Entschädigung für die §175-Opfer: „Man hat das Gesetz zu einer Farce gemacht“
Im Frühjahr 2017, so schien es, sollte Wolfgang Lauinger doch noch Gerechtigkeit widerfahren. Oder genauer: eine zumindest symbolische Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht.
Der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) hatte den inzwischen 99-Jährigen zusammen mit anderen Opfern des Anti-Homosexuellen-Paragrafen 175 zur ersten Lesung des Rehabilitierungsgesetzes in den Bundestag eingeladen.
§175 steht für Unrecht, Diskriminierung und gebrochene Biografien
Bereits 2002 hatte das Parlament die während des Nationalsozialismus ergangenen Urteile gegen Homosexuelle aufgehoben.
Nun sollten auch jene Urteile aufgehoben werden, die bis zur Abschaffung des Paragrafen im Jahr 1994 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen ergangen waren.
„Der Paragraf 175 StGB war von Anfang an verfassungswidrig“
Während in der DDR Homosexualität seit 1968 unter Erwachsenen straffrei war, wurde in der Bundesrepublik der aus der NS-Zeit übernommene Paragraf 175 im Jahr 1969 lediglich entschärft.
Bis dahin waren bereits 50.00 Männer verurteilt worden – so viele wie zwischen 1933 und 1945.
„Der Paragraf 175 StGB war von Anfang an verfassungswidrig. Er steht für Unrecht, Diskriminierung und gebrochene Biographien“, erklärte Heiko Maas.
Wolfgang Lauinger hatte die Einladung in den Bundestag seinerzeit aus Altersgründen nicht mehr wahrnehmen können. Doch dies war für ihn eine Art Abschluss, erzählt seine Biografin Bettina Leder. „Spätestens von diesem Moment an hat er keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass er und alle anderen nun rehabilitiert würden.“
Lauinger, der bereits während der NS-Zeit verfolgt worden war, hatte viele Jahre darauf hingearbeitet, sich für die Opfer des Paragrafen 175 stark gemacht und seine Lebensgeschichte in die Öffentlichkeit getragen – unter anderem als Zeitzeuge des „Archivs der anderen Erinnerungen“ der Bundestiftung Magnus Hirschfeld.
Doch Lauingers Antrag auf Wiedergutmachung wurde nicht stattgegeben.
Zwar konnte er nachweisen, Anfang 1950 im Rahmen einer groß angelegten Aktion in Frankfurt am Main zusammen mit rund 100 anderen Männern wegen seiner Homosexualität verhaftet worden zu sein.
Auch war er sechs Monate ohne Anklage im Untersuchungsgefängnis gewesen – mit Briefen hatte er seinen aus der Emigration heimgekehrten Vater und auch den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss um Hilfe gebeten. Vergeblich.
Letztlich aber war Lauinger freigesprochen worden. Ohne Gerichtsverhandlung. Und Anspruch auf Entschädigung in Höhe von 3000 Euro sowie zusätzlich 1500 Euro „je angefangenem Jahr erlittener Freiheitsentziehung“ hatten nur solche Männer, die tatsächlich auch verurteilt worden.
Zunächst keine Entschädigung der §175-Opfer ohne „Strafmakel“
Die Entschädigungen seien eine „finanzielle Anerkennung des erlittenen Strafmakels und der infolge eines solchen Urteils erlittenen Freiheitsentziehung“, so das Bundesjustizministerium in einer öffentlichen Stellungnahme. Bei einem Verfahren aber, das zu keiner Verurteilung geführt habe, „fehle“ es an diesem Strafmakel“.
Dass Lauinger über ein halbes Jahr Untersuchungshaft saß, spielte für das Bundesjustizministerium also keine Rolle.
Ebenso wenig, dass bereits der Verdacht der Homosexualität, eine mutwillige Denunziation oder eben auch eine Verhaftung und Anklage eine Biografie zerstören konnte.
Nicht selten verloren Homosexuelle auch noch in den 60er-Jahren ihre Wohnung, den Arbeits- oder Studienplatz, wurden sozial und gesellschaftlich geächtet.
„Es war wie ein Schlag ins Gesicht“
Wolfgang Lauinger hat die Ablehnung seines Antrags auf Entschädigung schwer getroffen.
„Es war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt Bettina Leder. „Er ist still geworden und in einer tiefen Depression versunken. Ich hatte ihn so nie gesehen.“
Einmal noch erhob Lauinger seine Stimme.
„Man hat das Gesetz zu einer Farce gemacht“, sagte er in einem Interview mit dem Internetportal BuzzFeed. „Wo liegt denn für einen normalen Menschen der Unterschied, wenn du fünf Monate im Gefängnis sitzt, ob du freigelassen oder freigesprochen wirst?“
Wolfgang Lauinger starb nur wenige Wochen, nachdem sein Antrag abgeschmettert worden war.
Sein Fall zeigt deutlich die Schwächen des so hart erkämpften und lange erwarteten Rehabilitationsgesetzes.
Für die meisten §175-Opfer kamen Rehabilitation und Entschädigung zu spät
Nach Angaben des Justizministeriums wurden in Ost und West nach 1945 etwa 70.000 Menschen wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilt. Die meisten von ihnen sind bereits verstorben.
Etwa 5000, so eine Schätzung von 2017, waren zu diesem Zeitpunkt nach den damaligen, eingeschränkten Regelungen entschädigungsberechtigt.
Doch ein Jahr nach Inkrafttreten zog die Regierung eine ernüchternde Bilanz. Lediglich 81 Anträge waren bis dahin gestellt und nur 54 davon positiv beschieden worden.
Bis 2019 ist die Zahl nur unwesentlich gestiegen. Zum 1. Mai waren 144 Anträge gestellt und davon 109 bewilligt worden.
Auf Druck von Parlamentarier_innen, von Christine Lüders, der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, sowie von Organisationen wie der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld besserte die damalige Bundesjustizministerium Katarina Barley (SPD) im März 2019 die Richtlinien schließlich nach.
„Paragraf 175 hat Leben zerstört“
Nunmehr können auch Personen entschädigt werden, gegen die ohne Urteil ermittelt wurde oder die durch die Verfolgung berufliche, wirtschaftliche oder gesundheitliche Nachteile erlitten hatten.
„Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs hat Menschen bestraft, weil sie gleichgeschlechtliche Partner liebten. Paragraf 175 hat Leben zerstört. Es war ein Zeichen später Gerechtigkeit, die erfolgten Verurteilungen endlich durch Gesetz aufzuheben“ – so begründete Barley die Änderung.
„Es ist wichtig, dass wir Solidarität und Anerkennung zeigen. Die Verfolgung Homosexueller war aus heutiger Sicht grobes Unrecht. Als Rechtsstaat übernehmen wir dafür heute Verantwortung.“
Weiterhin von der Rehabilitierung ausgenommen bleiben allerdings jene Männer, deren Partner zum „Tatzeitpunkt“ unter 16 Jahre alt waren, auch wenn sie selbst vielleicht nur 16 oder 17 waren – während das sogenannte Schutzalter bei Heterosexuellen bei 14 Jahren liegt.
Bis zum 1. Mai 2019 wurden 44 Anträge auf eine Entschädigung nach dieser neuen, immer noch diskriminierenden Richtlinie gestellt und sieben davon bereits bewilligt, teilte das Bundesjustizministerium auf eine Anfrage der DAH mit.
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