben die Ärzt*innen dazu gesagt?

Ich bin von einer zum anderen gegangen. Ultraschall, gynäkologische Untersuchungen, Bauchspiegelung, Darmspiegelung und immer das gleiche Ergebnis: Alles in Ordnung. „Das ist völlig normal, da muss jede Frau durch“, hieß es oft. Aber ich hab von Anfang an geahnt, dass da irgendwas nicht stimmt.

Wie haben sich die Schmerzen auf dein Leben ausgewirkt?

Irgendwann hatte ich so viele Fehltage in der Schule, dass ich die 9. Klasse wiederholen musste – und dabei war ich in der Grundschule immer Klassenbeste gewesen, wollte das Abi machen und studieren. In der neuen Klasse hab ich dann einfach keinen Anschluss gefunden, war völlig isoliert und wurde zum Gespött der Schule. Das habe ich bis heute nicht richtig verdaut.

Die Ärzt*innen haben meine Schmerzen einfach nicht ernst genommen

Weißt du denn mittlerweile, was diese heftigen Schmerzen ausgelöst hat?

Ja, mit 16 – sieben Jahre nach dem ersten Auftreten der Schmerzen, die da längst chronisch waren – habe ich endlich die Diagnose bekommen: Endometriose. Dabei wachsen Gebärmutterschleimhaut-Zellen außerhalb der Gebärmutter, und abgestoßenes Gewebe und Blut können nicht abfließen. Dann können sich auch Zysten bilden, zum Beispiel in den Eierstöcken. Schätzungen zufolge sind zwei bis zehn Prozent der Frauen betroffen.

Warum hat es bei dir trotzdem so lange gedauert, bis du eine Diagnose hattest?

Die Ärzt*innen haben mir einfach nicht geglaubt oder meinten, ich würde übertreiben und solle mich nicht so haben. „Das ist alles psychisch“, habe ich immer wieder gehört. Dabei gab’s in meiner Familie schon andere Frauen mit Endometriose, und es ist bewiesen, dass sie vererbt werden kann.

Haben dir die Ärzt*innen denn wenigstens gegen die Schmerzen zu helfen versucht?

Ja, mit Schmerzmitteln wie Ibuprofen, Paracetamol und so weiter. Dann wurde auch viel mit verschiedensten Anti-Baby-Pillen experimentiert, aber das Einzige, was die bewirkten, war, mich depressiv zu machen. Noch mehr als ich eh schon war, denn mit Depressionen hatte ich schon vorher zu tun. Dann hab ich angefangen, mir selbst zu helfen. Im Internet hab ich nach legalen Schmerzmitteln recherchiert, weil meine ja nicht wirkten. Und da bin ich auf Kratom gestoßen.

Was ist Kratom?

Kratom kommt aus dem ostasiatischen Raum und kann legal erworben werden. Es wird aus den Blättern des Kratombaums hergestellt und enthält psychoaktive Substanzen, die als Opioid und somit auch schmerzlindernd wirken und bei Depressionen und Schlafstörungen helfen. Und was soll ich sagen: Die Schmerzen gingen tatsächlich weg. Von einem auf den anderen Tag. Ich war die ganze Nacht wach und lag einfach nur glücklich und zufrieden da. Meine Depressionen besserten sich und ich hatte keine Panikattacken mehr. Im Rückblick kann ich sagen, dass mich das vor dem Suizid bewahrt hat.

An welchem Punkt in deinem Leben standest du damals?

Ich hatte das Abi abgebrochen, weil ich wegen der Depressionen total am Ende war. Das hat natürlich auch an meinem Selbstbewusstsein genagt. Aber dann konnte ich mich doch dazu aufraffen, zumindest das Fachabi zu versuchen. Ich wollte das Gefühl haben, zumindest einmal was geschafft zu haben. Und dank Kratom lief auch alles wie geschmiert, die Schmerzen waren aushaltbar und die Angst war weg, wenn ich unter Menschen war.

Warum bist du dann nicht bei Kratom geblieben?

Zwei Jahre ging alles gut. Aber es passierte, was immer passiert: Die Toleranzschwelle stieg, das heißt, mein Körper brauchte mehr für die gleiche Wirkung. Bei mir sind eh ganz klare Suchtstrukturen vorhanden. Das war bei den Antidepressiva schon so, und ich hatte auch eine Online-Spielsucht entwickelt. Ein Problem war auch, dass mir das Kratom zu teuer wurde.

Das opioidhaltige Schmerzmittel Tilidin gaukelte mir Nähe- und Glücksgefühle vor

Und dann kam Tilidin, ein opioidhaltiges Schmerzmittel. Die Wirkung war das Schönste, was ich je in meinem Leben erleben durfte. Da kam nie wieder eine andere Substanz ran – nicht mal später intravenös konsumiertes Heroin. All die Einsamkeit und Isolation waren weg. Das Tilidin gab mir all die Nähe- und Glücksgefühle, die ich so schmerzlich vermisst hatte. Ich wusste gar nicht, dass ich so etwas überhaupt empfinden konnte. Dass diese Glücksgefühle nur Fake waren und mein Gehirn mir nur was vorspielte, wusste ich, doch es war mir egal. Und ich wollte immer mehr.

Kann man sich Tilidin einfach so verschreiben lassen?

Nein, in ländlichen Gegenden ist das nicht einfach. Da man mir ja die Schmerzen wegen der Endometriose nicht abnahm, habe ich andere Geschichten erfunden, um Tilidin zu bekommen. Ich bin meistens zu Ärzt*innen gegangen, die vorübergehend Vertretungen übernahmen und mich noch nicht kannten. Und das Tilidin wirkte unfassbar gut. Zunächst.

Irgendwann brauchte ich aber auch hier immer mehr und etwas Neues. Doch Pharma-Opiate waren auf dem Schwarzmarkt zu teuer, und dieses hochpotente Chemiezeugs, Research Chemicals oder kurz RCs genannt, war mir nicht geheuer. Und so kam ich zu Heroin.

Du bist mitten in Brandenburg einfach so an Heroin gekommen? Wie alt warst du da?

So 18, 19. Ich hab’s mir in die Tagesklinik schicken lassen, in der ich damals war. Ich war schon immer gut mit Computern und hab mir tatsächlich im Darknet Heroin bestellt.

Und wie war dein „erstes Mal“ Heroin?

Ich hatte hohe Erwartungen, aber das Heroin hatte eher subtile Wirkungen – was meiner Meinung nach auch das Gefährliche daran ist. Anfangs lässt es sich super in den Alltag integrieren, niemand bekommt etwas mit. Doch irgendwann braucht und will man immer mehr, bis man schließlich zur Spritze greift, um wieder eine stärkere Wirkung zu erzielen.

Du hast also nicht gleich intravenös konsumiert?

Nein, zu Anfang hab ich es über die Nase genommen. Ich hab immer sehr darauf geachtet, keine Risiken beim Konsum einzugehen, hab mich stundenlang informiert.

Ist in der Klinik nicht aufgefallen, dass du Heroin konsumierst?

Doch. Ein paar Tage war ich so „zu“, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Ärztin hat dann mit richterlichem Beschluss eine geschlossene Unterbringung angeordnet, und ich landete das erste Mal auf einer Entzugsstation. Man dachte wohl, man tut mir was Gutes, doch im Endeffekt knüpfte ich dort nur einen Haufen Kontakte. Ich kannte ja vorher niemanden, der mit Drogen zu tun hatte.

Mein erstes Heroin habe ich im Darknet bestellt

Finanziert habe ich den Konsum zunächst mit dem Kindergeld, das meine Mutter für mich bekam und mir auszahlte. Irgendwann reichte das aber nicht mehr und ich musste an mein Erspartes ran, was natürlich relativ schnell aufgebraucht war. Dann hab ich mich mit dem Verkauf von alten Sachen wie Spielekonsolen und mit Geldborgen über Wasser gehalten.

Und wie bist du weiter an Heroin herangekommen? Du hast es dir ja wahrscheinlich nicht im Abo schicken lassen.

Nein, das bekam ich in Neuruppin auch so. Allerdings war das Heroin da doppelt so teuer wie in Berlin, wie ich bald herausfand. Deswegen fuhr ich dann zwei-, dreimal die Woche dorthin. Und bekam immer öfter Ärger mit meiner Mutter.

Wie bist du dann zum Injizieren gekommen?

Nach der Unterbringung in der geschlossenen Station gab ich mich einverstanden mit einem verlängerten psychiatrischen Aufenthalt auf einer offenen Station. Doch dort wurden meine Schmerzen und auch das psychische Verlangen wieder größer. Ich bekam Morphin gegen die Schmerzen, aber in zu geringer Dosierung. Da habe ich mir überlegt, wie ich am meisten aus den Medikamenten herausholen konnte. Und so hab ich die Pillen gesammelt, zerkleinert und mir mit einer Spritze injiziert – mithilfe einer YouTube-Anleitung. Das ging allerdings beim ersten Mal völlig schief – das Blut sprudelte wie eine Fontäne.

Du hattest eine Arterie getroffen.

Genau. Und das im Patientenzimmer. Die nächsten Male hat’s dann aber geklappt. Und beim Heroin bin ich dann auch relativ schnell aufs Spritzen umgestiegen.

Hat deine Mutter von deinem Heroinkonsum etwas mitbekommen?

Nein, in der ersten Zeit nicht. Irgendwann aber schon, da hatte ich mir einen Schuss gesetzt und lag blutverschmiert in der Küche auf dem Tisch. Das war für sie natürlich ein Schock, aber sie hat zunächst trotzdem zu mir gehalten.

Irgendwann lag ich blutverschmiert in der Küche auf dme Tisch

Mit der Zeit wurde es ihr dann aber zu viel. Und mir eigentlich auch. Nach einem heftigen Streit hat sie mich rausgeworfen. Das war, nachdem ich aus der offenen Station geflogen war, weil ich am Wochenende mit einem der neuen Bekannten aus dem Entzug in die nächstgelegene Großstadt gefahren war und dort Heroin und zum ersten Mal auch Kokain genommen hatte.

Mir war das aber auch ganz recht. Denn meine Mutter war sehr Helikopter-mäßig drauf, ich hatte keinerlei Privatsphäre, wurde permanent überwacht und hatte keine Chance, erwachsen zu werden.

Ich hab dann meine Koffer gepackt und bin nach Berlin, da kannte ich ja mittlerweile ein paar Leute.

In Teil 2 des Interviews erzählt Jenny, wie es ihr in der offenen Drogenszene in Berlin erging, welche Bedeutung Angebote der Schadensminierung sowie die Substitutionsbehandlung für sie haben und wie sie heute lebt.

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