Altersgerechte Politik braucht Geschlechtervielfalt

Wie wirken sich Diskriminierung und Gewalterfahrung auf die Lebenserwartung aus? Wie steht es um Altenhilfe und Pflegeeinrichtungen für queere Menschen? Was gilt für Altersarmut in Bezug auf LGBTIQ*? Solche Frage kamen bisher im Altersbericht der Bundesregierung praktisch nicht vor. Im Neunten Altersbericht gibt es nun ein LGBTIQ*-Kapitel sowie eine Reihe ergänzender Expertisen. Nora Eckert sprach mit Annette Güldenring und Lucie Veith, die Perspektiven von trans und inter Personen beigesteuert haben.
Annette GüldenringWas wir brauchen, ist keine Diversity-Kolumne am Seitenrand, sondern eine fokussierte, altersgerechte Politik, die die gesellschaftliche Polydimensionalität des Geschlechtlichen ernst nimmt.
Seit 1993 gibt es regelmäßige Berichte zur Lebenssituation älterer Menschen in der Bundesrepublik. Sie dienen als ein seniorenpolitisches Instrument und geben deshalb auch Handlungsempfehlungen zu unterschiedlichsten Themenfeldern. Erarbeitet werden die Berichte von wechselnden wissenschaftlichen Teams und sie erscheinen jeweils von Legislatur zu Legislatur. In Auftrag gegeben werden sie von der jeweiligen Bundesregierung. Mit dem inzwischen veröffentlichten Neunten Altersbericht, der den Titel „Altwerden in Deutschland – Potenziale und Teilhabe-Chancen“ trägt, ist eine Premiere besonderer Art verbunden. Denn zum ersten Mal gibt es darin ein Kapitel, das der Lebenssituation von Menschen aus dem LGBTIQ*-Spektrum gewidmet ist.
Gleichheit und Verschiedenheit in allen Generationen
Gleichwohl ist die Frage berechtigt, warum erst jetzt? Denn die betreffenden Menschen gibt es ja nicht erst seit heute. Offenkundig aber gibt es erst heute ein Bewusstsein dafür, dass LGBTIQ* nicht nur ein Teil der Gesellschaft bedeutet, sondern dass dieser Teil sich in seinen Lebensverhältnissen und -erfahrungen vom heteronormativen und heterosexuellen Mainstream unterscheidet, der jedoch in den bisherigen Altersberichten, von einer Ausnahme abgesehen, ausschließlich fokussiert wurde. Jedenfalls kommt die sozialwissenschaftliche Forschung genau zu dieser Erkenntnis, dass wir im Vergleich der Lebensformen von älteren LGBTIQ* und älteren cis-heterosexuellen Menschen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das heißt in der Konsequenz, dass der seniorenpolitische Rahmen zu erweitern und zu diversifizieren ist.
Der aktuelle Bericht bestätigt nun, dass es von Fall zu Fall eben doch gravierende Unterschiede gibt. Wer also eine differenzierte, vollständige und realistische Momentaufnahme über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf ältere Menschen haben will, der kommt künftig nicht umhin, LGBTIQ* miteinzubeziehen. Und nicht nur das, erforderlich wird ebenso ein entschieden intersektionaler Blick sein, um Themen wie Migration, Ethnien und weitere Merkmale angemessen zu berücksichtigen. Denn auch beim Thema Alter kann es nur den Grundsatz der Gleichheit aller geben, aber nicht mit der Konsequenz, alle in ein Schema zu pressen. Gleich können wir nur in unserer Verschiedenheit sein – das gilt für alle Generationen. Wir haben ein Recht, in unserer Eigenheit wahrgenommen zu werden.
Fehlende Daten zu LGBTIQ* im Alter
Schauen wir uns die Berichte und vor allem den aktuellen Neunten Altersbericht ein wenig genauer an. Um vielleicht mit dem von 2017 zu beginnen, denn das ist der oben als Ausnahme erwähnte Siebte Altersbericht, der den Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ trägt. Im Kapitel 4, das sich den Ungleichheiten in der alternden Gesellschaft widmet, finden wir zum Stichwort „Intersektionale Ungleichheiten“ einige Seiten, die konkret „gleichgeschlechtlich liebenden Frauen und Männern“ gewidmet sind.
Eine wiederkehrende Feststellung betrifft dabei die dürftige Datenlage, wo immer es um queere Menschen geht. In den allermeisten statistischen Erhebungen fehlen ja entsprechende Differenzierungen. Um ein Beispiel zu geben: Die Lebenserwartung für Frauen und Männer lässt sich genau beziffern, nicht jedoch, wenn es um die Frage geht, ob für Lesben und Schwule die gleichen Zahlen gelten oder ob man nicht einen Faktor wie „Minderheitenstress“ und noch weitere zu berücksichtigen habe. Wie wirken sich Diskriminierung, Gewalterfahrung, Ausgrenzung auf die Lebenserwartung und die Gesundheit aus? Wie sieht Altersarmut mit Blick auf LGBTIQ* aus, wie Fragen von Einsamkeit und sozialen Bindungen? Oder wie sieht es für queere Menschen überhaupt in der Altenhilfe und in Pflegeeinrichtungen aus?
Eine wiederkehrende Feststellung betrifft dabei die dürftige Datenlage, wo immer es um queere Menschen geht.
Bei allen bisherigen Schwerpunktsetzungen der Altersberichte hätte es natürlich längst allen Grund gehabt, wenigstens einen differenzierenden Seitenblick auf LGBTIQ* zu werfen. Denn gerade Themen wie Wohnen, Gesundheitsversorgung, Demenz, Zusammenhalt der Generationen oder gesellschaftliche Altersbilder schreien ja förmlich nach einer Antwort auf die Frage, wie queere Menschen darin positioniert sind. Am Ende geht es schließlich um Gleichbehandlung, die eben nicht mit Gleichmacherei zu verwechseln ist. Und wo es um geschlechtliche Identität geht, gehören trans*, inter* und nichtbinär schon aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit dazu. Sichtbarkeit heißt im Wesentlichen Teilhabe, aber die muss auch ermöglicht werden. Deshalb heißt Sichtbarkeit vor allem, mitgedacht zu werden und ohne Einschränkung.
LGBTIQ* kein homogener Block
Das immerhin tut der Neunte Altersbericht durch das erwähnte Kapitel. Die darin behandelten Aspekte sind unter anderem die materielle Lage, Sorgearbeit im Alter, gesellschaftliche Partizipation, Wohnen und soziale Einbindung sowie Gesundheitsversorgung. Doch es fehlen ganz einfach verlässliche, belastbare Zahlen. Schon die Frage, wieviel ältere LGBTIQ*-Personen es gibt, kann nur mit Schätzungen beantwortet werden. Es bleibt eine, wie es im Bericht heißt, „dürftige empirische Befundlage“.
Hinzu kommt, dass LGBTIQ* mehr oder weniger als ein homogener Block behandelt wird, doch genau das entspricht nicht der Realität. Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität sind nicht dasselbe. Es macht eben einen Riesenunterschied, schwul, lesbisch oder bi und dabei cisgeschlechtlich zu sein oder eben trans*, inter oder nichtbinär. Wir erleben das Tag für Tag mit der unseligen Diskussion, wer eine Frau und wer ein Mann ist, mit allen damit verbundenen Anfeindungen. Was beide Gruppen folgenreich trennt, ist nicht zuletzt die Körperlichkeit.
Diskriminierungserfahrung wird bei trans* und inter* Personen doppelt so hoch beziffert wie bei LSB.
Eine der Statistiken vermittelt genau das, nämlich im Fall von Diskriminierungserfahrung, die bei trans* und inter* oft doppelt so hoch beziffert wird wie bei LSB, und zwar bezogen auf Lebensbereiche wie Einkaufen, Dienstleistungen, Freizeit, Gesundheitsversorgung, Pflege, Behörden oder auch im privaten Umfeld. Bemerkenswert bleibt auch, dass es nach wie vor im Fall von Geschlechtsidentität einen relativ hohen Anteil von nicht geouteten Personen gibt, der im familiären Umfeld bei Menschen 50+ immerhin bei 27,7 % liegt. Nur im Freundeskreis ist dieser Anteil geringer. Auch darin drückt sich unverkennbar eine soziale Problematik aus.
Expertisen zu trans* und inter* Menschen im Alter
Dem Neunten Altersbericht sind neben der Stellungnahme des Ministeriums (BMFSFJ) auch eine Reihe von Expertisen beigefügt, die kritische Ergänzungen liefern. Darunter befindet sich diejenige von Annette Güldenring, Lucie Veith und Heinz-Jürgen Voss, die „Zur Situation transgeschlechtlicher und intergeschlechtlicher Menschen im Alter“ referieren. Ich hatte Gelegenheit, Annette Güldenring und Lucie Veith einige Fragen zu stellen. Wie sehen die beiden die Forderung, LGBTIQ* generell für die Altersberichte zum Querschnittsthema zu machen?
„Wenn sich die Wissenschaften und die Politik erst jetzt den Themen der alternden Menschen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt zuwenden“, meint Veith, „dann ist dies ein spätes, aber notwendiges Handeln und eine erfreuliche Entwicklung.“ Und Güldenring ergänzte, die Aufnahme des Kapitels sei „kein freundlicher Bonus, sondern eine bittere Notwendigkeit. Was wir brauchen, ist keine Diversity-Kolumne am Seitenrand, sondern eine fokussierte, altersgerechte Politik, die die gesellschaftliche Polydimensionalität des Geschlechtlichen ernst nimmt.“ Das bisherige Bild sei in dieser Hinsicht nie vollständig gewesen – und war „für viele Menschen schlicht falsch“.
Lucie VeithDas Tempo und die Wirksamkeit der Empfehlungen wird auch durch den Diskurs und die LGBTIQ*-Selbstvertretungen, die FLINTA-Bewegten, die Senior*innenvertretungen sowie die großen Wohlfahrtsverbände mitbestimmt.
Entscheidend wird in der Zukunft das Handeln sein, und damit der Wille zu grundlegenden und nachhaltigen Veränderungen. Hier sieht Güldenring eine Chance des Altersberichts, nämlich Impulse zu setzen, „etwa für die Entwicklung queersensibler Pflegekonzepte“ und allem, was dazu gehört. Vor allem darf so ein Bericht nicht in der Schublade verschwinden. Veith sieht aber auch die Notwendigkeit des Verbündetseins: „Das Tempo und die Wirksamkeit der Empfehlungen wird auch durch den Diskurs und die LGBTIQ*-Selbstvertretungen, die FLINTA-Bewegten, die Senior*innenvertretungen sowie die großen Wohlfahrtsverbände mitbestimmt. Je mehr Menschen den Neunten Altersbericht als Instrument einsetzen, desto wirksamer wird dieser auf Bund-, Landes- und Kommunal-Ebene werden.“ Güldenring bringt es auf die einfache Formel: „Wer sich mit Vielfalt im Alter befasst, kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen.“ Ich denke, dem können wir uns alle nur anschließen. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass die Premiere im aktuellen Altersbericht der Start in eine erfolgreiche Fortsetzung sein wird.
Veranstaltung zu LGBTIQ* im Alter
Fachtagung im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Neunten Altersbericht der Bundesregierung in Kooperation mit der Volkshochschule Köln
12. Juni 2025 in Köln, 10:00 bis 16:30 Uhr
FORUM Volkshochschule im Museum am Neumarkt, Cäcilienstr. 29-33, 50667 Köln
Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenfrei. Zur Anmeldung.
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