Diagnose: HIV-positiv
Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog kleiner drei <3. Wir danken dem Autor und den Blogbetreiber_innen herzlich für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung!
Jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, wieso ich das überhaupt mache. Dabei weiß ich die Antwort. Ich habe das Bedürfnis danach, es zu tun.
Bedürfnisse. Noch vor knapp einem Monat waren sie für mich selbstverständlich, aber ich war mir ihrer viel weniger bewusst als jetzt. Ich habe sie nicht so kristallklar vor meinen Augen gesehen wie jetzt. Was das geändert hat? Ein routinemäßiger Arztbesuch.
Es begann damit, dass ein Bekannter, mit dem ich einige Wochen zuvor Sex gehabt hatte, mir sagte, dass er Tripper hat und ich mich bitte testen lassen solle. In Anbetracht dessen, dass ich mich sowieso etwa alle sechs Monate auf die häufigsten STIs (sexually transmitted infections, sexuell übertragbare Infektionen) testen lasse, war das ein konkreter Anlass, um mal wieder den Gang zum Gesundheitsamt anzutreten. Zumindest in meiner Stadt sind Tests auf STIs dort kostenlos und anonym möglich.
Die Sache mit dem Urinbecher…
Die Beraterin im Gesundheitsamt war kompetent, freundlich und bemühte sich sofort, mich über die verschiedenen STIs sowie mögliche Schutzmaßnahmen aufzuklären. Ich sagte ihr, dass ich mich auskenne und sowieso immer Safer-Sex praktiziere und dass es sich nur um einen Routinetest handelte, um sämtliche Zweifel auszuschließen. Die Ärztin nahm mir Blut ab, machte einen Rachen – sowie Analabstrich und ich musste in einen Becher urinieren. Letzteres war eine interessante Angelegenheit, da man dazu aus dem Beratungsraum hinaus auf die Toilette und wieder zurück musste. Alle, die auf dem Flur warteten, wussten beim Anblick des Bechers sofort, wozu ich ihn gleich benutzen würde, beziehungsweise, als ich zurückkehrte, was sich in dem Becher befand. Ich fand diese Prozedur zwar räumlich etwas ungünstig gelöst, aber durchaus amüsant. Schließlich waren wir alle wegen der gleichen Sache auf diesem Flur. Nachdem ich meinen Zettel abgegeben hatte, bekam ich einen grünen Zettel mit einer Nummer zusammen mit der Information, dass ich die Testergebnisse in einer Woche abholen könne.
Eine Woche später
Ich war etwas nervös, aber das ist, denke ich, normal bei dem Erhalt von gesundheitlichen Befunden. Ich ging ins Beratungszimmer und übergab meinen grünen Zettel einer Beraterin des Gesundheitsamts, die in einer Liste die Testergebnisse heraussuchte. Sie teilte mir mit, dass ich weder Tripper noch Chlamydien hätte, die anderen Ergebnisse aber noch nicht vorhanden wären. Ich war zunächst etwas irritiert und fragte, was los sei, woraufhin sie das Labor anrief und nachfragte. Ich wurde zunehmend unruhig und studierte während des Gesprächs ihre Mimik, wobei ich das Gefühl hatte, dass sie versuchte, keine Informationen durchscheinen zu lassen. Nach dem Telefonat sagte sie mir, dass sich die anderen Ergebnisse etwas verspäteten und ich in zwei Tagen nochmal vorbeikommen solle. Auf meine Frage, ob dieser Umstand etwas zu bedeuten habe, antwortete sie, dass sie das nichts wisse und auch sonst nichts dazu sagen könne.
Zwei Tage später
Ich hatte ein ungutes Gefühl. Warum dauerte der Test so lange? Was hatten die Ärzt_innen in meinem Blut gefunden? Nach dem Verlassen des Gesundheitsamtes zwei Tage zuvor hatte ich dem Bekannten geschrieben, der mich ursprünglich zum Test gebracht hatte, und ich hatte ihm von meiner Sorge geschrieben. Er beruhigte mich. Da ich ja immer Safer Sex praktiziere, könne gar nichts Schlimmes los sein, und offiziell seien auch bis zu zwei Wochen bis zur Abholung der STI-Testergebnisse veranschlagt. Ich solle mir keinen Kopf machen. Dadurch beruhigt, ging ich erneut zum Gesundheitsamt, um den Rest meiner Ergebnisse zu erfahren.
Der Moment, der alles veränderte
Als ich den Raum betrat, erkannte mich die Beraterin und bot mir den Stuhl vor ihrem Schreibtisch an. Anschließend übergab ich ihr meinen Zettel mit der Identifikationsnummer. Sie schaute ihn sich gar nicht erst an. Sie sagte, sie habe heute leider keine gute Nachricht für mich.
Ich war bis zu diesem Zeitpunkt der Meinung, dass, wenn Menschen eine Situation so beschreiben, als wäre ein Film an ihnen vorbeigezogen, es sich dabei um niveaulosen metaphorischen Abfall handelt. Aber mir fällt beim besten Willen kein besserer Vergleich ein.
Obendrein gab es noch eine deftige Prise Schamgefühle
Ich fragte, was sie konkret meine. Sie sagte: „HIV war positiv“. Es fällt mir schwer zu beschreiben, was ab diesem Augenblick in meinem Kopf vorging. Eine Mischung aus dem Glauben daran, dass es sich um einen Fehler handeln müsse, einer Rekapitulation sämtlicher Sexualkontakte der letzten Monate und dem Gedanken, dass ich absolut hilflos und ahnungslos bin. Obendrauf gab es noch eine deftige Prise Schamgefühle.
Die Beraterin fing an, mir zu erklären, dass diese Diagnose natürlich nicht gut sei, aber mein Leben nicht in einem schweren Maße beeinträchtigen würde. Dass es sich um eine chronische Erkrankung handele und ich eine normale Lebenserwartung habe. Dass es eine ausgezeichnete Praxis in der Stadt gebe, die sich auf Patienten mit HIV spezialisiert hat. Dass sie mir erneut Blut abnehmen müsse, um eine Verwechslung oder Verunreinigung im Labor ausschließen zu können. Sie nahm mir Blut ab. Es war mir egal. Ich starrte auf den Boden und meine Gedanken malträtierten mein Gehirn. Sie fragte mich, ob ich eine Vertrauensperson habe, zu der ich gehen könne. Ich verneinte. Sie bot mir an, dass ich da bleiben könnte, solange ich wollte. Ich verneinte erneut und sagte, dass ich frische Luft bräuchte und jetzt gehen würde. Mit einem riesigen Stapel an Infobroschüren verließ ich das Gesundheitsamt und setzte mich in die Bahn nach Hause.
Weinkrämpfe auf der Büro-Toilette
Kaum war ich durch die Haustür, brach ich in Tränen aus. An den Rest des Tages erinnere ich mich nur verschwommen. Ich recherchierte im Internet zur Genauigkeit von HIV-Tests. Ich las die Broschüren, die entgegen meinen Erwartungen ziemlich gut waren. Sie gaben mir einen sachlichen und informativen Überblick über das Thema HIV und die davon betroffenen Lebensbereiche wie zum Beispiel Gesundheit, Partnerschaft, Familie und Arbeit. Ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte, wobei ich zu keinem klaren Schluss oder gar einer Erwartung kam. Am nächsten Tag ging ich wie gewohnt zur Arbeit.
Grübeln ändert nichts an der Situation
Ich hatte überlegt, mich krankschreiben zu lassen, mich aber dagegen entschieden, weil ich dachte, dass etwas Ablenkung mir gut tun würde. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Gesellschaft um mich zu haben, in welcher Form auch immer, half mir zu diesem Zeitpunkt, mich abzulenken und nicht ununterbrochen zu grübeln. Mein Versuch, in den Alltag einzutauchen, hielt mich aber nicht davon ab, am Tag danach mehrmals auf die Toilette zu gehen, um unbemerkt die Tränen fließen zu lassen. Weinkrämpfe schüttelten meinen Körper. Das darauf folgende Wochenende war das schlimmste, das ich in meinem bisherigen Leben hatte. Alleine in der eigenen Wohnung zu sein. Die Wendung, den eigenen Gedanken ausgeliefert zu sein, hat in diesen Tagen für mich eine völlig neue Bedeutung gewonnen. Am Samstag folgte ich trotzdem der Einladung eines Freundes und traf mich mit ihm und ein paar anderen Leuten in seiner Wohnung. Später gingen wir noch in einen Club. Das war ein unglaublich surreales Erlebnis. Im Hintergrund immer die Gedanken um die erhaltene Diagnose und gleichzeitig das Feiern mit den Freunden. Eine Aktivität, die im Allgemeinen mit Freude und Spaß verbunden wird. Nichts davon habe ich an diesem Abend empfunden.
Die Fragen, die folgen
Natürlich habe ich mir intensiv darüber Gedanken gemacht, wie es dazu kommen konnte. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. In meiner Erinnerung war ich immer vorsichtig, bin keine Risiken eingegangen. Offensichtlich habe ich mich geirrt. Aber am Ende bringt es meiner Meinung nach nichts, weiter über die Gründe nachzugrübeln. Es ändert nichts an der Situation.
Freunde. Familie. Teile ich meine Diagnose mit jemandem? Mit wem teile ich meine Diagnose? Wie reagieren Menschen, die davon erfahren? Das waren Fragen, die mich beschäftigt haben, mich bis heute beschäftigen, wenn auch mittlerweile in einem geringeren Maße.
Eines der elementarsten Dinge, die ich aus meiner Familie mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass Reden über die eigenen Probleme und eine offene Kommunikation mit seinen Mitmenschen wahnsinnig wichtig sind. Reden hilft, das Leben und Probleme zu bewältigen. Das war auch der Hauptgrund, wieso ich mich dazu entschieden habe, irgendwann mit anderen über meinen Zustand zu sprechen.
Das Reden macht es mir leichter
Einen Tag nach meiner Diagnose habe ich es dem Bekannten erzählt, der mir geraten hatte, mich testen zu lassen. Er war sehr verständnisvoll und es hat mir sehr geholfen, einfach mal meine Gedanken loszuwerden.
Die Reaktion meines Freundes führte zu unbeschreiblicher Erleichterung
Vier Tage nach meiner Diagnose habe ich es meinem besten Freund erzählt. Direkt, nachdem ich das Ergebnis erfahren hatte, war er leider das ganze Wochenende nicht in der Stadt gewesen. Seine Reaktion war eine, die ich als perfekt bezeichnen würde. Er hat mich in den Arm genommen, zugehört und war für mich da. Die Erleichterung, die ich ab diesem Zeitpunkt verspürt habe, kann ich nicht mit Worten beschreiben.
Vierzehn Tage nach meiner Diagnose habe ich es meinem engeren Freundeskreis erzählt, bestehend aus vier Personen (inklusive dem Freund, dem ich es schon erzählt hatte). Sie haben ebenfalls super reagiert.
Einer der Gründe weshalb ich es den oben genannten Personen überhaupt erzählt habe, ist auch, dass ich mir sicher bin, dass sie es niemandem weiter erzählen werden. Denn die Kontrolle über das Wissen meiner Infektion ist mir unglaublich wichtig, und ich will mit allen Mitteln verhindern, dass mir diese entgleitet.
Der neue Alltag
Über den Zeitraum meiner Gespräche über die Diagnose hatte ich bereits einen Arzttermin in der Schwerpunktpraxis bei mir in der Stadt ausgemacht. Nachdem ich den Grund meines Anrufs genannt hatte, bekam ich auch kurzfristig einen Termin. Was ich nie vergessen werde, ist der Moment, als ich mich am Empfang anmeldete, die Arzthelferin auf ihren Bildschirm schaute und mich im ersten Moment schockiert ansah. Und das bei einer Praxis, die mehrere hundert HIV-Patienten betreut. Ich vermute, dass ihr Blick an meinem jungen Alter lag. Gerade mal 21.
Eine große Hürde
Zwischen meiner Diagnose und dem Schreiben dieses Textes sind vier Wochen vergangen. Ich habe gemerkt, wie schnell sich Menschen an neue Gegebenheiten gewöhnen können. Ich habe gelernt, dankbar zu sein, in einer Zeit mit unglaublichen medizinischen Möglichkeiten zu leben, von denen ich die Möglichkeit habe, sie auch zu nutzen. Nicht alle Menschen in Europa können das. Ich habe das deutsche Gesundheitssystem und meine Krankenversicherung zu schätzen gelernt. Müsste ich die Medikamente im Wert von 1200 € pro Monat selber bezahlen, wäre fast die Hälfte meines monatlichen Gehalts weg. Ich habe meine Freunde unglaublich zu schätzen gelernt, sie unterstützen mich, wo sie nur können. Es geht mir gut.
Bis auf einen Punkt. Meine Familie weiß es noch nicht. Während es in den ersten Tagen nach meiner Diagnose primär Schuldgefühle waren, die mich davon abgehalten haben, es ihnen zu sagen, ist es mittlerweile die Furcht, dass sie sich um mich Sorgen machen. Ich bin in der privilegierten Situation, zu wissen, dass meine Familie unter allen Umständen hinter mir stehen wird. Aber ich will nicht, dass meine Familie ähnliche Ängste durchstehen muss wie ich. Ich weiß mittlerweile, dass meine Diagnose für mich eine Umstellung, aber nicht im Entferntesten ein Todesurteil wie vor 20 bis 30 Jahren ist. Ich war letzte Woche zu Hause zu Besuch, und als ich auf die Frage meiner Mutter, wie es mir denn gehe, antwortete: „Alles super“, hat sich das angefühlt wie ein schwerer Schlag.
Ich werde es meiner Familie demnächst sagen. Vielleicht gebe ich ihnen auch einfach diesen Text.
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