Erinnern und Gedenken

Die Retterin der Aids-Hilfe Wilhelmshaven

Von Axel Schock
Person im roten Kostüm sitzt am Schreibtisch
Susanne Ratzer in der Aidshilfe Wilhelmshaven (Foto: Andreas Tschöpe)

Am 12. August 2025 ist Susanne Ratzer, ehemalige Geschäftsführerin und Ehrenmitglied der Aids-Hilfe Friesland-Wilhelmshaven-Wittmund, nach schwerer Krankheit verstorben. Über Jahrzehnte hinweg hat sie auch die Arbeit des Landes- und Bundesverbandes der Aidshilfen entscheidend mitgeprägt. Jan Meggers, langjähriger Mitarbeiter und Weggefährte, erinnert an die trans Pionierin, ihre Wikingerkunst und den Synthesizer.

Aufgezeichnet von Axel Schock.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Als Susanne 1999 die Geschäftsführung der Aids-Hilfe Wilhelmshaven übernahm, stand der Verein faktisch vor dem Aus. Hätte sie damals das Ruder nicht in die Hand genommen, würde es diese Aidshilfe heute wahrscheinlich nicht mehr geben. Susanne hat den Verein durch schwierige Fahrwasser navigiert und später, als sich Aidshilfe gewissermaßen neu erfinden musste, auch durch diese Zeit voller Umbrüche gelotst.

Gelungen ist ihr dies, weil sie in allem, was sie tat, immer sehr fokussiert war und rational an die Dinge heranging. Ihr Autismus kam ihr dabei sicherlich zugute. Ihr war wichtig, dieses Schiff wieder flott zu kriegen, und das ist ihr auch gelungen. Sie hatte ungeheures Fachwissen – nicht nur durch ihr Studium der Sozialpädagogik und Sozialarbeit und ihre Vorstandstätigkeit bei der Oldenburgischen Aids-Hilfe. Sie hatte zuvor auch eine Verwaltungsausbildung gemacht und damit wirklich einiges an Handwerkszeug mitgebracht.

Susanne hat den Verein durch schwierige Fahrwasser navigiert und später, als sich Aidshilfe gewissermaßen neu erfinden musste, auch durch diese Zeit voller Umbrüche gelotst.

Ich habe Susanne 2008 im Zusammenhang mit meinem Coming-out kennengelernt, als ich zunächst ehrenamtlich bei Veranstaltungen mit ihr arbeitete. Dadurch entwickelte sich bereits eine intensive und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Nach einem langen Psychiatrieaufenthalt aufgrund von Burn-out und Depressionen brauchte ich etwas, das mir Struktur in meinem Leben gab. Ich konnte nicht einfach zuhause herumsitzen. Susanne hat mir damals ermöglicht, dass ich an drei Tagen in der Woche ehrenamtlich bei ihr im Büro arbeiten konnte, gewissermaßen als ihr persönlicher Assistent. Zu Anfang war ich zu nicht mehr fähig, als Tee für sie zu kochen. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätte sie mir damals nicht diese Möglichkeit gegeben und mir gezeigt, dass ich dort mit all meinen Unzulänglichkeiten angenommen und wertgeschätzt wurde. Spätestens von da an war Susanne eine feste Größe im Leben von meinem Mann und mir. Dafür und auch für die tiefe Verbundenheit, die weit über den Arbeitskontext hinausreichte, werde ich ihr zeitlebens dankbar sein.

Im Aidshilfe-Alltag hatte sich darüber hinaus über die Jahre eine intensive und gute Zusammenarbeit entwickelt. Als sie später gesundheitlich immer wieder eingeschränkt war, konnte ich dann auch Aufgaben für sie übernehmen.

Susanne war nicht die große Menschenfängerin oder eine Person, an deren Lippen alle hängen. Sie hat sich auch nicht als Chefin gesehen, dafür wäre unsere Aidshilfe auch zu klein. Sie hatte vielmehr von Beginn an einen partizipativen Ansatz verfolgt, der dem Ehrenamtsteam die Möglichkeit gab, sich tatsächlich aktiv einzubringen und eigene Schwerpunkte zu setzen. Und Susanne schuf die notwendigen Rahmenbedingungen, damit diese Ideen eigenverantwortlich entwickelt und umgesetzt werden konnten.
Und sie verstand sich selbstverständlich auch immer als Teil der queeren Community in der Region. Wenn wir zum IDAHOT, dem internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie, mit einer Handvoll Leuten über die Wilhelmshavener Deichpromenade zogen, war Susanne mit dabei und die Regenbogenfahne flatterte auf ihrem Bollerwagen.

Wenn wir zum IDAHOT mit einer Handvoll Leuten über die Wilhelmshavener Deichpromenade zogen, war Susanne mit dabei und die Regenbogenfahne flatterte auf ihrem Bollerwagen.

Mit ihrem Transsein hat Susanne nie hinterm Berg gehalten, im Gegenteil. Sie erzählte einmal, dass sie zwar früh spürte, „anders“ zu sein als andere Menschen, jedoch für dieses Anderssein nicht einmal ein Wort hatte. In den frühen 1980er-Jahren unterzog sie sich geschlechtsangleichenden Operationen und war spätestens seitdem eine treibende Kraft in der Trans-Selbsthilfe. Auch im Landesverband der niedersächsische AIDS-Hilfe hat sie das Thema vorangetrieben. Susanne gründete und leitete Gruppen wie die Selbsthilfegruppe „Seitenwechsel“ und war so für viele Menschen, die sich selbst und ihre Umwelt als widersprüchlich oder ablehnend erlebten, ein sicherer Ankerpunkt. Für dieses Engagement ist sie mit der „Goldmarie“, dem niedersächsischen Preis für queeres Ehrenamt, ausgezeichnet worden. Wahrscheinlich, weil Susanne ihr Transsein so selbstverständlich gelebt hat und Menschen auch immer wieder die Möglichkeit gab, darüber zu sprechen, hat sie statt Ablehnung viel Akzeptanz erfahren.

Durch Susannes Tod ist in der hauptamtlichen Struktur unserer Aidshilfe nicht nur eine Lücke beim Thema Transsein entstanden, es fehlt auch ihr ungemein gutes Gedächtnis. Sie war schon seit den 1980er Jahren im Ruhrgebiet in queeren Zusammenhängen aktiv. Seit den 1990er Jahren hat sie Aidshilfe-Geschichte, die Professionalisierung der Aidshilfearbeit sowie deren Weiterentwicklungen mitgestaltet. Und das nicht nur auf regionaler Ebene, sondern auch im Bundesverband, etwa als Teil des Delegiertenrates. Weil sie über die Jahrzehnte immer am Puls der Zeit war, hat sie auch die aktuelle Transformation helfender Strukturen aktiv geprägt. Dieser immense Erfahrungsschatz, ihr phänomenales Fach- und Detailwissen – all das ist mit ihr verlorengegangen und unersetzbar. Denn um unsere Arbeit gut gestalten zu können, ist es wichtig zu wissen, aus welchen Zusammenhängen wir kommen, was unsere Geschichte ist – und auch, welche Motivationen hinter der Aidshilfe-Arbeit früher stand. Diesen Blick dürfen wir nie ganz vergessen, und Susanne war für uns diese wichtige Verbindung von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die zu gestaltende Zukunft.

Umso bedauerlicher war es, dass Susanne nicht die Möglichkeit hatte, den Abschied vom Berufsleben aktiv zu gestalten, sondern aus der Erkrankung heraus nach zwei Jahren direkt in die Berentung gegangen ist. Wir hatten als Team der Aids-Hilfe Friesland-Wilhelmshaven-Wittmund e.V. daher den großen Wunsch, sie und ihre Arbeit für die Aidshilfe auf besondere Weise zu würdigen und haben ihr daher die Ehrenmitgliedschaft angetragen. Genaugenommen ist sie das erste Ehrenmitglied der Vereinsgeschichte überhaupt.

Susanne ist nicht mehr da. Sie fehlt auf so vielen unterschiedlichen Ebenen. Aber sie hat Spuren hinterlassen. Da sind die Dinge, die man tatsächlich anfassen kann: die Aquarelle und Ölbilder, die sie gemalt hat. Oder die Knochenschnitzereien, die sie im Wikingerdorf Haithabu angefertigt und damit beigetragen hat, ein altes Handwerk am Leben zu erhalten.

Vielleicht schlummerte in ihr sogar eine alte Wikingerseele. Sie hat die Sache zumindest sehr ernst genommen. Wenn sie in die Rolle der Knochenschnitzerin schlüpfte, war sie Runhild. Sie hat dies dann auch tatsächlich gelebt und ist mit einem einfachen Zelt zu Wikingertreffen in Deutschland und Dänemark gezogen. Ihren Lebensgefährten hat sie zwar nicht standesamtlich geheiratet. Aber die beiden haben sich von einer Priesterin auf einer Wiese zwischen Schafen segnen lassen.

Durch Frank an ihrer Seite hatte sie das Gefühl erhalten, endlich angekommen zu sein, einen Menschen gefunden zu haben, der sie in all ihren so unterschiedlichen Facetten liebt. Über zehn Jahre und bis zu ihren letzten Tagen im Hospiz konnte sie diese glückliche Partnerschaft mit ihm leben – und die Beziehung blieb stabil auch über musikalische und räumliche Grenzen hinweg. Denn Frank lebt in der Nähe Fulda und tourt in einer zünftigen Volksmusikkapelle durch die Lande. Susanne hingegen hat sich musikalisch an ihrem Synthesizer ausgetobt und damit ordentlich Krach gemacht. Das hat man dann bis zum Deich gehört.

Es bleiben nicht nur ihre Bilder, ihre Knochenschnitzereien und Erinnerungen. Es gibt auch ihren bleibenden und nicht zu überschätzenden Verdienst, dass sie die Aidshilfe in Wilhelmshaven, die seinerzeit tatsächlich am Abgrund stand, wieder zu einer geachteten Institution gemacht hat.

Auch das werden wir vermissen. Aber es bleiben nicht nur ihre Bilder, ihre Knochenschnitzereien und Erinnerungen wie diese an einen so facettenreichen Menschen. Es gibt auch ihren bleibenden und nicht zu überschätzenden Verdienst, dass sie die Aidshilfe in Wilhelmshaven, die seinerzeit tatsächlich am Abgrund stand, wieder zu einer geachteten Institution gemacht und die Grundsteine für weitere Vernetzung gelegt hat. Sie hat den Kontakt zum Gesundheitsamt im Landkreis Friesland aufgenommen und dafür gesorgt, dass wir dort Testungen und Beratung im Gesundheitsamt anbieten konnten. Sie hat die Kooperation mit dem Landkreis Wittmund angebahnt und immer wieder die ersten Türen in Politik und Verwaltung geöffnet. All dies sind wichtige Grundsteine, auf denen wir weiter aufbauen können. Die Früchte ihrer Arbeit ernten neben der jetzigen Aidshilfe-Generation sicherlich auch die nachfolgenden. Es werden also nicht nur ihre Bilder an der Wand bleiben, sondern – wenn auch unsichtbar – ganz vieles, das sie in ihren Jahren bei der Aidshilfe in Wilhelmshaven geschaffen hat.

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