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Aufruf zur Wende

Von Axel Schock
Packung Mondos-Kondome, Bild zum Beitrag zum AIDS-Memorandum DDR
Mondos-Kondome aus der DDR, Foto: DDR Museum, Berlin
Am 21. Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall und mitten in der Wende, fordert ein Memorandum eine radikale Neuorientierung der Aids-Prävention der DDR.

Zwei Todesfälle infolge von Aids wurden 1987 in der DDR registriert, in der Bundesrepublik waren es im gleichen Jahr 683. Dennoch wurde diese Zahl nur hinter verschlossenen Türen bei einer Sitzung des Politbüros, aber nicht über die DDR-Medien an die Bevölkerung kommuniziert.

Zwar gab es kaum offen schwules Leben in der DDR und offiziell auch keine Prostituierten und Drogengebraucher_innen, und außerdem war der Reiseverkehr in Richtung Westen extrem eingeschränkt, doch die Regierung in Ost-Berlin zeigte sich bereits nach den ersten Meldungen über die neue Immunschwächekrankheit sehr beunruhigt.

Zielgruppenspezifische Prävention? In der DDR Fehlanzeige

1986 richtete das Ministerium für Gesundheitswesen die AIDS-Beraterkommission unter Prof. Dr. Niels Sönnichsen ein, seinerzeit Direktor der Universitäts-Hautklinik der Berliner Charité. Er entwickelte eine Strategie zur HIV-Bekämpfung in der DDR, sah dafür aber anders als in der Bundesrepublik keine Notwendigkeit einer zielgruppenspezifischen Prävention, obwohl von den für 1988 offiziell 350 geschätzten und 100 registrierten HIV- bzw. Aidsfällen etwa 80 Prozent auf Männer, die Sex mit Männern haben, entfielen.

Der im gleichen Jahr vorgelegte zehnseitige „Maßnahmenplan“ zur Aidsbekämpfung sah aber nur allgemeine Informationen für die Gesamtbevölkerung vor. So sollten vor allem Schüler_innen und Studierende über die Gefahren aufgeklärt werden und ins Ausland reisende DDR-Bürger_innen ausreichend Gleitgel und Kondome zur Verfügung gestellt bekommen.

Währenddessen hatten die unter dem Dach der Kirchen angesiedelten Arbeitskreise von Lesben und Schwulen die Aufklärungsarbeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst in die Hand genommen und den „Zentralen AIDS-Arbeitskreis“ gegründet – die oft reißerische Berichterstattung in den Westmedien hatte natürlich auch die Schwulenszene der DDR beunruhigt und zum Handeln bewegt.

„Mit unserem Anliegen – zum Beispiel garantierte Anonymität beim HIV-Antikörpertest … oder zielgruppenspezifische Prävention für schwule Männer – fanden wir bei Prof. Sönnichsen und den Mitgliedern der AIDS-Beraterkommission kein Gehör“, erinnerte sich 1993 Olaf Leser, der in den 80er-Jahren dem Zentralen AIDS-Arbeitskreis der DDR angehörte.

Epidemiolog_innen in Ost und West waren nach dem Mauerfall alarmiert

Doch spätestens mit dem 9. November 1989 war die Politik von Niels Sönnichsen und seiner Kommission obsolet. Mit der Öffnung der Mauer schien für manch Angehörigen der DDR-Ministerien gleichsam das Tor zur Hölle geöffnet. „Groß war etwa die Angst …, dass die bislang gut behüteten DDR-Bürger den Gefahren und Versuchungen des Kapitalismus nicht gewachsen seien. … Insbesondere Jugendliche, die sich womöglich weder gegen die vermeintliche Attraktivität von Drogen noch gegen das sexuelle Angebot des West-Berliner Rotlichtmilieus wehren könnten, schienen gefährdet“, schrieb Henning Tümmers in seiner 2017 veröffentlichten Studie zur Aids-Bekämpfung in den beiden deutschen Staaten („AIDS – Autopsie einer Bedrohung im geteilten Deutschland“).

„Ungeheure Hysterie“

„Es ist davon auszugehen, dass bereits Prostituierte und Strichjungen aus der DDR in Berlin-West und Großstädten der BRD ‚arbeiten‘, ohne die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen“, heißt es in einer Aktennotiz Sönnichsens nach einem Treffen mit Vertreter_innen der West-Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. „Daneben dringen Homosexuelle aus der DDR in die Westberliner Szene ein bzw. erfolgen umfangreiche Besuche aus Berlin-West in die DDR. Die Gefährdung wird für beide Seiten als groß eingeschätzt“, so Sönnichsen weiter – auch im Westen wurde die Maueröffnung offenbar als epidemiologische Bedrohung wahrgenommen. Die Berliner Aids-Hilfe und schwule HIV-Präventionsprojekte reagierten zum Beispiel mit Vor-Ort-Aktionen in Szenelokalen.

In der DDR sorgten Niels Sönnichsen und die AIDS-Beraterkommission für „ungeheure Hysterie“, erinnert sich der spätere DAH-Vorstand Olaf Leser: „Interviews wurden gegeben, die Pressemeldungen überstürzten sich, unzählige Flugblattaktionen wurden gestartet.“ Für ihn und viele andere Mitstreiter_innen aus dem Umfeld des AIDS-Arbeitskreises war dies ein verantwortungsloser Umgang mit den Ängsten und Sorgen der Bevölkerung, insbesondere denen schwuler Männer.

Das Memorandum zur Aids-Politik der DDR war eine Generalabrechnung

Angesichts dieser Lage verfasste der Sexualwissenschaftler Günter Grau zusammen mit Rainer Herrn, dem Leiter der AIDS-Hilfe Leipzig, ein Memorandum mit dem Titel „Aktuelle Erfordernisse im Umgang mit AIDS in der DDR“. Doch der sachliche Titel täuscht: Das am 21. Dezember 1989 veröffentlichte Papier, gerichtet an den Minister für Gesundheitswesen, war nicht weniger als eine Generalabrechnung.

In ihrem Memorandum bezeichneten die beiden Autoren die bisherige Gesundheits- und Aidspolitik der DDR als „lieblos und seelenlos“. Den Maßnahmenplan habe man bewusst zur Verschlusssache erklärt, öffentliche Kritik und damit auch eine „sexualwissenschaftliche und ethische Erörterung von mit dem Aids-Komplex verbundenen Fragen“ unterbunden.

Grau und Herrn hielten den gesamten Ansatz für ungeeignet und plädierten stattdessen für einen Präventionsansatz, wie er beispielsweise in der Bundesrepublik bereits etabliert war: Anstatt den Eindruck zu erwecken, der Staat schütze seine Bürger_innen, sei eine Anti-Aids-Strategie gefordert, „die davon ausgeht, dass der einzelne sich aktiv und selbstbestimmt mit der neuen Viruserkrankung auseinandersetzen kann.“ Nur so könne es zu den notwendigen Veränderungen im Sexualverhalten kommen.

Gefordert: aktive und selbstbestimmte Auseinandersetzung mit HIV

Entscheidend dabei sei, die Aufklärungskampagnen komplett zu überdenken. Günter Grau, Sexualwissenschaftler und Fachkraft in der Ehe-, Sexual- und Familienberatung, machte das in seinem 1990 erschienenen Buch „AIDS. Krankheit oder Katastrophe?“ anhand der ab 1987 in hoher Auflage verbreiteten Broschüren „AIDS. Was muss ich alles wissen – Wie kann ich mich schützen?“ von Niels Sönnichsen deutlich: „Ohne nach Alter, sozialem Umfeld, sexueller Orientierung zu differenzieren, wird 16 Millionen DDR-Bürgern ein gleiches Infektionsrisiko und damit ein identisches Aufklärungsbedürfnis unterstellt“.

Die im Memorandum von Günter Grau und Rainer Herrn vorgetragene Kritik reicht aber noch weiter. Die von Sönnichsen öffentlich bekundete fruchtbare Kooperation zwischen Aids-Expert_innen und schwulen Selbsthilfegruppen ist in ihren Augen eine bewusste Irreführung. Eine solche Zusammenarbeit habe es nie gegeben. Und der HIV-Antikörpertest sei nicht anonym, sondern in vielen Fällen sogar zwangsweise vorgenommen worden, etwa bei Strafgefangenen.

Die im Memorandum gestellten Forderungen sind klar, pragmatisch und kompromisslos: Die führenden Köpfe der bisherigen Gesundheitspolitik müssten zur Rechenschaft gezogen werden, die HIV-Prävention gemeinsam mit unabhängigen Expert_innen aus Medizin und Sozialwissenschaft sowie mit Vertreter_innen der Selbsthilfe neu konzipiert werden. Als besonders dringend wird die Safer-Sex-Aufklärung für schwule Männer genannt. Bei HIV-Tests und Beratung müsse Anonymität garantiert sein, die Selbsthilfe müsse finanziell vom Staat unterstützt werden.

Spätes Umdenken in der DDR-Aids-Politik

Das Memorandum besiegelte die bisherige HIV/Aids-Politik der DDR. Die Kampfansage fand sogar in West-Medien wie dem Berliner „Tagesspiegel“ ein Echo; Sönnichsen wie auch die DDR-Gesundheitsbehörden waren dadurch unter Druck geraten.

Drei Tage vor der Veröffentlichung hatte er bei einem Gespräch mit Kolleg_innen des Bundesgesundheitsamtes ein Umdenken in der HIV-Prävention erkennen lassen: „Für die DDR wird die Arbeit mit Selbsthilfegruppen und ähnlichen Organisationen eine neue Aufgabe sein, bei deren Gestaltung möglichst die bisherigen großen Erfahrungen aus der Bundesrepublik einfließen sollten“, fasste Sönnichsen das Gespräch in einer Aktennotiz zusammen.

Derweil hatte eine Gruppe schwuler Männer bereits die Gründung der AIDS-Hilfe DDR vorbereitet. Bereits im Dezember 1989, dem Monat ihrer Gründung, veröffentlichte sie ein Infoblatt für schwule Männer und startete eine enge Kooperation mit der bundesrepublikanischen Deutschen AIDS-Hilfe. Das Ministerium für Gesundheitswesen konnte den neu gegründeten Dachverband, unter dem sich ein gutes Dutzend Aidshilfen aus allen Teilen der DDR vereint hatten, nicht mehr ignorieren.

Doch das freundliche Angebot, die überarbeiteten Richtlinien der HIV-Prävention kommentieren zu dürfen, war den Mitstreiter_innen in der AIDS-Hilfe DDR zu wenig. Sie forderten selbstbewusst, dass alle restriktiven Maßnahmen wie die namentliche Meldepflicht außer Kraft gesetzt werden müssten. Im April 1990 kam schließlich das Angebot des Ministeriums, aktiv an einer neuen Anti-Aids-Strategie mitzuwirken. Doch mit der Unterzeichnung des Einigungsvertrag am 3. Oktober 1990 war das Ende der sich gerade erst etablierenden AIDS-Hilfe DDR auch schon wieder besiegelt: Sie ging mit dem Jahresende in der Deutschen AIDS-Hilfe auf.

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