Guten Mutes in die Praxis
Als Alicja während ihrer Schwangerschaft plötzlich Blutungen bekam, ging sie sofort in die Frauenklinik. Obwohl es ihr schlecht ging, wurde sie bald wieder nach Hause geschickt. „Ich hätte eigentlich dort bleiben müssen“, sagt sie heute. Der Arzt aber habe damals gesagt: „Das ist für uns zu gefährlich.“ Der Grund: Alicjas HIV-Infektion, von der sie während ihrer Schwangerschaft erfahren hatte.
Abgewiesen wegen HIV
In diesem Moment kam einiges zusammen: die Unsicherheit wegen der Diagnose und die Sorge wegen der Blutungen. „Ich hatte Angst, dass ich mein Baby verliere“, erzählt Alicja. Von den Ärzt*innen habe sie sich nicht gut betreut und beraten gefühlt. Im Gegenteil: Sie hatte den Eindruck, dass sie wegen ihrer HIV-Infektion abgelehnt wurde.
„Ich habe mich nicht gut aufgehoben gefühlt“
Gerade für Personen, die im Alltag häufig Diskriminierungen ausgesetzt sind, kann ein Besuch bei Ärzt*innen ein sensibles und angstbesetztes Thema sein. Auch Linus Giese hat Situationen erlebt, in denen er sich nicht wohlfühlte. Bei einer Berliner Gynäkologin wurde er als „Frau Giese“ aufgerufen – obwohl er an der Rezeption erklärt hatte, dass er Linus heißt und ein trans Mann ist.
„Auf meiner Krankenkassenkarte stand noch mein alter Name“, erzählt er. Die Ärztin habe ihn nicht als Mann wahrgenommen, sondern von einer „Neigung“ gesprochen und direkt nach geplanten Operationen gefragt. „Ich habe mich da nicht gut aufgehoben gefühlt“, erzählt Giese.
Unterstützung bei der Ärzt*innen-Suche
Auch Frauen mit Kopftuch, queere Menschen, Drogengebraucher*innen oder Sexarbeiter*innen berichten von unangenehmen Erfahrungen mit medizinischem Personal. Verschiedene Initiativen möchten Menschen deshalb dabei helfen, Ärzt*innen zu finden, bei denen sie sich angenommen und gut beraten fühlen.
Die Plattform „Gynformation“ bietet seit Anfang 2020 die Möglichkeit, nach Gynäkolog*innen, Endokrinolg*innen, Allgemeinmediziner*innen oder Geburtsbegleiter*innen zu suchen – basierend auf persönlichen Empfehlungen. Wer gute Erfahrungen gemacht hat, kann einen Fragebogen ausfüllen, der vom Gynformation-Team, dem Kollektiv für gynäkologische Selbstbestimmung, ausgewertet wird.
Vorbild ist die französische Initiative „Gyn & Co“. „Die kannten einige von uns“, erzählt Nina, die sich in dem Hamburger Kollektiv engagiert. „Als wir darüber sprachen, hat sich relativ schnell herausgestellt, dass es auch hier großen Bedarf gibt“, sagt sie.
Ein ausschlaggebender Punkt war die Debatte in Deutschland um Schwangerschaftsabbrüche und den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs: Dieser verbietet „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ und führt dazu, dass immer wieder Gynäkolog*innen, die auf ihrer Website über Methoden zum Schwangerschaftsabbruch informieren, angeklagt und verurteilt werden. „Es ist schwierig, gute und übersichtliche Informationen dazu zu finden, wer mit welchen Methoden Abbrüche anbietet“, sagt Nina.
Diskriminierung im Gesundheitswesen: Es fehlt an Sensibilisierung
Schwangerschaftsabbrüche sind ein wichtiges Thema des Kollektivs. „Es kann aber auch sein, dass ich mir als Person, die ein Kopftuch trägt, wertende Kommentare anhören muss. Es kann sein, dass ich mich auf sexuell übertragbare Krankheiten untersuchen lasse und mir Kommentare zu meinem Sexualleben anhören muss“, erzählt die Aktivistin.
„Jede Person hat einen respektvollen Umgang verdient“
„Uns hat angetrieben, dass jede Person – egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts – einen respektvollen und unvoreingenommenen Umgang verdient hat, wenn sie in eine gynäkologische Praxis geht.“ In der Ausbildung von Mediziner*innen fehle es häufig an der Sensibilisierung für bestimmte Themen, was jedoch kein spezifisches Problem der Medizin sei. „Natürlich ist das ein Abbild von der Gesellschaft und von gesellschaftlichen Problemen“, sagt Nina.
Die positiven Erfahrungen weitergeben
Gleichzeitig machen viele Patient*innen positive Erfahrungen mit einfühlsamen und spezialisierten Ärzt*innen – und genau darum geht es bei Gynformation. „Ziel ist, dass Menschen sich nicht erst durch Zehntausend schreckliche Geschichten klicken müssen, wie das bei Bewertungsplattformen oft der Fall ist“, sagt Nina. Stattdessen kann man nach Suchkriterien filtern und bekommt eine Liste mit Adressen. Darunter stehen Kommentare wie: „Keine Verurteilung bei nicht ,normaler’ Lebensführung und Promiskuitivität. Die Ärztin ist sehr professionell, interessiert und rücksichtsvoll. Kündigt jede Handlung an und erklärt geduldig.“
Die Seite sei derzeit noch in der Beta-Phase, erzählt Nina. Mittlerweile seien etwa 460 Fragebögen ausgefüllt und ausgewertet worden. Da das aktivistische Projekt ehrenamtlich gestemmt wird, seien neue Unterstützer*innen immer willkommen.
Orientierung für Sexarbeiter*innen
Auch das Modellprojekt „Roter Stöckelschuh“ vom Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) möchte mithilfe einer Adressdatenbank Orientierung bieten und Sexarbeitende vor allem dabei unterstützen, respektvolle Ärzt*innen zu finden.
Schwerpunkt ist derzeit die Stadt Berlin, für die die Suchfunktion die meisten Treffer ergibt. Das Projekt bekommt eine Fehlbedarfsfinanzierung durch die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung in Berlin und eine Förderung vom Verein „Frauen fördern die Gesundheit“ des Deutschen Ärztinnenbundes. Hinzu kommen Spenden und für das Jahr 2021 auch ein Sponsoring eines Online-Shops für Sexarbeiter*innen-Bedarf.
Darüber hinaus ist der Rote Stöckelschuh eine Art Antidiskriminierungs-Label, mit dem ärztliche Praxen gekennzeichnet werden, die Sexarbeiter*innen vorurteilsfrei untersuchen und beraten. Entwickelt wurde es von der Ärztin Dorothee Kimmich-Laux, die bei Ragazza, einer Beratungsstelle für Drogenkonsumentinnen und Sexarbeiterinnen in Hamburg, gynäkologische Sprechstunden anbietet.
Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) im Jahr 2017 stellte sie die Idee vor, bald darauf trugen erste Praxen und Beratungsstellen einen Aufkleber mit einem Roten Stöckelschuh an ihrer Tür.
„Viele outen sich nicht, weil sie nicht wissen, wie ihnen begegnet wird“
Der Schwerpunkt des Modellprojekts liege vorerst im gynäkologischen Bereich, sagt Maia Ceres, Gesundheitsbeirätin beim BesD und selbst auch Sexarbeiterin. Ziel sei, es aber auch auf andere medizinische Bereiche auszuweiten. Auch sollen Sexarbeitende befragt werden, was sie sich von gynäkologischen Praxen wünschen.
„Viele outen sich bei der Behandlung nicht als Sexarbeitende – weil sie nicht wissen, wie ihnen auf persönlicher Ebene begegnet wird“, erzählt Maia Ceres. Sie selbst habe noch keine negativen Erfahrungen gesammelt – aber auch keine besonders positiven. „Ich habe mich einmal geoutet und gehofft, dass die Ärztin genauer hinschaut. Sie war erst einmal verblüfft, dass so jemand wie ich in der Sexarbeit aktiv ist.“ Eine junge, weiße Studentin, die als Escort arbeitet: Das passt nicht ins Bild, sagt Maia Ceres. „Auch Gynäkolog*innen sind von unterschiedlichen Stereotypen und Vorurteilen geprägt.“
„Die Ärztin war verblüfft, dass jemand wie ich in der Sexarbeit aktiv ist“
Sie habe das Gefühl, dass in gynäkologischen Praxen teilweise das spezifische Wissen zur Beratung ihrer Berufsgruppe fehlt. Sexuell übertragbare Krankheiten seien oft kein zentrales Thema. Häufig fehlten auch Informationen dazu, wie sich verschiedene Verhütungsmittel auf die Sexarbeit auswirken können. „Wenn beispielsweise die Spirale zu einer stärkeren und längeren Menstruation führt, dann verkürzt sich das Zeitfenster, in dem gearbeitet werden kann. Das hat eine ganz praktische Dimension – vor allem für Sexarbeiter*innen, die sich nicht im Internet einen 100er-Pack Menstruationsschwämme bestellen können.“
Der Rote Stöckelschuh möchte außerdem aktiv mit Ärzt*innen zusammenarbeiten. „Wir wollen Fortbildungen für Mediziner*innen anbieten, die den Wunsch haben, Sexarbeitende akzeptierend zu beraten und zu behandeln“, erzählt Maia Ceres weiter. Eine Vernetzung zwischen Sexarbeitenden und Mediziner*innen sei wichtig, betont sie. „Denn Vorbehalte gibt es auf beiden Seiten.“
Ein Gütesiegel für Akzeptanz und Sensibilität
Ähnlich wie das Modellprojekt „Roter Stöckelschuh“ will auch das Gütesiegel „Praxis Vielfalt“ der Deutschen Aidshilfe zum Abbau von Vorurteilen und zu mehr Akzeptanz und Sensibilität bei medizinischen Behandlungen beitragen. Im Blick hat das Gütesiegel dabei vor allem den Umgang von Menschen mit HIV sowie LSBTIQ-Personen verschiedener kultureller und sprachlicher Hintergründe.
„Man kann sich unangenehme Erfahrungen sparen, wenn es eine Plattform gibt, die vorselektiert“
Innerhalb des kostenfreien Zertifizierungsprozesses nehmen Mitarbeiter*innen von Praxen unter anderem an Fortbildungen teil, bei denen sie ihre Diversity-Kompetenzen stärken können. Wenn das Team die Zertifizierung durchlaufen hat, wird das Gütesiegel verliehen. Es bescheinigt die Kompetenz, Menschen mit HIV und LSBTIQ-Personen eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung anzubieten. Wie bei Gynformation und beim Roten Stöckelschuh können Adressen der Praxen auf der Webseite des Projekts abgerufen werden.
Linus Giese, der im Sommer 2020 ein Buch über seine Transition veröffentlicht hat, begrüßt, dass es solche Projekte gibt. „Ich finde das super wertvoll. Es hilft Menschen, die auf der Suche nach sensibilisierten und aufgeklärten Ärzt*innen sind. Man kann sich unangenehme Erfahrungen sparen, wenn es eine Plattform gibt, die ein bisschen vorselektiert.“
Angst vor unangenehmen Erfahrungen hält vom Besuch bei Ärzt*innen ab
Dabei geht es nicht nur darum, sich wohlzufühlen – sondern auch darum, ob Menschen überhaupt zum*r Ärzt*in gehen. Ängste und unangenehme Erfahrungen können dazu führen, dass Menschen Arztpraxen fernbleiben. „Mein Endokrinologe hat erzählt, dass viele trans Männer aus Angst, dass sie als Frau angesprochen werden oder dass ihnen übergriffige Fragen gestellt werden, erst gar nicht hingehen“, erzählt Linus Giese.
Vielen Menschen sei nicht bewusst, dass auch trans Männer zu Frauenärzt*innen gehen. Als Linus Giese einmal auf Twitter über eine schlechte Erfahrung bei einer Gynäkologin berichtete, seien viele Leser*innen erstaunt gewesen. „Selbst, wenn sich trans Männer die Brüste entfernen lassen, haben sie ja oft noch Eierstöcke und Gebärmutter“, erklärt er.
„Wichtig ist die Sensibilität dafür, welche Untersuchungen mit Unwohlsein verbunden sind“
Wichtig sei bei Praxisbesuchen „die Sensibilität dafür, dass der zu untersuchende Bereich schwierig ist. Und dass es für viele trans Männer mit Unwohlsein verbunden ist, sich zum Beispiel die Brüste anfassen zu lassen“, sagt er. Inzwischen hat er sich eine andere Praxis gesucht, wo er sich besser aufgehoben fühlt.
Auch Alicja hatte nach ihrer Erfahrung während ihrer Schwangerschaft viele positive Erlebnisse mit Ärzt*innen. Wie die Einträge auf Gynformation zeigen, gibt es zahlreiche Mediziner*innen, die sich um einen respektvollen und diskriminierungsfreien Umgang bemühen. Die Plattform hilft dabei, sie auch zu finden.
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