Empowerment

HIV-bezogene Diskriminierung von Beschäftigten im Gesundheitswesen: Wehrt euch!

Von Axel Schock
Nahaufnahme mehrerer erhobener Fäuste mit blauen Latexschutzhandschuhen auf rosa Hintergrund

Die Entlassung eines Pflegers aufgrund seiner HIV-Infektion hat für Empörung gesorgt. Doch Beschäftigte können und sollten sich gegen Diskriminierung durch Arbeitgeber*innen wehren.

Die arbeitsmedizinische Untersuchung schien für Carsten Müller (Name geändert) nur eine Formalität im Rahmen eines Stellenwechsels an der Charité zu sein. Der erfahrene Intensivpfleger nimmt seit vielen Jahren Medikamente zur Behandlung seiner HIV-Infektion, die Zahl der HIV-Kopien in seinem Blut (die sogenannte Viruslast) liegt unterhalb der Nachweisgrenze der üblichen Verfahren. Das hatte er in seiner Einstellungsuntersuchung auch mitgeteilt.

Doch die Betriebsärztin hatte damit überraschenderweise offenbar ein Problem. Letztlich verweigerte sie ihm die Eignungsbescheinigung – und Carsten Müller wurde noch in der Probezeit entlassen, weil er der ungerechtfertigten Auflage, Befunde zu seiner HIV-Therapie vorzulegen, nicht nachkam.

Carsten Müller zog vors Arbeitsgericht und die Charité stimmte im Rahmen eines Vergleichs einer Entschädigung zu – vermutlich auch, um ein längeres und öffentlich sichtbares Verfahren nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) abzuwenden.

Nachzulesen ist all dies in einem Beitrag von Benedict Wermter auf magazin.hiv.

„Es gibt selbst im medizinischen Bereich kaum Tätigkeiten, die mit hohem Risiko von HIV-Übertragungen für Patient*innen durch Personal verbunden sind“

Prof. Dr. Stefan Esser, HIV-Experte und Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft

Dieser Vorfall an Europas größtem Universitätsklinikum hat weite Kreise gezogen und deutliche Reaktionen von Unverständnis bis Empörung hervorgerufen. Der HIV-Status von Beschäftigten darf nämlich heute im Berufsleben praktisch keine Rolle mehr spielen – auch im Gesundheitswesen nicht –, die oft vermutete Gefahr einer Übertragung existiert faktisch nicht.

Konstruierte Übertragungsrisiken, extremes Sicherheitsbedürfnis

„Die Übertragungsmöglichkeiten von Berufstätigen auf Patient*innen im Alltag sind meistens konstruiert und es wundert nicht, dass sie in der Realität so gut wie nie stattfinden“, sagt Prof. Dr. Stefan Esser vom Universitätsklinikum Essen. „Solche Fälle sind eine absolute Ausnahme und stammen überwiegend aus einer Zeit, als die effektive antivirale Therapie noch nicht breit verfügbar war“, erläutert der HIV-Experte und Vorsitzende der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG). „Es gibt selbst im medizinischen Bereich kaum Tätigkeiten, die mit hohem Risiko von HIV-Übertragungen für Patient*innen durch Personal verbunden sind“, betont Esser.

Dies bestätigt auch Hubertus von Schwarzkopf, der seit 2009 dem Ausschuss für Arbeitsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angehört. „Die bestehende HIV-Infektion ist – unabhängig von der jemals gemessenen Viruslast – für die Tätigkeit des Pflegers nicht relevant“, so der Arbeitsmediziner. Bei den wenigen in den Empfehlungen der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten e.V. (DVV) und der Gesellschaft für Virologie e.V. (GfV) gelisteten medizinischen Tätigkeiten, für welche die Viruslast unter der Nachweisgrenze sein solle, handele es sich um chirurgische Eingriffe. „Dies aber trifft für Pflegekräfte nicht zu“, hebt Hubertus von Schwarzkopf hervor. „Sie führen bei Operationen Assistenzaufgaben aus, betreuen und versorgen operierte Patient*innen, aber sie operieren nicht!“

Darüber hinaus gelte für alle Situationen im Gesundheitswesen die Eigenverantwortlichkeit der Therapierenden und Pflegenden als aufgeklärte und ausgebildete Fachkräfte.

Überarbeitungsbedürftige Empfehlungen, Unklarheiten in der betriebsärztlichen Praxis

Der HIV-Experte Prof. Dr. Stefan Esser vermutet, dass die Empfehlungen der DVV und GfV, auch wenn sie eigentlich Klarheit schaffen sollten, tatsächlich häufig zu Unklarheiten und damit Unsicherheiten für den betriebsärztlichen Dienst führten. Sie stammen aus dem Jahr 2012 und sollen demnächst überarbeitet und an den aktuellen wissenschaftlichen Stand angepasst werden.

„Die Empfehlungen sagen, dass Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens, die mit HIV leben, unabhängig von ihrer Viruslast fast alle invasiven und operativen Tätigkeiten durchführen können – bis auf sogenannte übertragungsträchtige oder verletzungsträchtige Tätigkeiten, zum Beispiel bei beengtem Operationsfeld mit beschränkter Sicht“, erklärt Kerstin Mörsch von der Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung der Deutschen Aidshilfe. „Ist die Viruslast unter 50 Kopien pro Milliliter, können auch diese Tätigkeiten ausgeführt werden.“

Hinzu komme, dass Betriebsärzt*innen laut der „Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge“ und der Arbeitsmedizinischen Empfehlung „Betriebsärztinnen und Betriebsärzte im Gesundheitswesen“ keine Eignungsuntersuchungen durchführen dürften, solange dafür keine betriebsinternen zusätzlichen Regelungen wie Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vorliegen, die geltendes Recht wie den Datenschutz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz beachten, ergänzt Kerstin Mörsch und beruft sich dabei auf den Arbeitsmediziner Dr. von Schwarzkopf.

„Es werden Maßnahmen eingefordert, die in keinem Verhältnis zum realen HIV-Übertragungsrisiko stehen.“

Prof. Dr. Stephan Esser, HIV-Experte und Vorsitzender der Deutschen AIDS-Gesellschaft

„Meiner Auffassung nach wird durch ein extremes Sicherheitsbedürfnis häufig überreagiert und es werden Maßnahmen eingefordert, die in keinem Verhältnis zum realen HIV-Übertragungsrisiko stehen“, sagt der HIV-Mediziner Professor Esser. „Es ist daher keineswegs notwendig, dass allen im Gesundheitswesen HIV-positiven Beschäftigten auferlegt wird, regelmäßig ihre Viruslast vorzulegen.“

HIV-bezogene Diskriminierung aus Unkenntnis?

Das Wissen um die tatsächlichen HIV-Übertragungsrisiken und die Nichtinfektiösität durch die Behandlung sollte man eigentlich bei allen Beschäftigten im Gesundheitswesen erwarten können, zumal in einem Klinikum, das sich seiner medizinischen Forschung, Ausbildung und Hochleistungsmedizin rühmt.

Stephan Lehmann ist Pflegedienstleiter des Berliner FELIX-Pflegeteams, das aus einem Selbsthilfeprojekt speziell für Menschen mit Aids hervorgegangen ist. Die Versorgung von Menschen mit HIV oder Aids wie auch die Beschäftigung von Pflegekräften mit HIV sind bei FELIX damals wie heute selbstverständlich.

Umso unverständlicher ist für Lehmann der Umgang der Charité mit dem Carsten Müller. Er hofft aber, dass das Verhalten der Betriebsärztin nicht stellvertretend für das gesamte Klinikum steht. „Wenn man es wohlwollend beurteilen möchte, wird sie womöglich schlicht unsicher gewesen sein und ihr fehlte das Wissen, dass HIV im Arbeitskontext nicht übertragbar ist, schon gar nicht unter einer Therapie.“

Für Lehmann ist es wichtig, dass Mitarbeitende im Arbeitsumfeld offen über ihre HIV-Infektion sprechen und dadurch Vertrauen und Sicherheit erleben können. Für den Berufsalltag in der Pflege aber spielt HIV keine Rolle. „Bei der Arbeit gibt es keine Übertragungsrisiken, zumal bei Einhaltung der normalen Hygieneregeln“, sagt Stephan Lehmann. „Ein Infektionsrisiko besteht lediglich, wenn sich jemand mit einer infizierten Nadel sticht. Aber dann ist die Pflegekraft gefährdet und nicht der Patient oder die Patientin.“

„Bei der Arbeit gibt es keine Übertragungsrisiken, zumal bei Einhaltung der normalen Hygieneregeln“

Stephan Lehmann, Pflegienstleiter des Berliner FELIX-Pflegeteams

So unverständlich für ihn der Vorfall an der Charité ist, wirklich überraschend ist er für Lehmann nicht. Er erlebe in seinem beruflichen Alltag immer wieder, wie diffus bei einzelnen Personen das Wissen um HIV bisweilen noch ist – sei es beim Arbeitsschutzbeauftragen der zuständigen Berufsgenossenschaft oder in Krankenpflegeschulen, an denen er unterrichtet. So musste er im Rahmen dieser Lehrtätigkeit erfahren, dass den Auszubildenden mancherorts HIV-Tests aufgenötigt werden, obwohl dies weder zulässig noch notwendig sind, oder Krankenakten in Signalfarben mit „HIV“ gekennzeichnet werden.

Gegen HIV-bezogene Diskriminierung kann und sollte man sich wehren

Fälle von stigmatisierendem und diskriminierendem Umgang mit HIV gibt es mehr, als man vermuten würde, bestätigt auch Kerstin Mörsch. Der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind vergleichbare Fälle HIV-bezogener Diskriminierung wie der des entlassenen Charité-Pflegers allerdings bisher nicht bekannt, teilt der Pressesprecher von ver.di Berlin-Brandenburg, Kalle Kunkel, auf Anfrage mit.

Der Grund dafür mag schlicht sein, dass nur wenige der betroffenen Beschäftigten sich wehren und den Klageweg bestreiten. Möglicherweise, weil sie keine Erfolgschancen sehen oder durch die Anwalts- und Prozesskosten abgeschreckt werden.

Die Gewerkschaft ver.di unterstützt Mitglieder bei Rechtsstreitigkeiten

Sich für eine Klage zu entscheiden, fällt häufig schwer, bestätigt Kerstin Mörsch von der DAH-Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung. „Es kostet Zeit und Geld und man muss sich möglicherweise längere Zeit mit dem diskriminierenden Geschehen auseinandersetzen“, so Mörsch.

Dennoch sei es wichtig, solche Klagen zu führen. „Einerseits wehren sich Menschen gegen das erfahrene Unrecht und andererseits können Urteile dabei herauskommen, die anderen in ähnlichen Situationen weiterhelfen können“, erklärt Kerstin Mörsch. „Und, last but not least: Wenn niemand juristisch gegen die unrechtmäßigen Vorschriften und Auflagen vorgeht, werden sie sich so schnell nicht ändern und alles geht so weiter wie bisher. Das darf nicht passieren.“

Was viele nicht wissen: Wer, wie Carsten Müller, aufgrund seiner HIV-Infektion von Arbeitgeber*innen benachteiligt oder diskriminiert wurde, kann von der Gewerkschaft Unterstützung erhalten, um das eigene Recht durchzusetzen. „HIV kann nie ein pauschaler Kündigungsgrund sein“, stellt Kalle Kunkel fest. Gegen vergleichbare Diskriminierungen durch Arbeitgeber*innen sollten Betroffene deshalb unbedingt vorgehen.

In einem ersten Schritt müsste der Betriebs- oder Personalrat des Unternehmens eingeschaltet werden, weil er beispielsweise Einspruch gegen eine Kündigung einlegen könne. Lasse sich auf diesem Weg nichts erreichen, könnten sich Mitglieder auch direkt an ver.di wenden, so der Pressespreche des ver.di-Landesverbandes Berlin-Brandenburg Kalle Kunkel.

„Bei arbeitsrechtlichen Problemen können neue Mitglieder bereits ab dem ersten Tag Rechtsberatung in Anspruch nehmen, erklärt Kunkel. Nach einer Frist von drei Monaten übernehme ver.di dann bei arbeitsrechtlichen Prozessen, die Aussicht auf Erfolg haben, alle anfallenden Kosten.

Kerstin Mörsch rät allen Menschen, die aufgrund ihrer HIV-Infektion Diskriminierungserfahrungen machen, sich an die Aidshilfen zu wenden und gemeinsam zu besprechen, was dagegen unternommen werden kann.

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