FILM

Eine Stadt und ihr Trauma

Von Axel Schock
Der Dokumentarfilm „We Were Here“ schildert eindrucksvoll mit Bildern und Zeitzeugen-Interviews, wie die Aidsepidemie in den 80er Jahren San Francisco überrollte und veränderte. Von Axel Schock.

San Francisco galt seit den 1970ern als das Mekka der Schwulen. Foto: pro-fun Media

Der handgeschriebene Zettel im Schaufenster einer Apotheke in der Castro Street wirkt heute im Rückblick wie ein Menetekel. „Passt auf Jungs, irgendwas ist da draußen los!“, hatte ein junger Mann dort notiert und drei Polaroidfotos von sich dazugeklebt. Sie zeigen merkwürdige Flecken an seinem Körper, die er sich nicht hatte erklären können.

Fast 16.000 Einwohner werden bis in die späten 90er Jahre an Aids sterben

Ed Wolf, einer der fünf Interviewpartner der Dokumentation „We Were Here“, erinnert sich sehr genau an diesen Aushang und das sonderbare Gefühl, das er bei ihm auslöste. Ein Scharz-Weiß-Foto aus jenen Tagen des Jahres 1981, das der Dokumentarfilmer David Weissman für seinen Film ausfindig machte, zeigt eine kleine Gruppe Männer, die aufmerksam den Aushang studieren. Zu jenem Zeitpunkt ist bereits ein Fünftel der schwulen Community von San Francisco mit HIV infiziert. Fast 16.000 Einwohner der Stadt werden bis in die späten 90er Jahre der Krankheit erliegen.

Viele lesbische Frauen engagierten sich in der frühen Aids-Bewegung San Franciscos. Foto: pro-fun Media

„We Were Here“ ist nicht die erste Dokumentation zu diesem entscheidenden Jahrzehnt der Epidemie, dem massenhaften Sterben und dem Kampf gegen die Ignoranz der Politik wie auch der Pharmaindustrie. Der Oscar-prämierte Film „Common Threads: Stories from the Quilt“ von Robert Epstein und Jeffrey Friedman hatte für dieses Genre einen danach nie mehr erreichten Standard gesetzt.

Erfahrbar wird, wie eine Community in einer Ausnahmesituation zusammenwächst

Auch „We Were Here“ ist vor allem ein Film über die Trauer und den Verlust. Doch während sich Epstein und Friedman ausgewählten Biografien von Menschen aus den ganzen USA widmeten, fokussiert Weissman auf seine Wahlheimat San Francisco, und dort allein auf die „gay community“. Diese Engführung mag man bedauern, ist einem historischen Film wie diesem aber auch zuzugestehen. Denn in erster Linie – und das machen Weissmans Interviewpartner auch immer wieder deutlich – geht es darum, Zeugnis abzulegen, zu erinnern, Geschichte und Geschichten zu erzählen von einer Zeit, wie sie für Nachgeborene kaum vorstellbar sein mag.

Eileen Glutzer erinnert sich an die ersten Medikamentenstudien. Foto: pro-fun Media

Zugleich ist „We Were Here“ ein Film darüber, wie eine Community in einer Ausnahmesituation zusammenwächst und sich aus bitterster Not heraus als politisch starke wie auch solidarische Gemeinschaft erweist. Weil die Infektionswege noch unbekannt sind und sich zu wenige Pflegekräfte freiwillig für die Arbeit auf der Aids-Station melden, übernehmen vor allem lesbische Schwestern diese Aufgabe. Mit dem Slogan „Our Boys Need Our Blood“ rief später eine Lesbenorganisation sogar zur Blutspende für die Behandlung der Erkrankten auf.

Die Biografien der Protagonisten berühren und bewegen

Die Krankenschwester Eileen Glutzer berichtet von Studien, die sie in Eigeninitiative in der Frühphase der Medikamentenentwicklung auf einer Aids-Station zum Beispiel mit AZT durchführten: „Wir mussten irgendetwas tun. Wir konnten hier nur beim Sterben helfen. Wir wollten aber nicht einfach warten, bis die Pharmafirmen und Behörden etwas unternehmen.“ Ed Wolf organisiert mit anderen Mitstreitern einen Essensdienst für jene Erkrankten, die sich zu Hause nicht mehr alleine versorgen können. Weil es noch lange keine medizinische Hilfe gibt, versucht er als Ehrenamtler des Shanti-Projekts, den Schwerstkranken wenigstens ein würdiges Sterben zu ermöglichen.

Ed Wolf engagierte sich u. a. beim Aids-Pflegeprojekt Shanti. Foto: pro-fun Media

David Weissman hat mit seinen fünf Interviewpartnern eindrucksvoll erzählende Protagonisten. Ihrer Lebensleistung kann man nur mit höchstem Respekt begegnen, ihre Biografien berühren und bewegen. Immer wieder geraten sie beim Erzählen ins Stocken, weil ihnen noch Jahrzehnte später die Erinnerungen Tränen in die Augen treiben. Wenn sie angesichts des jahrelangen, zunächst hilflosen Kampfes gegen die Epidemie von ihrer eigenen Erschöpfung berichten. Wenn sie vom Sterben ihrer Liebsten erzählen und davon, wie es sich anfühlt, wenn alle in einer Medikamenten-Testgruppe binnen kürzester Zeit sterben, auch der eigene Lebensgefährte, und man als einziger überlebt, weil man die Nebenwirkungen nicht ertragen wollte und deshalb die Therapie nach kurzer Zeit abgebrochen hatte.

Einzelschicksale fügen sich zu einem beeindruckenden Zeitdokument

Diese hoch emotionalen Momente lassen niemanden unberührt. Weissman setzt sie aber mit Bedacht ein. Vor allem stehen sie beispielhaft für die tiefgreifenden Ereignisse, denen die Menschen im ersten Jahrzehnt der Epidemie ausgesetzt waren. Weissman kann diese Zeitzeugen-Interviews zugleich mit reichhaltigem dokumentarischem Material – privaten Fotos, Fernsehaufnahmen, Zeitungsartikeln – unterfüttern. Die Geschichte des Apothekenaushangs ist ein gutes Beispiel dafür, wie genau Weissman sein Material montiert hat.

So fügen sich diese Einzelschicksale zu einem Zeitdokument, das beispielhaft und in höchst konzentrierter Form noch einmal den ganzen Schrecken und die Herausforderungen der Epidemie begreifbar macht.

 

„We Were Here“. USA 2011. Regie David Weissman. Mit Ed Wolf, Paul Boneberg, Daniel Goldstein, Guy Clark, Eileen Glutzer. 90 Minuten. Als DVD (deutsch untertitelt) erschienen bei pro-fun.

Trailer zum Film „We Were Here“

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