Im renommierten Fachjournal „The Lancet“ erschien im Mai 2023 eine Studie zur Lebenserwartung von Menschen mit HIV. Ein guter Grund, sich einmal grundsätzlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Die Studie „Life expectancy after 2015 of adults with HIV on long-term antiretroviral therapy in Europe and North America: a collaborative analysis of cohort studies“ umfasste 206.891 Menschen mit HIV aus den USA und Kanada sowie verschiedenen europäischen Ländern einschließlich Großbritanniens.

Unterschiede bei der Lebenserwartung mit HIV nach Jahr des Therapiebeginns

Zwei Vergleichsgruppen wurden gebildet: Die Personen aus der ersten Gruppe hatten ihre antiretrovirale Therapie (ART) zwischen 1996 und 2014 begonnen und 2015 mindestens ein Jahr lang Anti-HIV-Medikamente genommen, die Personen aus der zweiten Gruppe hatten zwischen 2015 und 2019 mit der Therapie begonnen und sie ebenfalls mindestens ein Jahr fortgeführt. Alle Teilnehmer*innen waren zu Studienbeginn mindestens 16 Jahre alt. In der Studie wurde nur nach „Männern“ und „Frauen“ und nicht nach anderen geschlechtlichen Identitäten unterschieden.

Aus der Studie geht nicht genau hervor, warum diese beiden Zeiträume ausgewählt wurden. Grund ist vermutlich, dass ab 2015 vermehrt „moderne“ Therapiekombinationen unter Einschluss von NNRTI und vor allem Integrasehemmern angewendet wurden. Außerdem wurden 2015 die Ergebnisse der START-Studie veröffentlicht, die zeigten, dass ein möglichst früher Therapiebeginn das Risiko für Komplikationen einer HIV-Infektion verringert.

Hier die Ergebnisse in Kurzform:

  • Es gab 5.780 Todesfälle seit 2015.
  • Aus dem statistischen Modell ergeben sich folgende Schätzungen:
    • Frauen, die sich mit 40 Jahren infizierten, hatten noch 35,8 Jahre zu leben, wenn sie vor 2015 mit der ART begonnen hatten, und 39 Jahre, wenn sie danach anfingen.
    • Für Männer betrug die Restlebenserwartung bei einer Infektion mit 40 Jahren 34,5 und 37 Jahre.
    • Frauen mit weniger als 50 CD4-Helferzellen pro Mikroliter (µl) Blutplasma zu Studienbeginn hatten mit 40 Jahren eine Restlebenserwartung von 19,4 Jahren, wenn sie die ART vor 2015 begonnen hatten, und von 24,9 Jahren bei einem späteren Therapiebeginn.
    • Für Männer betrug die Restlebenserwartung in diesen Fällen 18,2 und 23,7 Jahre.
    • Frauen mit einer CD4-Zellzahl von mindestens 500/µl zu Studienbeginn hatten im Alter von 40 Jahren eine Restlebenserwartung von 40,2 Jahren bei Therapiebeginn vor 2015 und von 42 Jahren bei Therapiestart ab 2015 – verglichen mit 45,8 Jahren bei Frauen aus der sogenannten Allgemeinbevölkerung.
    • Bei Männern betrug die Restlebenserwartung in diesen Fällen 38 bzw. 39,2 Jahre – verglichen mit 40,7 Jahren bei Männern aus der Allgemeinbevölkerung.

Folgerungen aus der Studie zur Lebenserwartung von Menschen mit HIV

Was machen wir nun mit diesen Zahlen?

Zunächst einmal bedeuten sie, dass die CD4-Zellzahl bei Therapiebeginn offenbar eine wichtige Rolle spielt. Je höher sie ist, desto höher ist auch die Lebenserwartung – unabhängig davon, wann man mit der Therapie begonnen hat.

Für Menschen, die die Therapie mit mehr als 500 CD4-Zellen/µl begonnen haben, ist sie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nur um wenige Jahre reduziert.

Die Zahlen zeigen außerdem, dass auch Frauen mit HIV im Durchschnitt eine etwas höhere Lebenserwartung als Männer haben.

Die Lebenserwartung wird von vielen Faktoren beeinflusst – nicht nur von HIV

Aber die Lebenserwartung an sich ist ein sehr komplexer Parameter. So konnte gezeigt werden, dass sie sich innerhalb einer Stadt wie London um mehr als zehn Jahre unterscheidet – je nach Wohnbezirk. Denn es gibt sehr viele Faktoren, die sich auf die Lebenserwartung auswirken: unter anderem die Luftqualität, die medizinische Versorgung, aber vor allem das Einkommen. Je höher das Einkommen, desto höher die durchschnittliche Lebenserwartung.

Hinzu kommen auch individuelle Faktoren. So beeinflusst die Genetik ebenfalls die verbleibende Lebenszeit. Haben Eltern und Großeltern ein hohes Lebensalter erreicht, steigt die Wahrscheinlichkeit, auch selbst lange zu leben.

Der individuelle Lebensstil ist mitentscheidend für die Lebenserwartung mit HIV

Ganz entscheidend aber sind individuelle „Lifestyle“-Faktoren – allen voran das Rauchen. Inzwischen geht man davon aus, dass bei Menschen mit HIV deutlich mehr Lebensjahre durch das Rauchen verloren gehen als durch HIV selbst. Auch die Ernährung, der Cholesterinspiegel und der Blutdruck spielen eine wichtige Rolle.

Deshalb ist es zwar sehr interessant, sich die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung bei Menschen mit HIV anzusehen, für sich selbst kann man daraus aber nur wenig ableiten:

  • Der Therapiebeginn lässt sich nachträglich nicht mehr ändern; man muss mit der CD4-Zellzahl, die man damals hatte und heute (noch) hat, klarkommen.
  • Den Lebensstil kann man sehr wohl beeinflussen. Hier muss jede*r für sich entscheiden, wie er*sie die Lebensqualität ausbalancieren will. Was ist mir wichtiger: Möglichst lange zu leben oder zu rauchen/trinken/essen, was und wie viel ich will?

Quantität ist nicht gleich Qualität

Insgesamt ist wohl die Frage der Lebensqualität wichtiger als die der Lebenserwartung. Was nützt es mir, wenn ich 100 Jahre alt werde, aber die letzten 30 Jahre in einer Pflegeeinrichtung dahinsiechen muss? Auch hier ist Quantität nicht alles.

Die Lebensqualität ist zwar fast noch schwerer zu beeinflussen als die Lebensdauer. Man weiß aber, dass soziale Kontakte (Freundschaften, Familie) und das Gefühl, ein sinnhaftes Leben zu führen, entscheidend sind.

Für viele Wehwehchen gibt es heute gute Medikamente. Für ein gutes und erfülltes Leben braucht es aber mehr: Menschliche Zuwendung, Nähe, Liebe und eine gewisse Sinnhaftigkeit lassen sich durch nichts ersetzen.

Quelle: Lancet HIV 2023: 10; e295–307

https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S2352-3018%2823%2900028-0

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Siegfried Schwarze

Siegfried Schwarze, Mikrobiologe und HIV-Experte, macht die Wissenschaft rund um HIV verständlich und ist Herausgeber von www.projektinfo.de.

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