„Fliehen oder sterben“
Von Manfred Bube
Selam* ist 30 Jahre alt, könnte aber auch für 25 durchgehen. Sie wirkt locker, doch ihre Stimme mit dem leicht dunklen Timbre verrät Anspannung und Unsicherheit. Bis sie ihre kleine Tochter auf den Arm nimmt und redet. Darüber, warum es ihr wichtig ist, dass ihre Geschichte veröffentlicht wird. Darüber, was sie erlebt hat, erleben musste. „Ich will allen Frauen, die mein Schicksal teilen, Mut machen. Mut zu einem Leben, das auch mit HIV lebenswert und erfüllend sein kann.“
Selams Familie stammt aus der Hafenstadt Assab. Sie sind Christen, und der Vater gehört zu den bekannten Regimekritikern im Land. Das heißt: ein Leben in ständiger Angst. 1998 fliehen sie in den Sudan. Doch auch dort sind sie vor dem langen Arm der eritreischen Geheimpolizei nicht sicher: Eines Tages wird der Vater verhaftet und in Eritrea ins Gefängnis gesteckt.
„Ich wollte nur weg, weg, weg“
Um Mutter, Schwester und beide Brüder zu unterstützen, bricht Selam nach der zehnten Klasse die Schule ab und geht arbeiten. Doch ihr rebellischer Geist und offen gelebter Glaube fallen auf. So sehr, dass die Mutter sie aus Sorge um ihr Leben 2011 inständig bittet, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. „In den schlecht belüfteten unterirdischen Gefängnissen in Eritrea ist es heiß und stickig. Dazu noch die brutalen Foltermethoden, da kommt selten jemand lebend raus. Ausgehend davon, dass mein Vater nicht mehr lebt, wollte ich auf keinen Fall das gleiche Schicksal erleben. Fliehen oder sterben, die Alternative war klar“, erzählt Selam.
Eines Tages steckt sie spontan Geld ein und macht sich auf die Reise. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt, und es war mir egal“, sagt sie. „Ich wollte nur weg, weg, weg.“ Sie findet eine Mitfahrgelegenheit nach Libyen. Und wird, weil sie keinen Ausweis dabei hat, prompt in Bengasi ins Gefängnis geworfen. „Ab da gehörten Vergewaltigungen und Folter zur Tagesordnung“, berichtet sie mit Tränen in den Augen. „Weibliche Gefangene haben keine Chance, dem zu entgehen.“
Nach drei Monaten, sie täuscht eine Schwangerschaft vor, wird Selam entlassen. Und geht zu Fuß nach Tripolis an der Mittelmeerküste – Luftlinie etwa 650 Kilometer. „Die ersten Tage waren ok, aber bald schmerzten die Beine, die Füße wurden wund. Und immer wieder diese Momente, wo ich vor Wut und Verzweiflung einfach nur laut geschrien habe, nah dran war, aufzugeben.“ Doch sie kämpft sich durch. Wie lange sie unterwegs war? Sie weiß es nicht.
Folter und Vergewaltigung gehörten zur Tagesordnung
Auf der Suche nach einem Boot bieten ihr mehrere Schlepper Hilfe an. Der Preis dafür: insgesamt etwa 5000 Dollar. Und die Vergewaltigungen gehen weiter. Dann, endlich, sticht das Schlauchboot mit 98 weiteren Flüchtlingen in See. Nach einem Tag setzt der Motor aus. Panik macht sich breit. „Es waren Somalier mit an Bord, die das Boot aufschlitzen wollten, damit wir alle durch den Tod von unserem Leiden erlöst werden. Jetzt hatte ich zum ersten Mal Todesangst“, beschreibt Selam mit stockender Stimme die Situation.
Dann keimt Hoffnung auf: Ein Tanker erscheint am Horizont. Als er näher kommt, schlägt die Stimmung um. Denn das Schiff fährt unter französischer und libyscher Flagge. Zurück will niemand. Eine Frau fasst Mut und spricht mit dem Kapitän. „Wenn Italien ja sagt, okay, wenn nicht, geht es nach Libyen“, lautet seine Aussage. Wenig später kommt das Okay aus Lampedusa.
Allerdings trauen nicht alle diesen Worten. Aus Angst, dass der Kapitän lügt und nach Libyen abdreht, bleiben 25 Menschen im Schlauchboot. Darunter eine Mutter, die ihr acht Monate altes Kind einer Frau in die Hand drückt, die auf den Tanker will. „So hat sie für sich das Risiko minimiert, dass beide sterben“, sagt Selam trocken.
Todesangst auf dem Mittelmeer
Stunden später, das Schlauchboot ist fast nur noch ein Punkt am Horizont und hat, weil jetzt zu leicht, keine Chance gegen die Wellen, sind verzweifelte Hilfeschreie der Todgeweihten zu hören. Zum Glück kann der Kapitän einen anderen Öltanker dorthin lotsen, der die Flüchtlinge in letzter Sekunde rettet. In Lampedusa fallen sich alle um den Hals, Freudentränen fließen.
„Es gab etwas zu essen, frische Kleidung, ein Bett und endlich die erleichternde Gewissheit, sicheren Boden erreicht zu haben. Das war das schönste Gefühl, das ich jemals hatte“, beschreibt Selam die ersten Stunden im Aufnahmelager im August 2012.
Von Lampedusa geht es weiter in ein Camp in Katalonien. Dort lernt sie einen jungen Mann kennen… Als Selam im Sommer 2013 in Gießen ankommt, ist sie im sechsten Monat schwanger. Und freut sich auf das Kind. Bis sie nach einer Vorsorgeuntersuchung, inzwischen lebt sie im Bergischen Land, die Diagnose „HIV-positiv“ bekommt. „Das war, als hätte jemand eine Tür im Boden geöffnet und mich in einen langen Schacht gestürzt. Ich wurde depressiv, wollte sterben. Vor allem auch, weil die Bilder von der Flucht wieder wach wurden“,sagt sie nachdenklich. Und dann eine Spur wütender: „Ich bin mir sicher, die Infektion kann nur im Gefängnis oder bei den Schleppern passiert sein.“
Schwanger und HIV-positiv
Zwei Tage später dann die Glücksbotschaft: Eine weitere Untersuchung ergibt, dass das Baby nicht infiziert ist. „In dem Moment wusste ich, mein Mädchen und ich wollen und werden leben.“ Mit neuem Mut und voller Energie fiebert sie der Geburt entgegen. Im Dezember 2013 erblickt Senait* gesund und munter das Licht der Welt.
Inzwischen kann Senait laufen und erobert mit strahlenden Augen die neue Wohnung, die ihnen vor kurzem zur Verfügung gestellt wurde. „Die Kleine hat meinem Leben einen neuen Sinn gegeben“, sagt Selam. „Ja, es geht mir gut. Die HIV-Infektion haben die Ärzte im Griff, ich merke sie eigentlich gar nicht. Im Krankenhaus habe ich auch Kontakt zur Aidshilfe bekommen. Das Mitarbeiterteam steht mir bei allen Fragen rund um das Thema Gesundheit zur Seite. Ich danke Gott jeden Tag für alle die Menschen, die mir unterwegs, in den unterschiedlichen Aufnahmelagern und hier in der Region geholfen haben und helfen – dafür, dass ich hier mit meiner Tochter in Frieden und Freiheit leben darf“, so Selam. Obwohl: „Manchmal, wenn ich durch die Stadt gehe, gucken mich die Menschen so an, als wollten sie sagen: Du gehörst hier nicht hin. Aber das stört mich nicht wirklich, denn wäre ich in Eritrea geblieben, wäre ich längst ermordet, und Senait würde es nicht geben.“
Auch wenn Selams Anerkennung als politisch Verfolgte noch nicht abgeschlossen ist, hofft sie auf eine Zukunft in Deutschland: „Ich bete oft darum, dass Gott mir die Gnade schenkt, hier bleiben zu dürfen. Damit Senait eine Perspektive für die Zukunft hat, damit ich irgendwann beruflich dort ankomme, wo ich anderen helfen kann. Denn das liegt mir am Herzen: Gutes zu tun, so wie ich es, trotz manch widerlicher Behandlung, erleben durfte.“
*Die Namen von Selam und Senait haben wir zu ihrem Schutz geändert. Das Gespräch wurde mit Unterstützung des vereidigten Dolmetschers Kessette Awet auf Tigrinja, also in der Landessprache Eritreas geführt – vielen Dank für diesen ehrenamtlichen Einsatz!
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