Berlinale 2019: Von Aliens, schwulen Vätern und Normverweigerung
Für Cineast_innen herrscht ab dem 7. Februar in Berlin der Ausnahmezustand. Elf Tage steht die Stadt ganz im Zeichen der internationalen Filmfestspiele. Über 400 Filme werden in den elf Sektionen – vom offiziellen Wettbewerb über Forum und Panorama bis zu Reihen wie „Kulinarisches Kino“ – präsentiert.
Viele Produktionen werden es wahrscheinlich nie regulär in die hiesigen Kinos oder ins Fernsehprogramm schaffen. Umso aufregender, wenn man die Gelegenheit hat, das eine oder andere Highlight im Rahmen des Festivals zu erleben.
Unter dem Diktat der Hetero-Norm!?
Dazu gehört etwa „Normal“, ein Beitrag der italienischen Filmemacherin Adele Tullis.
Der Titel ihrer sehr formal und gradlinig fotografierten Dokumentation ist dabei weniger als Feststellung denn als Provokation zu verstehen: Die unkommentiert gefilmten Alltagssituationen – Frauen bei der Schwangerschaftsgymnastik, Jungs beim Motocross-Wettbewerb und anderen Männlichkeitsritualen oder auch Aufnahmen aus einer Fabrik, in der pinkfarbenes Plastikspielzeug für Mädchen hergestellt wird – fügen sich zu einem faszinierenden Mosaik, das ganz von selbst Geschlechterrollen und das Diktat der (Hetero-)Norm hinterfragt.
Am Ende platziert Tullis Szenen einer pompösen, stilvoll inszenierten schwulen Hochzeit.
Während dieses Männerpaar sich also den gängigen Normen anpasst, steht in vielen Filmen vor allem der Bruch mit vorherrschenden Normen oder gesellschaftlichen Zwängen im Zentrum.
In „Temblores“ (auf Deutsch: Erdbeben) von Jayro Bustamente zum Beispiel verliebt sich in Guatemala City der Familienvater Pablo in einen Mann und verlässt deshalb seine evangelikale großbürgerliche Familie. Doch diese setzt alle Hebel in Bewegung, um Pablo in ein „Umerziehungsprogramm“ einer ultrareligiösen Gemeinschaft zu drängen.
Im Drama „A Dog Barking at the Moon“ (auf Deutsch etwa: Ein Hund, der den Mond anbellt) des Chinesen Zi Xiang muss eine Ehefrau verarbeiten, dass ihr Mann eine Affäre mit einem Studenten hat, und sucht Hilfe in einer obskuren Sekte.
Fremd in der Gesellschaft
Um vom Anderssein und Sich-fremd-Fühlen zu erzählen, wählt Santiago Loza in seinem Film „Breve historia del planeta verde“ (Kurze Geschichte des grünen Planeten) eine naheliegende, wenn auch ungewöhnliche Metapher: Die Trans*frau Tania nimmt sich eines E.T.-artigen Aliens an, mit dem ihre verstorbene Großmutter die letzten Lebensjahre in trauter Zweisamkeit verbracht hat. Das ergibt dann allerdings keinen Science-Fiction-Film, sondern ein ins Poetisch-Phantastische gleitende Melodram.
Das Gefühl, sich in den bestimmenden Gesellschaftsstrukturen einsam und fremd zu fühlen, durchzieht auch die Spielfilme „Los Miembros de La Familia“ (Family Members; auf Deutsch: Die Mitglieder der Familie) und „Kislota“ (Acid; auf Deutsch: Säure).
In „Los Miembros de La Familia“ reist das Geschwisterpaar Gilda und Lucas an die argentinische Küste, wo sich ihre Mutter sich das Leben genommen hat. Während seine Schwester glaubt, ihre innere Leere mit heilenden Halbedelsteinen verdrängen zu können, macht der Teenager Lucas ausgerechnet an diesem abgeschiedenen Ort einen wichtigen Schritt zu seinem schwulen Coming-out.
Die Mittzwanziger in „Kisolata“ hingegen haben wenig Hoffnung, sich in die russische Gesellschaft der Gegenwart einfügen zu können. So bleiben nur die Flucht in Drogen und exzessive, aus der Kontrolle geratene Sex- und Technopartys – ein beklemmend restriktives Bild, das der 26-jährige russische Schauspieler Alexander Gorchilin in diesem Regiedebüt von seinen Altersgenossen zeigt.
Queere Lebensmodelle
In „So Pretty“ (auf Deutsch: So hübsch) hingegen hat sich eine New Yorker Wohngemeinschaft von jungen queeren und trans* Menschen eine Art Safe Space und utopischen Raum geschaffen. Dieser sichere, utopische Raum ist auch ein Ort, um Liebes- und Lebensmodelle jenseits der klassischen Zweierbeziehung zu erproben.
Auch formal ist der Film ein (zwar nicht wirklich überzeugendes, aber interessantes) Experiment: Regisseur_in Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli hat sich von einem Roman des 1991 an den Folgen von Aids verstorbenen Ost-Berliner Schriftstellers Ronald Schernikau inspirieren lassen und lässt zentrale Passagen von den Darsteller_innen lesen.
Viele Kandidat_innen für einen Teddy Award
„So Pretty“ ist einer von rund 45 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen mit queeren Themen im offiziellen Berlinale-Programm, die eine Chance haben, am 15. Februar mit einem Teddy Award ausgezeichnet zu werden.
Die Verleihung des weltweit wichtigsten queeren Filmpreises findet in der Volksbühne statt.
Ein Preisträger steht jetzt schon fest: Der international erfolgreiche Dramatiker und Theaterregisseur Falk Richter („Small town“, „FEAR“) wird mit dem Special Teddy Award ausgezeichnet.
„Für das emanzipatorische Wirken der darstellenden Künste hat das Theater von Falk Richter kontemporär die überzeugendsten Werke erbracht“, begründet Wieland Speck, Vorstand der Teddy Foundation, diese Entscheidung.
Mit Richter werde ein „Beweger“ mit dem Special Teddy Award gewürdigt, „von dem wir uns nachhaltige Impulse für das zukünftige queere und weltoffene Kino wünschen“, so Speck.
Der langjährige Kurator der Berlinale-Sektion Panorama und Mitbegründer des Teddy Awards wird in diesem Jahr selbst für seine besonderen Verdienste um das Filmschaffen gewürdigt: mit der „Berlinale Kamera“. Und weil in diesem das „Panorama“, gewissermaßen die Keimzelle des Teddy Awards, Jubiläum feiert, durfte Wieland Speck seine Highlights aus 40 Jahren für ein Sonderprogramm zusammenstellen.
Die besten Filme zu HIV und Aids aus 40 Jahren
Dort gibt es natürlich auch ein Wiedersehen mit einigen herausragenden lesbisch-schwulen Dokumentationen.
Vor allem aber macht Speck mit seiner Auswahl deutlich, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit der Aidsepidemie für Filmschaffende insbesondere in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren hatte.
Noch einmal zu sehen ist beispielsweise Beispiel Jochen Hicks Dokumentation „Willkommen im Dom“ von einer spektakulären ACT-UP-Aktion anlässlich der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda 1991.
Ebenfalls gezeigt werden Marion Scemamas „Self-Portrait in 23 rounds: A Chapter in David Wojnarowicz’s Life, 1989–1991“ (auf Deutsch etwa „Selbst-Porträt in 23 Runden: Ein Kapitel aus dem Leben von David Wojnarowicz, 1989–1991“) über das Leben des New Yorker Künstlers und Aidsaktivisten, und Cyril Colards kompromissloser, seinerzeit in Frankreich hefig umstrittener autobiografischer Spielfilm „Les nuits fauves“ („Wilde Nächte“ über einen bisexuellen Mann und dessen Umgang mit seiner Aidserkrankung).
Noch bedeutsamer aber ist die Wiederaufführung von „Buddies“, des ersten Spielfilms über Aids überhaupt. Entdeckt und zur Berlinale eingeladen hatte den Film seinerzeit der Panorama-Gründer Manfred Salzgeber (1943–1994).
Auf 80 Minuten verdichtet verhandelt Arthur J. Bressans hier in der Begegnung eines schwulenbewegten Aidskranken und eines jüngeren ehrenamtlichen Helfers alle zentralen Aspekte der gesellschaftlichen wie persönlichen Auseinandersetzung mit der Epidemie: Schuld und Scham, die Wut angesichts der Ignoranz der Verantwortlichen in Pharmaindustrie und Politik, der Kampf gegen die Stigmatisierung.
Seinerzeit wollte kein deutscher Verleih „Buddies“ ins Kino bringen, und Manfred Salzgeber gründete kurzerhand selbst einen Filmvertrieb. Das zeitlose Dokument kommt nun nach 35 Jahren frisch restauriert wieder auf die Berlinale.
Die Berlinale 2019 zeigt auch queere Geschichte
Um queere Geschichte einschließlich der Aidsgeschichte geht es auch in einigen ganz neuen Produktionen.
Die Filmemacherin Joanna Reposi Garibaldi erinnert mit „Lemebel“ an den chilenischen Performancekünstler und Schriftsteller Pedro Lemebel (1952–2015).
Der mag zwar recht exzentrisch gewesen sein, inszenierte sich etwa gerne als Frida-Kahlo-Look-a-Like, doch angesichts der Aidskrise wagte er, sich lautstark gegen die Homosexuellenverfolgung in seiner Heimat zu wehren.
Isabel Coixet erzählt in ihrem Wettbewerbsbeitrag „Elisa y Marcela“ die wahre Geschichte einer lesbischen Liebe in Spanien am Ende des 19. Jahrhunderts. Um als Paar zusammenleben zu können, gibt sich eine der beiden Frauen als Mann aus und kann damit sogar den Priester bei der Trauung täuschen.
Chancen auf einen Goldenen Bären rechnet sich wohl auch François Ozon („8 Frauen“, „Der andere Liebhaber“) aus. Auch sein neuer Film basiert auf tatsächlichen Begebenheiten, nämlich dem Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche in Frankreich.
Im Zentrum von „Grâce à Dieu“ (By the Grace of God; auf Deutsch: „Durch Gottes Gnade“) steht der Fall dreier Männer, die in ihrer Kindheit von einem Priester sexuell missbraucht wurden. Als sie mitbekommen, dass der Pfarrer immer noch Umgang mit Kindern und Jugendlichen hat, brechen sie ihr Schweigen.
Sexuelle Selbstverwirklichung, Begehren und Sexarbeit
Unterschiedlichste Geschichten über Sexualität und Begehren lassen sich aber auch im Hier und Jetzt erzählen.
So wagt etwa in „37 Seconds“ eine japanische Manga-Zeichnerin, die im Rollstuhl sitzt, die Flucht aus der Unsichtbarkeit in die sexuelle Selbstbestimmung.
Im brasilianischen Spielfilm „Greta“ versteckt ein 70-jähriger Krankenpfleger einen von der Polizei gesuchten Patienten kurzerhand bei sich zu Hause, und unerwartet entwickelt sich zu dem Jahrzehnte jüngeren Mann eine überraschend zärtliche wie auch sexuelle Beziehung. Oder nutzt der eine nur die Notlage des anderen aus?
Für Eva, Protagonistin des Dokuporträts „Searching Eva“ (auf Deutsch etwa „Auf der Suche nach Eva“) ist Sex vor allem ein Weg, um schnell zu gutem Geld zu kommen. „Für einen Blowjob bekomme ich mehr, als wenn ich zwei Tage in Paris auf dem Laufsteg bin“, gibt sie zu Protokoll.
Die 20-jährige Italienerin ist Model, Bloggerin und selbstbewusste queer-feministische Sexarbeiterin.
Sie verliebt sich in Männer, masturbiert zu Lesbenpornos, lebt ohne festen Wohnsitz – und dokumentiert ihr rastloses, nomadisches Leben manisch in den Sozialen Medien.
Wie anders sind da doch der Alltag und die Lebensumstände der Sexarbeiter, die in einer Berliner Bar um ihre männliche Kundschaft werben. In „Blue Boy“, der Kurzdokumentation von Manuel Abramovich, kommen sieben dieser Jungs zu Wort.
Ungewöhnlicher ist der Ort, an dem Sexarbeiter in „Die Grube“ ihre Dienste anbieten. Hristiana Raykovas Dokumentation über ein selbstverwaltetes öffentliches Badebecken am Strand der bulgarischen Küstenstadt Varna entpuppt sich als vielschichtiges Porträt der bulgarischen Gegenwart. Wo tagsüber Rentner_innen in der warmen Solequelle planschen, cruisen des Nachts schwule Männer, und obdachlose Roma bieten Sex für Geld oder wenigstens für eine Übernachtungsmöglichkeit.
Es lebe die Selbstdarstellung
Gäbe es einen Sonderpreis für die exhibitionistischste Selbstdarstellung in einem Dokumentarfilm, so hätte ihn zweifellos Marcelo Diorio verdient. Der reckt zum Anfang und am Ende von „A rosa azil de Novalis“ (Die Blaue Blume des Novalis) minutenlang seinen Anus in die Kamera.
Doch nicht nur diese intensive Studie seines Schließmuskels könnte den einen oder die andere im Kinosaal irritieren. Marcelo demonstriert auch seine Partnersuche per App, lässt die Zuschauer_innen an einem Sexdate teilhaben, gibt Auskunft über Highlights seines ergiebigen sexuellen Erfahrungsschatzes – und plaudert über sexuelle Fantasien, die Freuden des Analverkehrs und über seine HIV-Infektion genauso eloquent wie über Kunst und Literatur, insbesondere den (titelgebenden) deutschen Romantiker Novalis.
Unklar bleibt dabei bis zuletzt, wo die Regisseure Gustavo Vingare und Rodrigo Carneiro einfach nur die Kamera laufen ließen und welche Passagen inszeniert bzw. reinszeniert sind.
Ist das Ganze nun ein kreativ-verstörender Tabubruch, eine ins Leere laufende Provokation oder eine ärgerliche schwule Selbstdarstellung? Um das entscheiden und sich auch mit dem einen oder anderen Film der Berlinale 2019 auseinandersetzen zu können, bleibt nur: Ab ins Kino!
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