Die Grenzen der Solidarität
Der Dokumentarfilm „Die Uneinsichtigen – AIDS-Aktivismus in Frankfurt“ von Lou Deinhart, Evi Rohde und Zoë Struif unternimmt eine kritische Zeitreise in die Aidskrise der 80er und 90er Jahre.
Rund 1500 Menschen ziehen an diesem Julitag 1988 durch die Frankfurter Innenstadt. Nicht nur für die Passant*innen mag das damals eine ungewohnte Mischung von Menschen gewesen sein, die da Seite an Seite Parolen skandierend, singend und von der gemeinschaftlichen Aktion euphorisier zur Abschlusskundgebung am Hauptbahnhof zogen. Das Motto „Solidarität der Uneinsichtigen – Für eine menschliche AIDS-Politik“ war programmatisch. Um die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und damit die Lebenssituation für Menschen mit HIV und Aids verbessern zu können, braucht es den breiten Schulterschluss der sogenannten Hauptrisikogruppen: „Schwule – Fixer – Nutten – Knackis“, wie auf einem selbstgemalten Transparent zu lesen ist. Gemeinsam wehrt man sich gegen die diskriminierende Aids-Politik der Bundesregierung. Videoaufnahmen dieser Demonstration stehen am Anfang des Dokumentarfilms „Die Uneinsichtigen“, für den sich drei Studierende der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Ästhetik im Rahmen ihrer Masterarbeit auf die Spuren des Aids-Aktivismus in Frankfurt und Hessen begeben haben.
Politischer Schulterschluss der „Unbelehrbaren“
Zwei Jahre lang haben Lou Deinhart, Evi Rohde und Zoë Struif zu queerer Erinnerungsarbeit und Aids-Aktivismus in den 80er/90er Jahren in Deutschland mit Schwerpunkt Frankfurt geforscht. In Kooperation mit Zeitzeug*innen entwickelten sie „Die Uneinsichtigen“ als partizipatives dokumentarisches Film- und Archivprojekt.
Wie es um das damalige politische und gesellschaftliche Klima bestellt war, verdeutlichen die Dokumentarfilmerinnen anhand einiger markanter Politikerzitate. Wie etwa des damaligen Staatssekretärs Peter Gauweiler, der bei den Aids-Beratungen im bayrischen Kabinett damit drohte, „niemanden ungeschoren“ zu lassen. Gemeint waren damit Menschen aus eben jenen „Hauptrisikogruppen“, die als uneinsichtig und unbelehrbar galten und damit unter Generalverdacht gestellt wurden, leichtfertig mit dem Infektionsrisiko umzugehen.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer wiederum schlug vor, Aids-Erkrankte in „speziellen Heimen“ zu „konzentrieren“, da ihre Pflege „in teuren Krankenhäusern“ auf Dauer nicht finanzierbar sei. Anders formuliert: Für diese Art von Patient*innen sollte nicht unnötig Geld ausgegeben werden.
Welche Auswirkungen die Aids-Epidemie auf das Selbstverständnis, die Sexualität und die Community schwuler Männer hatte, schildert der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker in einem der vielen eigens geführten Interviews sehr eindrücklich und auch für nachgeborene Generationen gut verständlich. Ein kleiner historischer Schatz ist der Mitschnitt einer Bühnenshow der Frankfurter „Maintöchter“, die in Auszügen im Film zu sehen ist. In ihrem Programm „Tanz der Viren“ setzte sich die schwule Theatergruppe bereits 1986 selbstkritisch und selbstironisch mit dem Umgang der schwulen Szene mit HIV und Aids auseinander.
„Rauschgifthochburg Deutschlands“
Darüber hinaus haben die Filmemacherinnen auch Aktivist*innen aus anderen von HIV besonders betroffenen Gruppen vor die Kamera geholt, unter anderen Jürgen Klee vom Frankfurter Drogenhilfezentrum La Strada und die Wiesbadenerin Claudia Ak vom Bundesverband JES. Sie berichtet von der Drogenszene in der Finanzmetropole, die seinerzeit als „Rauschgifthochburg Deutschlands“ galt, und von den ermüdenden Kämpfen für schadensminimierende Maßnahmen. Bis heute sei es beispielsweise nicht gelungen, einen Spritzentauschautomaten in der Frauen-Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim zu installieren.
„Man konnte die Ablehnung von Migrant*innen nun mit Aids entschuldigen“
Virginia Wangare Greiner von Maisha e.V., einem Verein für Migrant*innen in Deutschland, berichtet, wie aus Afrika emigrierte Menschen dieses erste Jahrzehnt der Epidemie erlebten. Die aus Kenia stammende Sozialarbeiterin hat zehn Familienmitglieder durch Aids verloren, doch niemand habe darüber geredet. Zugleich habe Aids, die Alltagsdiskriminierungen, der Menschen aus Afrika in Deutschland ausgesetzt waren, zusätzlich verstärkt. „Man konnte die Ablehnung von Migrant*innen nun mit Aids entschuldigen“, erklärt Virginia Wangare Greiner das verletzende Verhalten. Sie musste beispielsweise erleben, dass Menschen den Fahrstuhl verließen, um ihn nicht mit ihr gemeinsam nutzen zu müssen.
„Sündenböcken der eigenen problematischen Sexualität“
Doch war es Ende der 1980er Jahre tatsächlich gelungen, diese so unterschiedlichen Menschen – schwule Männer, Migrant*innen unterschiedlicher Herkunft, Drogenkonsument*innen, Stricher ohne festen Wohnsitz und Sexarbeiterinnen – zu einer Solidargemeinschaft zusammenzubringen? Eine Gemeinschaft, die sich unter dem Eindruck der Epidemie gemeinsam gegen die politische und gesellschaftliche Ausgrenzung auflehnt? So protestierte beispielsweise ACT UP Frankfurt 1991 mit einer aufsehenerregenden Aktion beim Abschlussgottesdienst der Deutschen Bischofskonferenz im Fuldaer Dom lautstark gegen die Haltung der katholischen Kirche zu HIV, Aids und Homosexualität. Für eine kurze Zeit, sagt der HIV-Aktivist Ulrich Würdemann, habe es diese übergreifende Solidarität tatsächlich gegeben. „Ich glaube, wir habe da etwas verloren“, stellt er dann resigniert fest, „wir schmoren heute im eigenen Saft.“ Skeptisch zeigt sich rückblickend auch Martin Dannecker. Schwule Männer hätten sich schon seinerzeit nicht einmal mit den Strichjungs solidarisch gezeigt, sondern sie vielmehr zu „Sündenböcken der eigenen problematischen Sexualität“ gemacht.
„Die Solidarität der Uneinsichtigen bleibt flüchtig, bruchstückhaft und schwer zu greifen“
„Die Solidarität der Uneinsichtigen bleibt flüchtig, bruchstückhaft und schwer zu greifen“, formulieren die Dokumentarfilmerinnen ihr persönliches Resümee der Recherchen. Ein abschließendes, klares Fazit war ihnen nicht möglich. Manche Konflikte, auf die sie bei den Recherchen gestoßen sind, seien so vielschichtig, dass sie folgerichtig an der Darstellung scheitern müssten. Ein lineares Narrativ des Aids-Aktivismus sei für sie deshalb nicht möglich gewesen. Der HIV/Aids-Aktivismus, wie er in „Die Uneinsichtigen“ dokumentiert wird, ist Geschichte. Auch, weil er Wirkung gezeigt und zu Veränderungen geführt hat. Dennoch sind die Themen wie Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung weiterhin aktuell. Der Aktivismus allerdings hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich verändert: mit anderen Schwerpunkten, neuen Formen und Möglichkeiten der Auseinandersetzung und nicht zuletzt mit neuen Protagonist*innen. Der kritische, fragende Blick, den „Die Uneinsichtigen“ auf die Ursprünge wirft, kann dennoch sehr hilfereich und klärend sein, wenn es darum geht, die heutigen Ziele und Beweggründe auf den Prüfstand zu stellen.
„Die Uneinsichtigen – Aids-Aktivismus in Frankfurt“. D 2024, Regie: Lou Deinhart, Evi Rohde, Zoë Struif. Mit: Claudia Ak, Martin Dannecker, Virginia Wangare Greiner, Sylvia Grubauer, Hans-Peter Hoogen, Jürgen Klee, Wieland Speck, Ulrich Würdemann u. a. 53 min.
Trailer Die Uneinsichtigen
Termine
Der Film „Die Uneinsichtigen – Aids-Aktivismus in Frankfurt“ ist vom 19.9.2024 bis 04.05.2025 im Historischen Museum Frankfurt dauerhaft im Rahmen der Ausstellung „Zeitzeugenschaft – ein Erinnerungslabor“ zu sehen.
Nächste Kinoeinsätze im Rahmen des Fluctoplasma Festival Hamburg (24.-27.10.2024, MARKK Museum Hamburg) und beim Queer Filmfest Weiterstadt bei Darmstadt am 05.11.2024.
Aidshilfen und andere Initiativen bzw. Organisationen, die Interesse an einer Vorführung des Films haben, können sich direkt an die Filmemacherinnen wenden: aids.doku@gmail.com / Instagram @069aids_doku.
Der Film ist mit deutschen, englischen bzw. ohne Untertitel verfügbar.
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