Die Fiktion der fetten Jahre
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Ein Gastbeitrag von Mine Pleasure Bouvar
Die Qual der Wahl zwischen den verschiedenen Schattierungen neoliberaler Politik steht einmal mehr vor der Tür. Im Bangen darum, was der 23. Februar bringen wird, stellt sich auch die Frage, wie es queerpolitisch mit neu verteilten Karten weitergehen soll. Es lohnt ein Rückblick, um anstehende Herausforderungen und die aktuelle Position von LGBTIQ+-Rechten zu bestimmen und einen sinnvollen Kurs abzustecken.
Politische Bestandsaufnahme zu LGBTIQ+-Rechten
Der wesentliche queerpolitische Outcome nach etwa drei Jahren Fortschrittskoalition ist wohl das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz. Das Ringen um die Reform, die es zwar vermochte, das diskriminierende TSG abzulösen und die Pathologisierung intergeschlechtlicher Menschen zu verringern, mündete in einer Lösung mit der am Ende niemand so richtig glücklich war – außer genderkritischen Akteur*innen, die den Gesetzgebungsprozess erfolgreich für ihre Agitation nutzten. Die zahlreichen diskriminierenden Ausnahmen, die besonders entlang rassistischer, ableistischer und transmisogyner Linien verlaufen, strafen das Vorhaben, diskriminierungsfreie Änderungen des Geschlechtseintrags umzusetzen, Lügen. Trotz sehr breiter Beteiligung der queeren Zivilgesellschaft und darüber hinaus auch des Großteils der deutschen Frauenverbände, die Position gegen die Normalisierung transmisogyner Hetze bezogen, vermochte man es nicht, den reaktionären Einlassungen des Sauna-Zugang-Bestimmungsgesetzes zu begegnen.
Augenfällig ist zudem, welcher Inhalt aus dem Gesetz von Beginn an ausgeklammert wurde. Während in den damals noch oppositionellen Entwürfen eines Selbstbestimmungsgesetzes von FDP und Grünen die affirmative Gesundheitsversorgung von trans* und inter*geschlechtlichen Menschen zentral war, machte das 2022 veröffentlichte Eckpunktepapier zum Inhalt des angestrebten Gesetzes zuallererst klar, dass eben diese nicht mehr zur Debatte steht. Körperliche Selbstbestimmung – wohlgemerkt unter grundgesetzlichen Gesichtspunkten argumentiert, statt unter diagnostischen – als Teil der versprochenen geschlechtlichen Selbstbestimmung wäre ein feministischer Meilenstein deutscher Rechtsgeschichte gewesen. Doch eine solche historische Chance zu nutzen, war offenbar zu viel verlangt.
Transgesundheit gemeinsam mit den gesundheitlichen Bedarfen intergeschlechtlicher Menschen als Recht auf körperliche Selbstbestimmung im SBGG zu verankern und so zu stärken, ist eine verpasste Chance.
Das wiegt umso schwerer, da Transgesundheit seit einem unglücklichen Beschluss des Bundessozialgerichts im Oktober 2023 in der Schwebe hängt. Eigentlich stand die Absicherung der Gesundheitsversorgung für die Ampel auf der To-Do-Liste, eine Umsetzung erfolgte jedoch nicht. Nicht nur steht zu erwarten, dass ein Wiederaufgreifen davon unter einer (noch) konservativen Regierung wenn überhaupt suboptimal verlaufen dürfte. Auch steht eine weitere Intensivierung des genderkritischen Angriffs auf Transgesundheit ins Haus. Zuletzt schlug ein transfeindliches Papier vom 128. Ärztetag Wellen. Mit Blick auf die USA und Großbritannien, wo Anti-trans*-Politiken, die auf denselben Narrativen aufbauen, bereits weiter entwickelt sind, lässt sich erahnen, welche Ausmaße diese Interventionen erreichen können. Über die Delegitimierung von langjähriger medizinischer Praxis werden Versorgungsstrukturen eingeschränkt, Behandler*innen eingeschüchtert und die Situation besonders für junge und arme trans Menschen verschärft. Regelmäßig geht es hier auch um die Schaffung eines Vorwandes, um reproduktive und körperliche Selbstbestimmung generell einzuschränken. Transgesundheit gemeinsam mit den gesundheitlichen Bedarfen intergeschlechtlicher Menschen als Recht auf körperliche Selbstbestimmung im SBGG zu verankern und so zu stärken, ist eine verpasste Chance.
Was und wer auf der Strecke bleibt
Gegen die Beanstandung dieser Punkte wurde in den letzten beiden Jahren oft vorgebracht, dass zu scharfe Kritik unproduktiv sei und die Durchsetzung weiterer queerpolitischer Vorhaben, wie die Reform des Abstammungsrechts, gefährden könnte. Ganz zu Schweigen von dem Umstand, dass diese Reform trans*, nichtbinäre und inter* (tin*) Personen zugunsten cis queerer Interessen sämtlich unter den Bus geworfen hätte, kam sie sowieso nie zur Verwirklichung. Trotzdem wiederholt sich die Dynamik, dass bestimmte Positionen für bürgerlich-queere Anerkennungspolitiken marginalisiert werden – eine Lektion, die augenscheinlich noch immer gelernt werden muss, wenn Solidarität nicht nur eine Phrase bleiben soll. Dass es dieser künftig dringend bedarf, zeigt das im Januar abgestimmte Gewalthilfegesetz. Dessen Durchsetzung ist für die prekäre Finanzierung deutscher Gewaltschutzeinrichtungen lange überfällig. Dass die explizite Inklusion von tin* Perspektiven dabei nicht gegen die anti-queeren Versteigungen der Union verteidigt werden konnte, zeigt, auf wie schwachen Füßen LGBTIQ+-Interessenvertretung derzeit steht. Lichtblick bleibt hier, dass das Gesetz die besagte Finanzierung sichert und die Praxis in Gewaltschutzeinrichtungen wesentlich trans*inklusiver aussieht, als christdemokratische Hetzer es sich wünschen. Dennoch zeigt die Abschiebung einer Frau und ihrer beiden Kinder aus einem Hamburger Frauenhaus, wie selektiv deutsche Menschenrechtspolitik gemacht wird. Fälle wie dieser aus dem vergangenen November bleiben bittere Realität, ob der beibehaltenen behördlichen Meldepflicht, im Gewalthilfegesetz.
Die menschenrechtliche Liberalisierung für manche Gruppen geht einher mit immer weiter angezogenen autoritären Daumenschrauben für andere Gruppen
Die überschaubaren queerpolitischen Fortschritte der letzten Zeit geschahen allesamt simultan zur Verschärfung der rassistischen und migrationsfeindlichen sowie gegen linke Selbstorganisierung gerichteten Politiken. Die*r Autor*in und Politikwissenschaftler*in Tarek Shukrallah weist nach, dass diese Gleichzeitigkeit System hat. Von der erfolgreichen Abschaffung des § 175 mitten in den Baseballschlägerjahren bis zur Verabschiedung des Teilweise-Selbstbestimmungsgesetzes in derselben Sitzung, in der die Bezahlkarte beschlossen und eine vor allem gegen linken Dissens gerichtete fadenscheinige Antisemitismus-Resolution besprochen wird, zieht sich ein roter Faden. Die menschenrechtliche Liberalisierung für manche Gruppen geht einher mit immer weiter angezogenen autoritären Daumenschrauben für andere Gruppen – wobei die Differenz von “Gruppen” hier oft weniger eine reale, sondern eine durch Verwaltung und Politik künstlich hergestellte ist. Zudem ist im absehbaren Rechtstaumel fraglich, wie lange opportunistisches Interesse für weiße, deutsche Queers noch vorhält. Die Luft für meist vor allem symbolische Anerkennungskämpfe wird dünner.
Viel Peitsche, wenig Zuckerbrot
Zu spüren bekommen das zivilgesellschaftliche Strukturen gerade immer mehr. Während Bundeswehrsondervermögen gemeinsam mit der Kriminalisierung linker Gegenstimmen auf der Tagesordnung stehen, werden bei Mitteln für Demokratieförderung inklusive queerer Strukturen die Rotstifte angesetzt. Die zynische Selbstinszenierung der politischen Verantwortungsträger*innen als Demokratieverteidiger*innen auf Demos gegen Rechts, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, welche schweren Auswirkungen das auf Teilhabe, Selbstwirksamkeit und Selbstorganisation in unserem Alltag hat. Dass dies einen befürchteten faschistischen Kipppunkt darstellt, ist jedoch fraglich. Denn diese Autoritärentwicklung innerhalb bürgerlich-demokratischer Gesellschaften ist nichts außergewöhnliches, sondern ein Trend den Politikwissenschaftler*innen seit Jahrzehnten erkennen. Ein Klima, in dem sich Rechtspopulist*innen bereits pudelwohl fühlen – kein Kippen nötig, wenn’s der Normalzustand auch tut. Die damit einhergehende Austeritätspolitiken bedeuten einen sozialen und kulturellen Kahlschlag und eine existenzielle Bedrohung nicht nur für queere Strukturen, sondern für Queers als Menschen, die mehrheitlich zur Miete wohnen, überdurchschnittlich armutsbetroffen sind und in prekären Arbeitsverhältnissen ihr Überleben sichern – insbesondere wenn sie trans* und/oder migrantisiert sind.
Und wie weitermachen?
Daraus ergibt sich, wo die queerpolitischen Prioritäten der nächsten Jahre liegen müssen. In bundespolitischen Anerkennungskämpfen ist aktuell kaum ein Blumentopf zu gewinnen. Es gilt vielmehr Bestände zu sichern, und zwar dort, wo queere Politik konkret wird: vor Ort, in bestehenden Strukturen, in der Beratung und Versorgung. Erhalten und gleichzeitig die eigene Resilienz und Unabhängigkeit im neoliberal-autoritären Kurzungswahn zu steigern ist zwingend geboten. Beispielhaft hierfür ist etwa das Waldschlößchen, dessen Finanzierungsmodell zwar nicht ganz ohne staatliche Gelder auskommt, dessen Gründer sich aber immer darüber im Klaren waren, von diesen nie komplett abzuhängen.
Weiterhin lohnt sich ein Blick in die eigene Bewegungsgeschichte. Zwar befinden wir uns in einer institutionalisierten Verbändelandschaft, gleichzeitig geht diese Errungenschaft zurück auf den Einfallsreichtum sich selbst ermächtigender, oft nicht sonderlich systemkonformer Queers, die diese eigenen Räume erst erkämpfen mussten. Gerade wenn es um praktische Solidarität in unseren Gemeinschaften geht, um die Anliegen geflüchteter, sexarbeitender, wohnungsloser, transgeschlechtlicher queerer Geschwister, ist es schon lange notwendig auch außerhalb verwalteter, formalisierter und legalisierter Boxen zu denken. Klasse und Subversivität sind Vokabeln, die wir in den kommenden Jahren unbedingt lernen sollten. Dazu zählt auch, die mittlerweile gut entwickelte Expertise queerer, linker und feministischer Jurist*innen produktiv zu machen. Nicht so sehr in der Erkämpfung rechtlicher Fortschritte, sondern vor allem als Verteidigungslinie gegen zunehmende Kriminalisierung und rechtlichen Angriffe, die linke Queers, trans* Personen und Sexarbeitende bereits jetzt erleben.
Die fetten Jahre, die es sowieso eigentlich immer nur für sehr partielle queerpolitische Anliegen im Interesse eindimensionaler, bürgerlicher Fiktionen von respektabler Queerness gab, sind vorbei. Allerhöchste Zeit, sich dementsprechend aufzustellen für den Erhalt und die Verteidigung von queeren Leben. Ob flamboyant oder militant, queere Praxis heißt Widerstand.
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