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Jennys Leben mit Drogen 2: Leben und Beinahe-Sterben auf der Straße

Von Holger Sweers
Bild zum Beitrag Jennys Leben mit Drogen 2
Bild: Jenny T.

Jenny T. wurde wegen chronischer Schmerzen opioidabhängig. Als sie in Berlin auf der Straße lebte, waren Einrichtungen der niedrigschwelligen Drogenhilfe lebenswichtig für sie.

Wie wichtig Angebote der Schadensminimierung und Überlebenshilfe für Drogengebraucher*innen sind, zeigt die Geschichte von Jenny, die mit uns über ihr Leben mit Drogen gesprochen hat. Wir veröffentlichen das Interview in zwei Teilen, Teil 1 findet sich hier.

Teil 2

Jenny, du bist auf der Suche nach Mitteln gegen deine chronischen Schmerzen über verschiedene Stufen auch zum Heroinkonsum gekommen und schließlich in Berlin in der offenen Szene gelandet. Wie ist es dir dort ergangen?

Anfangs war alles sehr überfordernd. Ich musste viele Ängste überwinden, zum Beispiel, mit Fremden zu reden oder Bahn zu fahren oder in großen Menschenansammlungen keine Panikattacken zu bekommen. Und Kumpels von früher haben sich bald als doch nicht so freundlich entpuppt. „Du kannst bei mir schlafen“ hieß dann „Du sollst mit mir schlafen“, also sexuelle Ausbeutung. Das habe ich aber nicht mitgemacht, bin dann bald richtig auf der Straße gelandet. Da habe ich mich nach einigen Vorfällen tatsächlich sicherer gefühlt.

Wie muss ich mir dein Leben auf der Straße vorstellen?

Am Anfang war ich vor allem in Kreuzberg. Der Konsumraum von Fixpunkt war da sehr wichtig für mich. Vor allem, weil es steriles Spritzbesteck und Zubehör gab und man dort Safer User praktizieren konnte. Außerdem gab es einen ganz klar geregelten Ablauf: Es wurde genau notiert, was und wie viel man nahm.

„Du kannst bei mir schlafen“ hieß plötzlich „Du sollst mit mir schlafen“

Sehr wichtig war auch, dass medizinisch geschultes Personal anwesend war. Die haben zum Beispiel mit den User*innen „Venenkunde“ gemacht, also genau erklärt, an welchen Stellen man gut und weniger gut einstechen kann und wo man besser überhaupt keine Spritze setzen sollte. Am Allerwichtigsten aber war, dass sie im Notfall eingreifen konnten und das auch gemacht haben. Ich hab da mehrere Notfälle miterlebt, von mittelernst bis lebensbedrohlich, und den Leuten wurde immer sofort geholfen. Auch sozialarbeiterisch wurde man betreut. Und man konnte sich duschen oder Wäsche waschen. Solche Räume sind superwichtig und retten wirklich Menschenleben.

Drogenkonsumräume und Kontaktläden sind aber nur tagsüber geöffnet. Wo hast du geschlafen?

Draußen. Mit einem Schlafsack und ein paar Decken geht das auch bei minus 19 Grad. Oder im Eingangsbereich von U- oder S-Bahnhöfen. Zumindest, bis der Sicherheitsdienst kam und mich bei Wind, Schnee, Regen, Kälte rausgeschmissen hat. Oft saß ich auch in der Bahn, um mich aufzuwärmen.

In den Notunterkünften hab ich mich nie sicher gefühlt. Nachts werden Waffen und Drogen über den Zaun geworfen, und selbst unter den Frauen geht es oft gewalttätig zu.

Später warst du dann woanders?

Ja, später war ich eher in Charlottenburg unterwegs. Ich hatte schon ziemlich bald in Berlin jemanden kennengelernt, der sich eher dort als in Kreuzberg aufhielt und viele Leute kannte. Er war so ganz anders, hat eingegriffen, wenn mich jemand belästigt hat. Er hat mir alles erklärt, ist mit mir rumgezogen. In den Cafés kannten ihn die Leute, dort haben wir oft was zu essen bekommen.

Allerdings war er nicht in Substitution, und sein Konsumverhalten war um einiges härter als meins. Sein Heroin-und-Kokain-Gemisch wurde auch bei mir zur Gewohnheit. Da mein Partner nicht in Substitution war, fiel es mir schwer, den Beikonsum zu lassen. Irgendwann flog ich dann aus dem Programm. Jeden Tag, rund um die Uhr drehte sich dann alles nur noch um eins: Geld machen und Stoff besorgen.

Gab’s in Charlottenburg auch einen Drogenkonsumraum?

Leider keinen festen Raum, aber einen Kleinbus von Fixpunkt am Stuttgarter Platz. Da bekam man auch saubere Spritzen und alles andere, was man zum Konsum sonst so braucht, auch Verbandszeug. Außerdem haben sie auch sozialarbeiterisch betreut.

Und was hast du abends oder am Wochenende gemacht, wenn der Bus nicht da war?

Was sollte ich machen? Ich hab mich wie sonst auch vor der Öffentlichkeit versteckt. Wir hatten ständig Angst vor der Polizei, wollten aber auch niemanden mit unserem Konsum belästigen. Vor allem, dass keine Kinder uns sehen und wir keinen Müll oder gar Spritzen rumliegen lassen, war uns sehr wichtig.

Drogenkonsumräume müsste es überall geben und sie müssten rund um die Uhr geöffnet sein

Einmal am Wochenende hab ich mit einem Freund an einer abgelegenen Stelle konsumiert. Nach dem Konsum wurde er ohnmächtig, und ich hab voll Panik bekommen. Kein Mensch, kein Auto weit und breit, wir hatten beide kein Telefon. Ich musste ihn dann selbst reanimieren und irgendwann ist er wieder zu sich gekommen, hat aber immer wieder das Bewusstsein verloren, nicht mehr geatmet, die Lippen wurden blau. Wäre er allein gewesen, hätte er das wohl nicht überlebt.

Ich finde, Drogenkonsumräume müsste es überall geben und sie müssten 24 Stunden, rund um die Uhr, geöffnet sein.

Hast du selbst auch mal eine Überdosierung gehabt?

Ja, mir ist besonders eine Situation stark in Erinnerung geblieben, wo ich wirklich dachte, jetzt ist es vorbei. In einer City-Toilette ist mir direkt nach dem Konsum erst schwindlig geworden, dann wurde mir schwarz vor Augen, und im nächsten Moment lag ich auf dem Boden und habe gemerkt, wie ich langsam das Bewusstsein verliere. Zum Glück haben irgendwann Leute, die draußen warteten, dass die Toilette frei wird, reagiert und die Tür geöffnet. Die haben dann den Rettungswagen alarmiert.

Wie ging es dir damals gesundheitlich?

Schlecht. Ich habe kaum noch was gegessen, extrem abgenommen, die Bedingungen fürs Konsumieren waren meist nicht sehr sauber, man konnte nicht einfach so zu Ärzt*innen gehen. Mein Freund hatte mal eine Entzündung an einer Einstichstelle am Arm, die sich zu einer Blutvergiftung entwickelt hat. Und ich hatte eine lebensgefährliche Blinddarmentzündung.

Man hat totale Angst, ins Krankenhaus zu gehen

Aber man hat totale Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Denn wenn du nicht in einer Substitutionsbehandlung bist, geben sie dir da nichts, selbst wenn du offensichtlich Entzugserscheinungen hast. Meiner Meinung nach ist das schon Körperverletzung. Denn auch ein Opiat-Entzug kann unter Umständen gefährlich werden. Ich hab schon viele Leute mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrechen sehen.

Hast du denn versucht, wieder in eine Substitutionsbehandlung zu kommen?

Ja, allerdings sind die ersten drei Versuche fehlgeschlagen. In der ersten Praxis zum Beispiel gab’s null Empathie. Und in einer anderen Praxis wurde ich angeblafft, nachdem ich mich auf der Toilette ein bisschen frischgemacht hatte. „Wir sind hier kein Waschraum!“, musste ich mir anhören. Auch die Tatsache, dass mein Partner nicht in Substitution war und wir immer noch Drogen für ihn besorgen mussten, war nicht gerade förderlich. Da fiel es schwer, dann nicht mitzukonsumieren.

Und wie hat’s dann doch geklappt mit der Substitution?

2018, nach drei Jahren in Berlin, war ich an meinem Tiefpunkt angekommen. Ich wog nur noch 45 Kilo, der Körper war übersät mit Einstichstellen, ich hatte ewig nicht mehr geduscht, verdreckte Klamotten, ich hatte mir Parasiten und andere schlimme Infektionen eingefangen, durch die ich fast draufgegangen wäre. Hatte mehrfache sexuelle Übergriffe und versuchte Vergewaltigung erlebt, Freunde und meinen Partner fast sterben sehen. Ich hab mich selbst nicht mehr wiedererkannt.

Zu der Zeit hatte ich mich auch von meinem Freund getrennt, auch wenn er die große Liebe meines Lebens war. Er war ADHSler und Borderliner, war oft sehr aggressiv und wurde auch gewalttätig. Ich hatte immer gedacht, dass ich ihn „retten“ könnte oder dass wir uns gegenseitig retten könnten und gemeinsam unser Leben in den Griff kriegen. Doch dass wir uns im Endeffekt gegenseitig eher schadeten, bemerkten wir erst, als es längst zu spät war.

Unsere Trennung werde ich wohl auch nie verkraften. Doch ich fasste endlich den Mut, es noch mal mit einer Substitution zu versuchen. Dabei hatte ich das Riesen-Glück, dass damals in Charlottenburg gerade eine neue Praxis von Ärzt*innen aufmachte, die schon sehr viel Erfahrung in der Suchtmedizin hatten. Dort wurde ich als Patientin angenommen und hab mich sofort gut behandelt gefühlt. Noch nie zuvor hatte ich eine Arztpraxis erlebt, wo ich so auf Augenhöhe behandelt wurde, einfach wie ein Mensch.

Die Praxis ist super organisiert, und es gibt auch eine medizinische Fachangestellte, die eine Fortbildung zur Fachassistentin in der Suchtmedizin gemacht hat. Hier habe ich gelernt, wieder vertrauen zu Ärzt*innen zu fassen und meine Ängste zu überwinden, was definitiv zur erfolgreichen Substitution beigetragen hat.

In meiner jetzigen Praxis werde ich auf Augenhöhe behandelt

Die Behandlung samt Dosierung haben wir gemeinsam festgelegt, und schon nach zwei Wochen hatte ich keinen Beigebrauch mehr. Das hat immerhin zwei Jahre gehalten. Aktuell schaffe ich es leider nicht ganz ohne Beikonsum von schmerzstillenden Mitteln, da die Beschwerden nach einer Weile in Substitution zurückgekehrt sind. Aber zumindest konnte ich den gefährlichen intravenösen Konsum hinter mir lassen und habe gelernt, wieder auf meinen Körper achtzugeben.

Du lebst mittlerweile bei deinem Vater, zu dem du in der Kindheit keinen Kontakt hattest. Wie ist es dazu gekommen?

Nach der Trennung von meinem Freund hab ich mich sehr einsam gefühlt und musste auf einmal viel an meinen Vater denken und daran, dass er es auch geschafft hat, seine Alkoholsucht zu besiegen. Dass er für mich gekämpft hatte, um für mich da sein zu können. Er lebte auch sehr einsam und mir war sowieso klar: Wenn ich clean werden will, muss ich raus aus Berlin.

Zu meiner Mutter zurück kam auf keinen Fall in Frage, in diesem Umfeld hätte ich es niemals ohne Drogen aushalten können. Betreutes Wohnen ebenso wenig, da ich in der Zeit so einige WGs gesehen hatte, und in keiner einzigen waren die Leute ohne Beikonsum. Auf die Schnelle was Eigenes zu finden, dazu hatte man auch keine Chance.

Also fasste ich allen Mut zusammen und nahm wieder Kontakt zu meinem Vater auf. Irgendwie wusste ich, dass er mir verzeihen würde und dass er der Einzige ist, der mich verstehen kann.

Mir war klar: Wenn ich clean werden will, muss ich raus aus Berlin

Er war dann einfach nur froh, dass ich noch am Leben bin und dass es mir gut geht, und nahm mich sofort bei sich auf. Und hier bin ich nun. Fast zwei Stunden von Berlin entfernt, mitten auf dem Dorf, weit und breit keine Möglichkeit, an Drogen zu kommen – perfekt. Zur Substitutionspraxis fahre ich aber weiterhin einmal die Woche nach Berlin.

Wie sieht’s mit deinen Schmerzen aus? Die geht ihr in der Therapie auch an, oder?

Ja, meine Ärztin und die psychosoziale Betreuung unterstützen mich da voll. Aktuell setze ich große Hoffnung in eine Operation, die dafür sorgen wird, dass sich meine Beschwerden stark verringern und mit etwas Glück vielleicht sogar ganz verschwinden.

Wie sehen die nächsten Schritte aus?

Ich hab jetzt meine Covid-Impfungen bekommen und bin sehr froh und erleichtert. Und wenn die Operation gegen die Schmerzen hilft, komme ich hoffentlich auch wieder ohne Beigebrauch aus. Und dann kann ich mich endlich um mich selbst kümmern. Denn psychisch hat die Zeit natürlich viele Spuren hinterlassen. Albtraume quälen mich jede Nacht. Da gibt es viel aufzuarbeiten.

Liebe Jenny, vielen Dank, dass wir an deinem Leben teilhaben durften. Gibt es etwas, was du den Leser*innen mit auf den Weg geben möchtest?

Trotz allem was ich durchgemacht habe, bereue ich nichts. Denn die Zeit auf der Straße hat nicht nur Schlechtes bewirkt. Ich bin auch über mich hinausgewachsen, hab Ängste überwunden, bin selbstbewusster geworden. Ich hab begriffen, was wirklich zählt im Leben, und bin anderen Menschen gegenüber toleranter und vorurteilsfreier geworden.

Es gibt eine Textzeile, die mir schon sehr oft Mut gemacht hat, wenn ich mit der Motivation mal am Boden war. Sie stammt aus dem Song „Tragedy + Time“ von RISE AGAINST: „… maybe not today or for a while, but we’re holding on to laugh again someday.“

Das ist so was wie meine persönliche Botschaft: „Auch wenn es jetzt vielleicht noch nicht danach aussieht, irgendwann wird es besser werden!“

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