Philadelphia: Als Aids ausnahmsweise mal zum Kinohit wurde
Vor 20 Jahren kam Jonathan Demmes Drama „Philadelphia“ in die deutschen Kinos. Bis heute hat kein anderer Film zum Thema HIV/Aids so viele Zuschauer erreicht wie diese Oscar-prämierte Hollywoodproduktion. Ein Kalenderblatt von Axel Schock
Lange Zeit war man gerade auch in den USA versucht, Aids als Randgruppenproblem abzutun. Doch Anfang der 1990er-Jahre waren bereits über 200.000 Aidstote allein unter US-Bürgern zu beklagen – viermal so viele Menschen wie in Vietnam US-Soldaten ums Leben gekommen waren.
Über diesen Krieg und seine Folgen hat man aus unterschiedlichsten Perspektiven mehrere Dutzend große Kinospielfilme gedreht. Das Thema Aids aber hatte Hollywood den kleinen unabhängigen Filmemachern überlassen, die mit viel Engagement und schmalem Budget Geschichten über das Leben und Sterben von Betroffenen erzählten.
Hollywood hat sich lange Jahre dem Thema verschlossen
Wie es genau zum Film „Philadelphia“ kam, der am 24. Februar 1994 in den deutschen Kinos anlief, dazu gibt es gleich mehrere Mythen. Einer besagt, Hollywood habe sich dem Thema nicht mehr länger verschließen können angesichts der vielen Kreativen aus den eigenen Reihen, die mittlerweile der Krankheit erlegen waren.
Nach einem anderen Mythos habe Jonathan Demme nach seinem Kassenerfolg „Das Schweigen der Lämmer“ die Carte blanche für ein neues Projekt bekommen. Die Aidsdiagnose des mit ihm befreundeten Illustrators Juan Suarez Botas sei zu seiner persönlichen Initialzündung für diesen Film geworden.
„Philadelphia“ erzählt, angelehnt an einen tatsächlichen Fall, von Andrew Beckett (gespielt von Tom Hanks), dem aufstrebenden Anwalt einer renommierten Kanzlei. Der erhält völlig überraschend die Kündigung, weil er eine wichtige Akte verschlampt haben soll, in Wahrheit jedoch, weil seine Aids-Erkrankung und seine Homosexualität bekannt geworden sind.
„Philadelphia“ beruht auf einem wahren Gerichtsfall
Beckett will gegen diese Diskriminierung klagen, doch er findet erst nach vielen Mühen in Joe Miller (Denzel Washington) einen Anwalt, der ihn in diesem Fall vertritt. Auch dieser muss sich erst mit den eigenen Vorurteilen gegenüber Schwulen auseinandersetzen. Der Prozess wird zum Wettlauf gegen den Tod.
„Philadelphia“ ist ein ausgesprochen moralischer Film, der Toleranz und den uramerikanischen Grundsatz der Gleichheit beschwört – und nicht von ungefähr in Philadelphia, dem Geburtsort der amerikanischen Verfassung spielt. Beinahe zehn Jahre hatte Hollywood gebraucht, um mit einer starbesetzten Großproduktion einen Spielfilm zu Aids zu produzieren, der ein möglichst breites Publikum anspricht.
Deshalb setzt Regisseur Demme vor allem auf Emotionen, die Bestätigung von Klischees und Schwarz-Weiß-Malerei. Der Film weicht in das klassische Genre des Gerichtsdramas aus, um möglichst wenig vom Privatleben des schwulen Beckett zeigen zu müssen. Beckett ist ein gutbürgerlicher, wohlanständiger, in monogamer Beziehung lebender Homosexueller, den ein einziger Fehltritt – der Besuch eines schwulen Pornokinos – nun das Leben kostet.
Beschwörung des uramerikanischen Gleichheitsgrundsatzes
Dass ihn und seinen Lebensgefährten (Antonio Banderas) eine leidenschaftliche, gar sexuelle Beziehung verbindet, konnte man sich als Zuschauer allenfalls hinzudenken, sehen ganz sicherlich nicht. Als Mitglieder der weißen Mittelklasse, opernliebend, sauber, beruflich erfolgreich und asexuell, waren sie auch als Homosexuelle für das Massenpublikum vermittelbar.
Dem properen Schwulen Andrew wird als Gegenpart der schwarze, heterosexuelle, wertkonservative Anwalt Joe gegenübergesetzt, der das gesunde Volksempfinden Amerikas verkörpert. Demme versucht das amerikanische Gewissen dort zu packen, wo es am amerikanischsten zu sein scheint: an den Grundrechten, die ohne Ausnahme für alle US-Bürger gelten.
Herkunfts- und Wahlfamilie sind in der Trauer vereint
Doch auch auf einer anderen Ebene wird die Integration des schwulen Helden in die Gesellschaft vollzogen, wie Beate Schappach in ihrem Buch „Aids in Literatur, Theater und Film: Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls“ hinweist: Andrews Familie akzeptiert dessen Homosexualität. Das Sterben und die Trauerfeier findet im großen Kreis der Angehörigen inklusive Andrews Lebenspartner statt.
Um dem Durchschnittshetero aber nicht von vornherein abzuschrecken, bietet Demme mit Anwalt Miller eine Identifikationsfigur, mit der das Publikum sich in seinen Ansichten über Homosexuelle verbünden kann und bis zum Ende des Films ein Stück weit Toleranz und Verständnis hinzulernen soll.
Um dieses Ziel zuerlangen, vermeidet Demme jegliches Risiko. Der Zuschauer kann sich von Anfang an sicher sein: Dieser Homo, dessentwegen ich gleich weinen muss, ist in Wirklichkeit ein waschechter Hetero, nämlich Tom Hanks. Alle anderen schwulen Charaktere sind viel zu eindimensional angelegt, als dass dort zuviel Sympathie investiert werden würde.
Jede Zärtlichkeit oder gar Intimität wurde eliminiert
Jonathan Demme verteidigte seine beiden schwulen Hauptfiguren als asexuelle Wesen damit, er habe das Publikum nicht mit Bildern konfrontieren wollen, auf die es nicht vorbereitet sei. Daher wurde am Schneidetisch jegliche Zärtlichkeit oder gar Intimität wieder eliminiert. Ein einziger Kuss ist den Liebenden geblieben, und der stand nicht einmal im Skript, sondern wurde beim Dreh improvisiert. Dieser keusche Kuss auf die Stirn gilt bereits dem Sterbenden und ist ein Akt des Mitleids und des Abschieds, nicht aber des erotischen Begehrens.
Demme beziehungsweise die Produzenten des Films wussten recht genau, wann sie das heterosexuelle (US-amerikanische) Massenpublikum überfordern würden, und genau dieses Publikum sollte mit „Philadelphia“ erreicht werden.
Nicht von ungefähr wurde der (Oscar-prämierte) Titelsong von Bruce Springsteen geliefert und die Hauptrolle mit einem Star vom Format eines Tom Hanks besetzt (nachdem Andy Garcia, Daniel Day-Lewis und Michael Keaton abgelehnt hatten). Auch Hanks hatte man übrigens prophezeit, dass diese schwule Rolle zu einem Karriereknick führen würde. Das Gegenteil war der Fall: Er verdankt „Philadelphia“ seinen ersten Oscar.
„Philadelphia“ spielte mehr als das Zehnfache seines Budgets ein
Auch für die Produzenten ging die Sache auf: Allein in Deutschland wurden über drei Millionen Kinotickets verkauft. Ingesamt spielte „Philadelphia“ weltweit mehr als das Zehnfache seines 26-Millionen-Dollar-Budgets ein.
Für die US-Medizinjournalistin Elana Gordon ist „Philadelphia“ jedoch beleibe nicht nur ein kommerzieller Erfolg. „Der Film hat den nationalen Dialog über HIV und Aids grundsätzlich verändert.“ Inwieweit „Philadelphia“ tatsächlich auch zu einer Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung beigetragen hat, darüber lässt sich freilich nur spekulieren.
Wie weit die Diskriminierung HIV-Positiver reicht, bekam Demme bei den Dreharbeiten selbst zu spüren, und zwar durch die auftraggebende Produktionsgesellschaft TriStar Pictures. Diese versuchte, das Engagement von Ron Vawter zu verhindern: Der Schauspieler war HIV-positiv, und die Produzenten befürchteten horrende Kosten für die Filmausfallversicherung. Erst als Demme die Herren auf das Thema des Films und ihre Doppelmoral hinwies, wurde seine Besetzungsentscheidung akzeptiert.
Neben Vawter waren außerdem rund 50 an Aids erkrankte Statisten durch die lokale Organisation „ActionAids“ für Szenen im Gerichtsaal, im Krankenhaus und auf Becketts Party engagiert worden. Drei Jahre nach Ende der Dreharbeiten waren über 40 von ihnen bereits verstorben.
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