Betriebsärztliche Eignungsuntersuchungen haben im Gesundheitswesen nichts verloren!
Ein Student der Zahnmedizin an der Philipps-Universität Marburg kämpft darum, sein Studium fortführen zu können. Doch angestoßen von der Betriebsärztin verweigert die Leitung ihm die Teilnahme an praktischen Kursen, weil er HIV-positiv ist – nicht der erste Fall an der Universität.
Hubertus von Schwarzkopf hat sich intensiv mit diesem Fall beschäftigt. Der Arbeitsmediziner war 20 Jahre in leitender Funktion beim Bremer Klinikverbund Gesundheit Nord tätig und ist seit 2009 Mitglied im Ausschuss für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Zuvor hatte er in Bremen die Zusammenarbeit des Gesundheitsamts mit der Aidshilfe und HIV-Selbsthilfegruppen, Kliniken und HIV-Praxen koordiniert.
Herr von Schwarzkopf, als die Betriebsärztin der Universität Marburg von der HIV-infektion des Studierenden Frank Martin* erfuhr, machte sie ihm völlig unnötige und letztlich kaum zu erfüllende Auflagen. Mit Unterstützung der Unileitung wurde er schließlich von den praktischen Kursen und damit vom Abschluss seines Studiums ausgeschlossen. Sind Ihnen ähnliche Fälle bekannt, in denen Studierende oder Beschäftigte im Gesundheitswesen wegen ihres HIV-Status derart in Konflikt mit den Arbeitgeber*innen gerieten?
Für die Studie „Zum sicheren Einsatz von chronisch Hepatitis- bzw. HIV-infizierten und langfristig MRSA-besiedelten Beschäftigten im Gesundheitsdienst“, an der ich beteiligt war, habe ich mit meinen Koautor*innen alle dokumentierten Fälle von 1988 bis 2016 gelistet, bei denen es zu keiner einvernehmlichen Lösung zwischen chronisch infizierten Beschäftigten und Arbeitgebern gekommen war. Insgesamt konnten wir 351 relevante Fälle recherchieren, HIV machte nur einen kleinen Teil aus. Dennoch haben wir immer wieder vereinzelt Fälle entdeckt, in denen Beschäftigte mit HIV nicht fachgerecht und zudem diskriminierend behandelt wurden.
Die arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung dient allein dem Schutz der Beschäftigten.
Arbeitsmediziner Dr. Hubertus von Schwarzkopf
Wie haben Sie von solchen Fällen erfahren?
In der Regel über die Aidshilfen. Ich denke etwa an einen Chirurgen, der wegen seines HIV-Status mehrfach gekündigt wurde. Und in Marburg hatten zwei Humanmedizin-Studierende bereits Ähnliches erfahren müssen wie der Zahnmedizinstudent im aktuellen Fall.
Im Marburger Fall hatte die Betriebsärztin den faktischen Ausschluss des Studierenden ins Rollen gebracht. Welche Aufgabe haben Betriebsärzt*innen eigentlich?
Arbeitsmediziner*innen arbeiten auf der Grundlage der Arbeitsschutzgesetze. In diesem Zusammenhang relevant ist die Verordnung für Biostoffe, also der Umgang mit Erregern, und außerdem die arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung. Darin ist festgehalten, was wir Arbeitsmediziner*innen den Beschäftigten anbieten können und sollen – und zwar stets auf Grundlage einer Gefährdungsbeurteilung. Ein Studierender hat beispielsweise eine andere Gefährdung als eine Oberärztin, die mehrstündige Operationen durchführt. An der Gefährdungsbeurteilung können und sollen die jeweiligen Betriebsärzt*innen mitwirken. Auf dieser Basis wird dann das Beratungsangebot für die Beschäftigten erarbeitet.
Welches Ziel hat die Vorsorgeverordnung?
Die Beschäftigten zu schützen – und zwar nur die Beschäftigten, nicht die Bevölkerung oder hier konkret Patient*innen. Auch wenn es freilich eine Überschneidung gibt, ist das rechtlich getrennt zu behandeln, denn nur so ist die Rolle der Betriebsärzt*innen eindeutig: Sie haben aufgrund der Gefährdungsbeurteilung die Beschäftigten zu beraten. So könnte sich dabei etwa die Empfehlung für eine Hepatitis-B-Impfung ergeben, weil im klinischen Semester mit scharfen und spitzen Gegenständen gearbeitet wird und es zu Kontakt mit Blut der Patient*innen kommen könnte. Bei Hepatitis B kann es da nämlich, anders als bei HIV, tatsächlich ein relevantes Übertragungsrisiko geben, denn das Hepatitis-B-Virus ist etwa 100 Mal ansteckender als HIV. Die entsprechende Impfung ist gut verträglich und kann einen lebenslangen Schutz bieten.
Betriebsärzt*innen arbeiten also auf Basis des Arbeitsschutzgesetzes und kümmern sich um den Schutz der Arbeitnehmer*innen oder wie in unserem Fall um den der Studierenden. Worum geht es beim Infektionsschutzgesetz?
Dies behandelt den Schutz Dritter und bedeutet, dass Gesundheitseinrichtungen besondere Sorgfalt an den Tag legen und besondere Maßnahmen ergreifen müssen, damit die Patient*innen geschützt behandelt werden.
Betriebsärzt*innen haben keinen Auftrag, Eignungsuntersuchungen in Gesundheitsberufen durchzuführen
Das Infektionsschutzgesetz ist allerdings keine Grundlage, um Beschäftige arbeitsmedizinisch zu untersuchen, etwa bei Neueinstellungen. Das wäre dann nämlich eine Eignungsuntersuchung mit dem Ziel, Beschäftigten, also zum Beispiel Ärzt*innen und Pflegekräften, die Eignung für den Umgang mit Patient*innen zu bestätigen. Eine solche Eignungsuntersuchung ist in der arbeitsmedizinischen Vorsorgeverordnung jedoch überhaupt nicht vorgesehen und seit 2013 sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Betriebsärzt*innen haben also überhaupt keinen Auftrag, solche Untersuchungen durchzuführen.
Auf Basis der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung darf ich die Schweigepflicht nicht verletzen.
Die Betriebsärztin in Marburg aber hat ihre Rolle so definiert, dass sie sowohl für den Schutz des betroffenen Studenten wie auch der Mitstudierenden und Patient*innen verantwortlich sei. Deshalb war auch dem Studenten anfangs nicht klar, in welcher Funktion sie eigentlich mit ihm spricht.
Inwieweit sind Betriebsärzt*innen an den Datenschutz und die ärztliche Schweigepflicht gebunden?
Wenn ich auf Basis der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung agiere, dann darf ich die Schweigepflicht nicht ohne Einwilligung der Beschäftigten oder Studierenden verletzen. Gesetzlich bin ich verpflichtet, dem Arbeitgeber beziehungsweise der Hochschule mitzuteilen, dass Studierende die Beratung beziehungsweise Pflichtvorsorge wahrgenommen haben. Das wird mit einem Formular bestätigt.
Ich darf allerdings nicht mitteilen, was Gegenstand der Beratung war, ob die Person geimpft wurde, ein Rückenleiden hat – oder HIV-positiv ist. Geschieht dies doch, wird damit die Schweigepflicht verletzt.
Die Betriebsärztin hat im Fall des HIV-positiven Studierenden eine Expertenkommission einberufen, die über das weitere Vorgehen entscheiden sollte. Was ist die Funktion dieses Gremiums?
Die Expertenkommission ist die Ultima Ratio. Wenn ich als Betriebsarzt von der HIV-Infektion eines Studierenden, eines Pflegers, einer Ärztin Kenntnis erlangt habe, befinde ich mich möglicherweise im Spannungsfeld zwischen Arbeitsschutz und Infektionsschutz. Diese Information kann in einem konkreten Kontext vielleicht so wichtig sein, dass ich sie weitergeben müsste. Für solche Fälle holt man sich die Hilfe einer Kommission. Damit liegt die Entscheidung auf vielen Schultern, denn sie wird von Menschen verschiedener Fachrichtungen gemeinsam getroffen.
Liegt die Menge der HIV-Kopien im Blut unter der Nachweisgrenze, können Ärzt*innen alle, also auch „übertragungsträchtige“ Operationen durchführen.
Die Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten und die Gesellschaft für Virologie empfehlen eine solche Expertenkommission aber nur, wenn und solange bei Ärzt*innen mit HIV die Zahl der Viren im Blut über einer bestimmten Grenze liegt – die Rede ist hier von der Nachweisgrenze der gängigen Verfahren, konkret 50 HIV-Kopien pro Milliliter Blutplasma – UND wenn diese Ärzt*innen „übertragungsträchtige“ beziehungsweise verletzungsträchtige Operationen oder Tätigkeiten durchführen. Dazu gehört laut der Empfehlung zum Beispiel, wenn Ärzt*innen große Operationen in engen Verhältnissen und/oder ohne direkte Sicht durchführen.
Das heißt: Liegt die Menge der HIV-Kopien im Blut unter der Nachweisgrenze, gibt es überhaupt keinen Handlungsbedarf bei Ärzt*innen mit HIV, sie können dann alle, also auch „übertragungsträchtige“ Operationen durchführen.
Und Studierende, zumal der Zahnmedizin, fallen fachlich überhaupt nicht unter diese Empfehlung.
Im Marburger Fall lag die Zahl der HIV-Viren im Blut lediglich zweimal aufgrund einer Therapiepause über der Nachweisgrenze; der Student befand sich in dieser Zeit allerdings gar nicht im praktischen Teil der Ausbildung.
Hier eine Expertenkommission einzuberufen, war überhaupt nicht angemessen. Abgesehen davon war deren Zusammensetzung dem Studenten lange Zeit nicht bekannt. Das Vorgehen wurde nicht transparent gemacht. Für ein solches Vorgehen sollten eine Dienst- oder Betriebsvereinbarung und eine Geschäftsordnung für die Expertenkommission vorliegen. Muster liegen in der Studie der Freiburger Forschungsstelle Arbeits- und Sozialmedizin vor.
Die Universität hatte dem Studierenden auferlegt, eine Zeit lang jeden Monat einen Nachweis über die aktuelle Zahl der HIV-Kopien in seinem Blut beizubringen. Das sei notwendig, weil sich Studierende in den praktischen Kursen häufig verletzten und damit eine Gefahr für Mitstudierende bestehe. Kommt die Universität mit dieser Vorsichtsmaßnahme nicht ihrer Fürsorgepflicht nach?
Solche Nachweise wären überhaupt nur denkbar gewesen, wenn der Studierende große Operationen hätte durchführen wollen und er seine HIV-Tabletten nicht nähme. Diese Forderung der Universität ist also nicht verhältnismäßig.
Die Universität beruft sich ja auf häufige Verletzungen in den praktischen Kursen des Zahnmedizinstudiums. Wie können solche Gefährdungen minimiert werden?
Hier ist die Arbeitsschutzhierarchie zu beachten.
An der ersten Stelle steht die Technik. Kann ich beispielsweise über Absaugung oder weniger scharfe Werkzeuge das Verletzungsrisiko minimieren?
Zweitens die Organisation: Wie kann ich die Abläufe so organisieren, das Stress vermieden und durch Unterweisungen die Sicherheit erhöht wird?
Erst an dritter und letzter Stelle steht der persönliche Schutz der Arbeitnehmer*innen oder Studierenden, etwa durch Schutzimpfungen, medizinische FFP-Masken und Handschuhe.
Wenn ich ein großes Risiko für Verletzungen erkenne, könnte zum Beispiel empfohlen werden, dass bei bestimmten Tätigkeiten zwei Paar Handschuhe übereinander getragen oder doppelwandige Indikatoren-Handschuhe verwendet werden.
Darüber hinaus haben wir inzwischen jahrelange Erfahrungen mit der HIV-Post-Expositionsprophylaxe, der PEP. Sie kann, wenn sie rechtzeitig eingenommen wird, ein „Einnisten“ von HIV im Körper und damit eine HIV-Infektion verhindern.
Wenn es also zu möglichen Kontakten von Beschäftigen oder Patient*innen mit einer übertragungsrelevanten HIV-Menge gekommen sein könnte, können wir die PEP empfehlen und damit das Infektionsrisiko deutlich reduzieren.
Blutuntersuchungen der Beschäftigten oder der Studierenden im Rahmen des Arbeitsschutzes dagegen sind definitiv nicht vorgesehen.
Eine wichtige Basis für den Arbeitsschutz sind also Erkenntnisse dazu, wo es beispielsweise Verletzungsgefahren gibt. Die Universität Marburg gab auf Nachfrage der DAH keine Auskunft über die Zahl der Stich- und Schnittverletzungen bei Medizinstudierenden oder die Zahl der PEP-Verordnungen in diesem Zusammenhang.
Arbeitgeber sind im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung selbstverständlich verpflichtet, alle Unfallereignisse zu dokumentieren. Wenn die Uni Marburg sagt, dass sie solche Dokumente nicht hat, dann ist das eine Schutzbehauptung.
Wenn Studierende sich verletzen und in die Unfallambulanz gehen, wird ein sogenannter Durchgangsarzt-Bericht erstellt, in dem der Vorfall und die medizinische Intervention dokumentiert werden – sei es nun ein Pflaster oder eine PEP. Schließlich muss dieser Unfall der Berufsgenossenschaft gemeldet werden, nicht zuletzt, weil der Universität erst dann alle dafür entstandenen Kosten erstattet werden.
Bei HIV ist nicht die Verletzungs-, sondern die Infektionsgefahr entscheidend.
Im Arbeitssicherheitsgesetz ist zudem festgeschrieben, dass die Fachkräfte für Arbeitssicherheit gemeinsam mit den Betriebsärzt*innen die Arbeitgeber zu allen Fragen der Unfallverhütung und des Arbeitsschutzes beraten. Auch dazu werden diese Dokumentationen benötigt, um die Ursachen von Arbeitsunfällen überhaupt ermitteln und Maßnahmen zu deren Verhütung vorschlagen zu können. Diese Ergebnisse sollen laut der Arbeitsmedizinischen Regel 6.4 wieder in die zu aktualisierende Gefährdungsbeurteilung einfließen. Rechtlich sind Patient*innen- und Arbeitsschutz getrennt, praktisch aber ergänzen sie sich, denn minimierte Gefährdungen für Beschäftigte sind auch ein Schutz für Patient*innen.
Insofern ist die Aussage der Universität, es gäbe diese Daten nicht, meines Erachtens falsch. Oder die Universität verstößt gegen die Paragrafen 3 und 6 des Arbeitssicherheitsgesetzes und entsprechende Paragrafen des Arbeitsschutzgesetzes.
Die Universität hat stattdessen eidesstattliche Erklärungen vorgelegt, wonach Zahnmedizin-Studierende einer erhöhten Verletzungsgefahr ausgesetzt sind.
Da die Verletzungen angeblich gar nicht dokumentiert werden, sind dies keine objektiven Stellungnahmen, sondern persönliche Einschätzungen, die nicht auf einer fachlich sauberen Basis fundieren. Abgesehen davon ist bei HIV nicht die Verletzungs-, sondern die Infektionsgefährdung entscheidend. Und die internationalen Daten zur Zahnmedizin zeigen eben, dass es keine Infektionen gibt.
Würde eine erhöhte Verletzungsgefahr bei Menschen mit HIV eine erhöhte Infektionsgefahr bedeuten, müssten wir bei den vielen Millionen Menschen, die täglich auf Zahnarztstühlen sitzen, über die Jahre eine ziemlich hohe Quote an HIV-Infektionen haben. Das aber ist nicht der Fall. Wir haben für das gesamte Gesundheitswesen ein bis drei Meldungen zu HIV-Infektionen im berufsbedingten Kontext pro Jahr. Die Gefahr liegt nicht bei Null, aber sie ist äußerst gering – und minimal, wenn Menschen mit HIV durch einen Test von ihrer Infektion wissen und mit HIV-Medikamenten behandelt werden.
Wie sähe für Sie der optimale Umgang mit wissentlich HIV-positiven Studierenden aus?
Optimal ist, wenn eine HIV-Infektion bei Studierenden für die Universität keinerlei Rolle spielt.
Die Vorlage von Befunden zur aktuellen HIV-Menge im Blut als präventives Element hingegen – mit dem Ziel des Schutzes „Dritter“ – macht keinen Sinn, weil ich als Arbeitsmediziner über die konsequente Umsetzung von Basishygiene keine wesentlichen relevanten weiteren Maßnahmen empfehlen kann.
Erstens, weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass Menschen, die hierzulande von ihrer HIV-Infektion wissen, nicht in Therapie sind. Schon gar nicht Menschen, die eine medizinische Fachrichtung studieren oder im Gesundheitswesen arbeiten. Alle sind in standardisierten Behandlungen, in deren Rahmen aus Therapiegründen sowieso regelmäßig die HIV-Menge im Blut ermittelt wird.
Die Uni Marburg nimmt dem HIV-positiven Studierenden der Zahnmedizin die Möglichkeit, sich ausbilden zu lassen.
Und zweitens, weil alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, eigenverantwortlich arbeiten. Menschen in der Pflege, die Träger*innen von Noroviren oder multiresistenten Keimen sind, oder Chirurg*innen, bei denen die HIV-Menge im Blut etwa aufgrund einer Therapieumstellung zwischenzeitlich gestiegen ist, verhalten sich am Arbeitsplatz entsprechend und tragen die entsprechende Verantwortung.
Im Fall des Zahnmedizinstudenten wurde der HIV-Status von der Uni Marburg völlig überbewertet, und man nimmt dem Studierenden dadurch die Möglichkeit, sich ausbilden zu lassen. Das ist fachlich nicht korrekt und ethisch nicht vertretbar, denn diese Diskriminierung hat erhebliche psychologische, soziale und finanzielle Auswirkungen für den Studierenden.
Und nicht zuletzt gibt es auch eine politische Dimension, denn auch das privatisierte Universitätsklinikum Gießen und Marburg hat einen staatlichen Ausbildungsauftrag und muss fachlich und rechtlich angemessen handeln.
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