Sexarbeit

Ein Blick hinter die Fassaden der Sexarbeit

Von Axel Schock
Zwei Jahre hat Tanja Birkner im Hamburger Viertel St. Georg Interviews mit Prostituierten, Escorts, Strichern und Dominas geführt und sie an ihren Arbeitsplätzen fotografiert. Ihre Porträts sind nun in dem Band „Halbe Stunde“ erschienen.

Ziemlich nüchtern, geradezu kalt wirken diese Räume am helllichten Tag. Sie versprühen weder Verruchtheit noch Erotik, sondern bestenfalls Zweckmäßigkeit: Glattgestrichene Bettlaken, auf denen Frotteehandtücher bereitliegen. „Für Garderobe übernehmen wir keine Haftung“ weist ein Blechschild in der Stricherkneipe die Besucher hin. Die an die Türen des Stundenhotels gemalten Zimmernummern sind rissig und drohen abzublättern. Im Domina-Studio stehen hochhackige Stilettos in diversen Farben und Modellen fein säuberlich in einem Regal aufgereiht.

Es sind immer wieder solche Details, die Tanja Birkner in ihren Fotos heraushebt. Entstanden sind sie im Hamburger Stadtbezirk St. Georg. Hier, rund um den Hauptbahnhof, arbeiten jene Menschen, die die Kulturwissenschaftlerin und Fotografin für ihren Band „Halbe Stunde“ porträtiert hat.

Was kann trostloser sein als eine menschenleere Bar oder ein Zimmer in einem Stundenhotel, in dem ein kitschiges Gemälde an der Wand nur schwerlich so etwas wie Wohnlichkeit und Persönlichkeit vortäuschen kann. Hier, an diesen Orten, in Bordellen, Stricherkneipen oder auch SM-Studios, gehen die Porträtierten ihrer Arbeit nach: Der jüngste ist 23, die älteste 78. Es sind Teilzeit-Callboys und Betreiber von Bars und Stundenhotels, Prostituierte, die schon seit zwei Jahrzehnten auf der Straße arbeiten, Frauen aus Osteuropa, die auf dem Strich einen Weg aus der Armut suchen wie auch selbstbewusste Sexarbeiterinnen, die sich für die Rechte ihrer Kolleginnen engagieren.

Es sei ihr wichtig gewesen, „das Thema Prostitution auf eine Weise darzustellen, ohne die Menschen bloßzustellen und ihnen trotzdem dabei so nahe zu kommen, um ihnen letzten Endes das Wort zu geben“, sagt Tanja Birkner. Ein Jahr lang hat sie aufgewendet, um Kontakte zu knüpfen, und das Vertrauen zu den Männern und Frauen aufzubauen, damit diese sich von ihr fotografieren und interviewen lassen.

„Ich würde mir eine normale Arbeit und Papiere wünschen“

So wie die 23-jährige Faghira. Sie stammt aus Bulgarien und lebt in einem Stundenhotel in St. Georg. 40 Euro Miete zahlt sie am Tag. „Ich würde mir eine normale Arbeit und Papiere wünschen, aber dafür brauche ich erst einmal eine Adresse. Ich kann mir aber keine Kaution für eine Wohnung leisten.“ Jan bietet seine Escort-Dienste im Internet an. Er sei durch eine Notlage dazu gekommen. „Ich muss im Moment täglich ums Überleben kämpfen“ und „zum Teil kalt und abgewichst sein“. Der Job verlangt, „dass ich als Escort natürlich auch Sachen anbiete, die ich privat nie machen würde.“

Johnny ist 31 und seit zwölf Jahren HIV-positiv. In den Stricherkneipen anschaffen möchte er nicht mehr, bis auf ein paar Stammfreier hat er sich der Gesundheit wegen von der Sexarbeit zurückgezogen und ist stattdessen auf Table-Dance umgestiegen. „Gefallen hat mir das Geld. Früher habe ich noch Drogen genommen. Heute bin ich klamottensüchtig. Süchtig nach shoppen.“

In den Interviews, die Tanja Birkner begleitend zu den Fotoshootings geführt hat, schildern die Callboys, Stricher, Prostituierten und Escorts ihren Arbeitsalltag, sie erzählen aber auch offen und unverstellt von den Abstürzen, ausweglosen Momenten und Krisen in meist von Zerrissenheit geprägten Lebensgeschichten.

Von Zerrissenheit geprägte Lebensgeschichten

Mariam beispielsweise ist mit 15 von zu Hause abgehauen und in der Szene gelandet, mit 21 kam sie in ein Drogenersatzprogramm. Danach folgte ein „Auf und Ab ohne und mit Drogen“. Die letzten fünf Jahre lebte sie in einer Wohngemeinschaft für chronisch HIV-Kranke. Im Januar dieses Jahres ist sie an den Folgen ihrer Aidserkrankung gestorben. Sie wurde 34 Jahre alt.

Christian hat mit 19 Jahren begonnen, sich seinen Lebensunterhalt mit Sexarbeit zu verdienen. Zunächst in einem Hamburger Männerbordell, und als er dazu zu alt wurde, ist er rund um den Hauptbahnhof anschaffen gegangen. An manchen Tagen sei er 20 Stunden auf den Beinen gewesen. „Wenn kein Freier kam, gab es ja immer noch das Basis-Projekt. Das ist so wie Familie gewesen. Da konnte man sich mit jemandem unterhalten, sich waschen.“

Auch heute sei die Anlaufstelle für männliche Prostituierte für viele Jungs nicht nur ein wichtiger Familienersatz, sondern auch ein Schutzraum, weil hier keine Freier rein dürfen.“ Mit 29 fand Christian keine Freier mehr, er war zu alt für diesen Job geworden. Der Ausstieg hatte aber auch noch andere Gründe: „Ich habe über die Jahre einen Ekel aufgebaut. Für mich war das nur noch menschenunwürdig“, sagt er im Interview.

„Ich habe über die Jahre einen Ekel aufgebaut“

Heute ist er ehrenamtlich aktiv, verteilt Kondome im Cruising-Park und hilft bei der Hamburger Tafel, die Bedürftige mit Essen versorgt. „Weil mir so viel geholfen wurde, habe ich es mir zum Ziel gemacht, das auf meine Art wieder gut zu machen.“

Christian hat sich unter anderem in einer Kirche fotografieren lassen. Dort steht er, mit dem Rücken zum Betrachter und schaut aus den lichtdurchfluteten Bleiglasfenstern. Die meisten der in diesem Buch porträtierten Sexarbeiter wollen ihr Gesicht nicht zeigen und haben es deshalb abgewandt.

Undine de Rivière
Undine de Rivière

Aber es gibt auch Frauen wie Undine de Rivière, Gründungsmitglied des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen. Auf den Porträts schaut sie selbstbewusst in die Kamera, an ihrem Oberteil trägt sie eine Brosche in Form eines Jahrmarkt-Lebkuchenherzens mit der Aufschrift „Schlampe“. Ein anderes Bild ist in ihrem Studio aufgenommen. Nun ist ihr Blick streng, in der Hand hält sie eine zusammengerollte Peitsche.

„Wir wollen, dass unsere Arbeit anerkannt wird, was sie offiziell leider immer noch nicht ist“, sagt die 40-Jährige. Die zunehmende Kriminalisierung und Reglementierung der Prostitution verfolgt sie äußert kritisch.

Seit 2012 gibt es in Hamburg eine sogenannte Kontaktverbotsverordnung. Prostituierten ist nunmehr untersagt, Kunden auf der Straße anzusprechen. Bei einem Verstoß werden bis zu 5.000 Euro Strafe fällig. „Hier in St. Georg stehen Frauen auf der Straße, die haben inzwischen Tausende Euros an Bußgeldern eingefahren“, erzählt Undine de Rivière. „Aber leider haben die keine andere Möglichkeit, dieses Geld zu verdienen, außer sich wieder an die Straße zu stellen und das nächste Bußgeld zu bekommen.“

St. Georg will sein Schmuddelimage ablegen, die Prostitution soll zurückgedrängt werden – mit Erfolg. Die Gentrifizierung des Bezirks schreitet voran. „Die Stundenhotels sind in Eigentumswohnungen umgewandelt worden, und die Neuhinzugezogenen rümpfen die Nase über uns“, beklagt Mariam.

Die Gentrifizierung des Bezirks schreitet voran

Aber auch die Betreiber von einschlägigen Bars und Kneipen im Kiez erleben Veränderungen. „Früher kam es bei den drogenabhängigen jungen Männern eher zu Prostitution, heute zu Diebstahl oder anderem“, erzählt Helmut Gärtner, Inhaber des „Thomaskeller“. Er nimmt zudem eine größere Aggressivität in der Stricherszene wahr. Das mache die Arbeit nicht immer einfach. Umso wichtiger ist für ihn das jährliche, von der DAH mitveranstaltete „Stricher-Wirte-Treffen“.

Mithilfe der Informationen, die sie dort beispielsweise zu Drogengebrauch und HIV-Prävention erhalten, sei es ihm und seinen Wirtekollegen möglich, entsprechend auf die Probleme der Jungs und der anderen Gäste einzugehen und zu beraten. „Wenn wir einen Krankenwagen rufen, dann können wir von vornherein sagen, um welches Drogenproblem es sich vermutlich handelt und weshalb er uns aus den Latschen gekippt ist.“

Cover des Bildbandes
Cover des Bildbandes

Auch der „Hansa-Treff“ ist Kneipe und ehrenamtliche Sozialstation in einem, wie Mehmet Simsit sein Lokal bezeichnet. Der türkischstämmige Mann ist im Kiez aufgewachsen. In den 90er-Jahren sei er einer „der schlimmsten Drogensüchtigen“ gewesen, sagt er über sich. „Ich kenne die Szene komplett. Dafür schäme mich nicht, das ist meine Vergangenheit.“

Seine Frau Liliana hat er gewissermaßen vor der Haustür am Hansaplatz kennengelernt. Die Rumänin war von ihrer Familie zur Prostitution gezwungen worden. Mehmet hat ihr geholfen, sich davon zu lösen. „Sie war Vorreiterin, so haben wir vielen Zwangsprostituierten die Augen geöffnet.“

Für Tanja Birkner haben sich Liliana und Mehmet hinter dem Tresen ihres Souterrain-Lokals in Position gestellt. Sie halten sich an der Hand – und als eine von ganz wenigen der Porträtierten in diesem Buch lächeln sie in die Kamera.

Tanja Birkner: „Halbe Stunde“. Sieveking Verlag, 160 S., 35 Euro

1 Kommentare

Malik 15. Dezember 2016 10:22

Das Frauen dazu gezwungen werden ist widerlich. Das sind ja keine gegen Stände …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

87 + = 93