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„Letztlich empfahl der Anstaltsarzt meinem Bruder, sich im Hof Drogen zu besorgen“

Von Gastbeitrag
Foto: @ privat

Claudia Jaworski hat ihrem heroinabhängigen Bruder Substitutionsmittel ins Gefängnis gebracht, weil ihm in Haft die Behandlung verweigert wurde – und steht nun selbst vor Gericht. Aus einer besorgten Schwester wurde eine Aktivistin. 

Interview: Marion Nawrath

Update der Redaktion vom 16.6.2021: Claudia Jaworski wurde am 15.6.2021 zu 60 Tagessätzen verurteilt. Sie will nun Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen und den Weg durch alle Distanzen gehen – bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Es ist ein Teufelskreis. Sucht, Straffäl­ligkeit, Inhaftierung – und wieder von vorne. Jahrelang hat Claudia Jaworski ihrem Bruder dabei zusehen müssen. Sie verstand: Substitution kann der Ausweg sein. Doch während des letz­ten Gefängnisaufenthalts in der JVA Bernau in Bayern wurde ihrem Bruder diese Standard-Therapie verweigert.

Zu wenig Substitution in Haft

Das ist kein Einzelfall. Obwohl die medizinische Versorgung in Haft laut Gesetz nicht schlechter sein darf als in Freiheit, erhält nur ein Viertel der etwa 20.000 Opioidabhängigen in deutschen Gefängnissen eine Substi­tutionstherapie – halb so viel wie draußen. Im Maßregelvollzug sind es nur 10% der in Frage kommenden Patient*innen. Viele Haftanstalten bieten keine Substitution an. Darauf hat im Mai der Suchtforscher Profes­sor Dr. Heino Stöver von der Frankfurt University of Applied Sciences hin-gewiesen.

Kampf für das Recht auf Behandlung

Claudia Jaworski nahm die Sache schließlich selbst in die Hand. Bei einem Besuch brachte sie ihrem Bru­der das Substitutionsmittel Subutex® mit, mit dem er auch schon vorher behandelt worden war. Am 15.6. steht sie deswegen vor dem Amtsgericht Rosenheim – und kämpft für das Recht Inhaftierter auf eine angemessene medizinische Behand­lung.

Frau Jaworski, Sie sind eigentlich Fernsehredakteurin, üben den Beruf aber momentan nicht aus. Wie kam es dazu?

Das hängt mit dem Fall meines Bruders zusammen. Ich war in der Entertainment-Branche tätig, aber als ich nach und nach Einblick bekommen habe, was sich hinter den Mauern unserer Gefängnisse abspielt, konnte ich diesen Spagat nicht mehr bewältigen. Prominenten schenken wir eine Bühne und rücken sie ins Rampenlicht, obwohl es auf der anderen Seite Menschen gibt, die nicht gesehen und nicht gehört werden. Das ist ein gewaltiges Ungleichgewicht, das ich moralisch nicht aushalten konnte.

Erzählen Sie uns von ihrem Bruder.

Mein Bruder ist jetzt 36 und seit 17 Jahren heroinabhängig. Ich habe lange zugeguckt, wie er sich im Kreis dreht und hatte entsprechend viel Gelegenheit zu begreifen, dass Sucht eine schwere chronische Erkrankung ist. Ich muss zugeben, dass auch ich mich lange vom Abstinenzgedanken habe leiten lassen: Richtig macht man es demnach nur, wenn man vollkommen clean ist – am besten sofort. Diese Vorstellung ist immer noch vorherrschend in unserer Gesellschaft. Dementsprechend habe ich das Thema Sucht moralisch betrachtet und ihm mangelnden Willen und Charakterschwäche unterstellt. Das ist fatal, weil es die medizinischen Aspekte völlig außer Acht lässt. Einem suchtkranken Menschen ist nicht geholfen, wenn man ihm Vorwürfe macht. Ich habe meinem Bruder damit Unrecht getan. Das zu begreifen, war ein Erkenntnisprozess, der Zeit brauchte.

Wie kam es dazu, dass sie schließlich Substitutionsmittel ins Gefängnis gebracht haben?

Zunächst mal: Alle seine Inhaftierungen beruhten auf konsumnahmen Delikten, also auf genau solchen Schwierigkeiten, die sich mit einer fachgerechten Substitutionsbehandlung eigentlich vermeiden lassen. Sein Leben war ein ständiges Wechselspiel zwischen Freiheit und Haft. 2018 landete er in der JVA Bernau. Er hatte zu seiner Substitutionspraxis häufig pendeln müssen, hatte aber kein Geld dafür. Also fuhr er entweder schwarz oder finanzierte sich die Tickets auf fragwürdige Weise. Erneut landete er in der Illegalität – und wieder im Gefängnis.

Wurde die Substitution im Gefängnis nicht fortgesetzt?

Nein. Aber das habe ich leider erst spät erfahren. Mein Bruder erzählte uns, seiner Familie, vieles nicht mehr, weil wir diese Vorwurfshaltung hatten. Wer hat schon Lust sich permanent Moralpredigten anzuhören und sich zu rechtfertigen? Aber wir haben ihn regelmäßig besucht, alle zwei Wochen. Dabei habe ich beobachten müssen, dass mein Bruder besorgniserregend abbaute. Sowohl psychisch als auch körperlich. Irgendwann habe ich ihm auf den Zahn gefühlt. Er erzählte mir, dass er ein Disziplinarverfahren nach dem anderen bekam.

Er wurde für Fehlverhalten innerhalb der JVA bestraft?

Sobald du eine positive Urinkontrolle hast, wenn also der Konsum von „Betäubungsmitteln“ – darunter fallen Drogen, aber auch Substitutionsmittel –  nachgewiesen wird, werden alle Register gezogen. Bis hin zum Bunker.

„Bunker“ hört sich mittelalterlich an. Was genau bedeutet das?

Das ist ein anderes Wort für Isolationshaft. Als wäre es nicht genug Strafe, dass Häftlinge wegen positiver Urinkontrolle keine Einkäufe tätigen oder fernsehen dürfen. Ihnen wird jede Möglichkeit zur Zerstreuung genommen, die in Haft aber elementar ist. Oft verlieren sie sogar ihren Job. Und dann kommt die Bunkerstrafe noch obendrauf.  Mein Bruder saß Tage, einmal sogar mehrere Wochen am Stück, isoliert in einer kleinen Einzelzelle mit einem winzigen Fenster. Nur die Bibel darfst du dort lesen. Dementsprechend war er depressiv und psychisch instabil. Erst als er mir davon berichtet hat, habe ich erfahren, dass ihm über den kompletten Zeitraum der Haft das Substitutionsmittel verweigert worden war. Letztlich wurde er für die Folge des Fehlverhaltens des Anstaltsarztes bestraft. Das ist doch irre!

Substitution nimmt den Suchtdruck – hätte also weiteren Substanzkonsum verhindern können. War das der Moment, in dem Sie beschlossen haben, selbst zu handeln?

Nicht sofort. Ich fand das zwar entsetzlich und habe mich gefragt, wie es sein kann. Aber zunächst habe ich angefangen mich in die Suchtproblematik einzulesen und Fachleute zu konsultieren. Ich habe viele Bücher gelesen, die die Psychodynamik hinter der Opiatabhängigkeit erklären. Damals hörte ich auch zum ersten Mal vom Äquivalenzprinzip: Die medizinische Versorgung in Haft darf nicht schlechter sein als die von Kassenpatient*innen draußen. Da ist mir klargeworden: Die Strafe ist der Freiheitsentzug. Der darf aber nicht zusätzlich zum Entzug von Menschenrechen beziehungsweise medizinischer Versorgung führen.

Was hat den Ausschlag gegeben, dass Sie tätig wurden?

Ich habe in diesem Moment endlich verstanden, dass mein Bruder Substitution brauchte. Dann habe ich noch aus der Presse erfahren, dass in seiner JVA ein Häftling zu Tode gekommen war und dass Verdacht auf unterlassene Hilfeleistung bestand.  Da beschloss ich einzugreifen, um meinem Bruder ein solches Schicksal zu ersparen. Immerhin ist der Auslöser gewaltvoller Auseinandersetzungen meistens drogenbedingt.

Hat Ihr Bruder denn in Haft nicht nach Substitution gefragt?

Doch, gleich zu Beginn. Die Behandlung wurde ihm so selbstverständlich verweigert, dass er die Hoffnung verlor. Der Anstaltsarzt schlug ihm allen Ernstes vor, sich „das Zeug“ auf dem Hof zu besorgen. Damit hat er seine Fürsorgepflicht verletzt und eigentlich auch gegen die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung verstoßen. Unfassbar.

Also haben Sie die Sache selbst in die Hand genommen und ihm Subutex organisiert, ein Medikament, mit dem er auch vorher schon behandelt worden war. War Ihnen klar, dass Sie sich damit strafbar machen?

Mir war vor allem klar, dass mein Bruder dringend Hilfe brauchte und dass es keine Chance gab, eine Substitutionsbehandlung in der JVA schnell zu erwirken ohne den Rechtsweg zu beschreiten. Für mich war das eine „Notstandshandlung“, wie es juristisch heißt. Der Zustand meines Bruders war so alarmierend, dass ich aus tiefer Überzeugung gehandelt habe. Ich habe ihm zwei Tabletten unauffällig in die Hand gedrückt. Leider ist er noch während meines Besuchs damit aufgeflogen.

Was ist passiert?

Mein Bruder musste auf die Toilette und es gab eine schnelle Routinekontrolle. Dabei werden die Hosentaschen abgeklopft und so weiter. Er hat die Tabletten zwar vorher noch schnell rausgeholt, aber sie haben sie trotzdem entdeckt.

Wurden Sie sofort verdächtigt?

Ja. Auch wenn mein Bruder geleugnet hat, die Tabletten von mir zu haben. Ich habe dann wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz einen Strafbefehl über 90 Tagessätze à 80 EUR erhalten. Macht 7200 EUR.

Wenn Sie das Geld gezahlt hätten, wäre die Geschichte für Sie erledigt gewesen. Warum lassen Sie es trotzdem auf eine Verhandlung ankommen?

Ich will unbedingt die verborgenen Zusammenhänge aufs Tapet bringen. Ich möchte erzählen, warum ich so gehandelt habe. Und ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich davon erfahren. Deswegen habe ich mich auch sehr über das Medieninteresse gefreut. Eigentlich sollte mein Fall schon letztes Jahr verhandelt werden, aber einen Tag vor dem Termin hat der Bayerische Rundfunk einen kritischen Beitrag über die Substitutionspolitik der JVA Bernau ausgestrahlt. Noch am selben Tag hat die Richterin die Verhandlung ohne Begründung abgesagt.

Das Engagement für Ihren Bruder hat Ihr Leben komplett umgekrempelt. Wie reagiert Ihr Umfeld darauf?

Viele fragen mich entsetzt, warum ich mich freiwillig an den Pranger stelle und was mein Arbeitgeber wohl sagen wird, wenn er mein Führungszeugnis sieht. Genau diese Haltung finde ich ja so fragwürdig. Wenn deren Verständnis von Moral lautet, möglichst glimpflich davon zu kommen, beschmutze ich gerne meine weiẞe Weste. Was ist ein Eintrag ins Führungszeugnis im Vergleich zu systematischen Rechtsbeugungen hinter den Mauern? Sich um meine Zukunft zu sorgen ist niedlich. Wirklich essenziell und akut ist die Sorge um die Lage von Inhaftierten, die menschenunwürdig behandelt werden.

Verletzt Sie diese Haltung?

Ja, denn das ist ja genau die Doppelmoral die ich anprangere. Es wird nur die eine Seite der Mauer gesehen. Manchmal bin ich regelrecht verzweifelt darüber. Natürlich ist es unbequem, das Thema anzugehen. Und es erfordert Mut. Aber wenn jemand wie ich, jemand mit einer weißen Weste, in einem Rechtsstaat bei einem legitimen Anliegen eine illegale Handlung als einzigen Ausweg sieht, dann ist doch wohl dies das eigentliche Problem.

Was erhoffen Sie sich von der Verhandlung?

Zunächst einmal, dass sie nicht zu einem bürokratischen Routineakt verkommt. Das lass ich nicht zu. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Justiz sich ihren Auftrag der Fürsorgepflicht und der Justizvollzugskontrolle in Erinnerung riefe und ihre Aufgabe nicht nur auf das Demonstrieren staatlicher Autorität und Hoheit beschränken würde. Langfristig würde ich mir eine Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins für Suchterkrankungen wünschen. Denn was wirklich geächtet gehört, ist eine andere Art von Abhängigkeit: die Pfadabhängigkeit.

Das bedeutet, dass immer wieder die gleichen Wege beschritten werden – auch wenn es bessere Alternativen gäbe. Was meinen Sie hier konkret damit?

Unsere Gefängnisse, gerade in Bayern, sind auf einem mittelalterlichen „Strafe muss sein“-Trip hängen geblieben. Einer permanent um sich selbst kreisenden Logik à la „das Gefängnis ist ein Gefängnis ist ein Gefängnis“. Warum Alternativen, wenn es Gefängnisse gibt? Strafe muss sein, sonst wäre es keine Strafe. Was Recht ist, muss Recht bleiben. DAS ist ein wirklich fragwürdiges Abhängigkeitsmuster, was endlich abgesperrt oder abgeschafft gehört!

Frau Jaworski, wie geht es Ihrem Bruder heute?

Inzwischen ist er wieder in Freiheit und bekommt die Behandlung, die ihm zusteht.

Vielen Dank für das offene Gespräch!

„Für eine wissenschaftlich basierte Substitutionspraxis in bayerischen Haftanstalten“ – gemeinsames Positionspapier von Akzept e.V., Aidshilfen, Caritasverbänden, Fachberatungsstellen und weiteren

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