Musikalisches HIV-Coming-out

„Es ist immer wichtig, für ein Gespräch offen zu bleiben“

Von Axel Schock
Gerben Grimmius
Warum fällt es oft so schwer, offen über die eigene HIV-Infektion zu sprechen? Auch der Musicalstar Gerben Grimmius hat einige Zeit gebraucht und dann einen sehr persönlichen und besonderen Weg dafür gewählt: einen Song, den er mittlerweile in drei Sprachen veröffentlicht hat.

In seiner mittlerweile 15-jährigen Karriere stand Gerben Grimmius nicht nur in seiner niederländischen Heimat, sondern auch in Belgien, Österreich, in der Schweiz und in Deutschland auf der Bühne und spielte in Musicals wie „Tanz der Vampire“ und „Ich war noch niemals in New York“. Aktuell ist er für die Neuproduktion von Andrew Lloyd Webbers „Cats“ in Wien engagiert.

Mit „Ein gutes Gespräch“, einem speziell für ihn geschrieben Song über seine HIV-Infektion, hat Gerben Grimmius allerdings nicht nur Menschen rund um den Globus erreicht, sondern auch ein Tabu gebrochen.

Gerben, du bist tatsächlich der erste offen HIV-Positive in der deutschsprachigen Musicalszene, oder?

Gerben Grimmius: Es gibt sicherlich noch einige andere Kollegen, aber das Tabu und die Stigmatisierung sind immer noch so groß, dass sich viele von ihnen einfach nicht trauen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht, weil sie Angst vor den Reaktionen haben oder befürchten, dass möglicherweise Freundschaften zerbrechen könnten.

Als ich 2018 meinen Song „Ein gutes Gespräch“ auf Niederländisch veröffentlichte, haben sich auch Kollegen bei mir gemeldet und gesagt: „Es ist wunderbar, dass du das machst. Das ist auch meine Geschichte, aber ich würde mich das nicht trauen.“

Nun gibt es in anderen Kultursparten, sei es im Sprechtheater oder in der Popmusik, ja durchaus inzwischen einige Künstler_innen, die offen mit ihrem HIV-Status umgehen. Die Musicalszene gilt gemeinhin als sehr aufgeschlossen – sowohl was das Publikum als auch was die Beschäftigen angeht. Warum, denkst du, sind HIV-positive Kolleg_innen dennoch so zurückhaltend?

Mich hat das ebenfalls überrascht. Am Welt-Aids-Tag werden traditionell in vielen Musicaltheatern Spenden gesammelt. Das Thema ist also durchaus präsent. Mir fiel aber auf, dass zwischen den Kolleginnen und Kollegen backstage nie darüber gesprochen wurde. Ich denke allerdings, das ist in anderen Branchen nicht viel anders.

Manchem Arzt, Polizisten oder Lehrer wird es vielleicht ähnlich ergehen. Außerdem arbeiten in meiner Branche die meisten freiberuflich. Es gibt daher bestimmt auch die Befürchtung, dass ein HIV-Coming-out zu beruflichen Nachteilen, also weniger Engagements, führen könnte.

„Man muss die Angst einfach umarmen und Mut fassen, anstatt sich von ihr lähmen zu lassen“

Hast du selbst solche negativen Erfahrungen gemacht?

Nein, eigentlich nicht, weder in meinem Freundeskreis noch bei meinem Arbeitgeber. Als ich in Tecklenburg engagiert war, habe ich das Lied bei einer Singer/Songwriter-Veranstaltung vor all meinen Kollegen und Vorgesetzten gesungen und die Reaktionen waren so positiv, dass ich dachte: Man muss die Angst einfach umarmen und Mut fassen, anstatt sich von ihr lähmen und vereinnahmen zu lassen.

Wie ist es zu deinem Song „Ein gutes Gespräch“ eigentlich gekommen?  Er ist speziell für dich geschrieben worden, oder?

Richtig, er entstand auf meine Initiative. Die Idee dazu hatte ich gut zwei Jahre nach meiner HIV-Diagnose. Ich wollte meine Arbeit als Sänger nutzen und habe daher auch diese Kunstform gewählt, um das HIV-Tabu zu brechen. Ich habe Daniël Cohen gefragt, ob er mir ein Lied dazu schreiben würde.

Er hat auch gleich zugesagt, aber mich gebeten, für ihn einen Brief zu schreiben, der an meine Familie, Freunde und Beziehungspartner gerichtet ist und in dem ich ihnen von meinem Leben mit dem Virus berichte. Das war für ihn die Grundlage für seinen poetisch verdichteten Songtext. Der Komponist Hilmar Leujes hat ihn dann für mich vertont. Der Song erzählt also tatsächlich meine eigene Geschichte und ist daher auch so persönlich geworden.

„Der Song erzählt meine eigene Geschichte“

Das bedeutet, dass du die darin geschilderten Erfahrungen auch selbst gemacht hast. Zum Beispiel, dass deine WG-Mitbewohner_innen nach dem HIV-Coming-out die Handtücher getrennt waschen wollten.

Ja, das ist nicht erfunden. Sie haben zwar sehr verständnisvoll reagiert, aber sie waren in diesem Punkt doch sehr unsicher und haben mich gefragt, ob wir die Wäsche oder das Geschirr nun getrennt waschen müssen. Das habe ich ihnen nicht übel genommen, denn sie wussten einfach nicht Bescheid. Ich war der erste HIV-Positive in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis. Ich habe dann gesagt: „Ok, ihr seid herzlich eingeladen, mich zu meinem Arzt zu begleiten und ihm eure Fragen zu stellen.“

Ich finde, es ist immer wichtig, für ein Gespräch offen zu bleiben, anstatt vorschnell den Kontakt zu einem anderen Menschen abzubrechen, selbst wenn sie mich ausschließen. Ganz oft ist einfach Unwissenheit die Ursache dafür. Und wenn man im Gespräch bleibt, ändert sich die Meinung des Gegenübers ja vielleicht auch.

Wie war es mit deinen Mitbewohner_innen?

Zu meinem Arzt sind meine Mitbewohner dann doch nicht mitgekommen, stattdessen haben wir in der WG sehr offen über all das geredet, und sie waren auch sehr interessiert daran zu erfahren, was diese Diagnose nun für mich eigentlich bedeutet. Außerdem haben sie viel dazu gelesen und sich selbst informiert.

„Meine Hoffnung ist, dass das Lied viele Menschen erreicht und sie offener über das Thema HIV sprechen“

Du hast den Song mittlerweile in drei Sprachen veröffentlicht. Steckt da ein missionarischer Eifer dahinter und hoffst du, dadurch möglichst viele Leute zu erreichen?

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass meine Videos so oft geteilt wurden, denn das war insgeheim auch meine Hoffnung: dass das Lied viele Menschen erreicht und sie vielleicht anfangen, offener über das Thema zu sprechen.

Dass ich den Song in mehreren Sprachen produziert habe, hat allerdings einen ganz einfachen Grund. Ich arbeite meist in den deutschsprachigen Ländern, aber ich wollte das Lied zuerst in meiner Muttersprache veröffentlichen, weil sie mir verständlicherweise viel näher liegt.

Recht bald nach der Veröffentlichung kam die Anfrage, ob ich den Song nicht bei der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam 2018 singen könnte, und zwar auf Englisch. Das war innerhalb der kurzen Zeit jedoch nicht mehr zu schaffen. Weil der Wunsch nach einer englischen Version aber auch von anderen geäußert wurde, habe ich den Text dann übertragen lassen. Als ich vergangenes Jahr für die Neuproduktion von „Cats“ in Wien engagiert wurde, wollte ich das Lied dann auch auf Deutsch aufnehmen.

Gerade an „Cats“ lässt sich gut sehen, welche Auswirkungen Aids in den 1980er-Jahren in der Musicalszene hatte. Sowohl vom Ensemble der deutschen Erstaufführung in Hamburg als auch von der Original-Besetzung am Broadway hat kaum einer der männlichen Darsteller die Epidemie überlebt. Wie präsent und bewusst ist dies der nachfolgenden Generation von Musicaldarsteller_innen?

Ich kann da zunächst einmal nur für mich sprechen. Mir ist das durchaus bewusst und es ist für mich deshalb auch etwas Besonderes, jetzt bei „Cats“ mitzuwirken.

„Man kann heute mit HIV ein gutes Leben führen“

Diese Zeit habe ich selbst damals auch wahrgenommen. Ich war zwar noch ein Kind, als Freddy Mercury starb, aber sein Tod hat sich eingeprägt. Meine Generation hat die Bedrohung, die die Epidemie darstellte, noch sehr intensiv mitbekommen. Deshalb fand ich es so wichtig, mich zu outen, um zu zeigen, wie es ist, heute mit HIV zu leben, und dass sich seit den achtziger Jahren viel geändert hat.

Es ist daher auch wichtig, dass die Menschen sich bewusst werden, dass man mit HIV ein gutes Leben führen kann, dass mit einer guten Therapie das Virus nicht nachweisbar und nicht übertragbar ist und man seine Träume erfüllen kann – so wie ich momentan im Musical „Cats“.

Durch deinen Song hast du dich ja sehr bewusst als Mensch mit HIV in der Öffentlichkeit positioniert und dafür sicherlich auch viele Reaktionen, auch jenseits des Freund_innen- und Kolleg_innenkreises, bekommen. Welche haben dich besonders beeindruckt oder sind für dich eine Bestätigung dafür, dass sich die Mühen gelohnt haben?

Diese Feedbacks gibt es in der Tat immer wieder. Ich bin mir manchmal gar nicht mehr bewusst, dass dieser Song bei anderen Menschen etwas anstoßen und für sie etwas Besonderes bedeuten kann. Immer mal wieder bekomme ich, meist über Facebook, sehr persönliche Nachrichten von Leuten, die ich überhaupt nicht kenne. So etwa von einer Frau aus Suriname.

… der kleine Staat ist ehemalige niederländische Kolonie und liegt an der Grenze zu Brasilien und Französisch-Guayana.

In Suriname ist HIV noch ein großes Stigma. Sie schrieb mir, dass ihr dieses Lied so viel Kraft und auch ein bisschen Lebensfreude gegeben habe und dass sie nun etwas besser mit ihrer Infektion umgehen kann.

Vor ein paar Wochen war ich in Amsterdam bei einem Treffen für Menschen mit HIV und deren Freunde. Dort haben mich auch einige auf das Lied angesprochen. Einer sagte, er hätte dadurch den Mut gefasst, sich als HIV-Positiver zu outen. Das freut mich natürlich ungemein, und es macht mir auch wieder bewusst, wie viel ich für mich bereits erreicht habe, seit ich an diesem Punkt war, es anderen Menschen zu erzählen.

„Es bringt nichts, die Existenz des Virus in meinem Körper nicht zu akzeptieren“

Haben dich auch negative Nachrichten erreicht?

Nein, eigentlich nicht. Ein Mann schrieb mir mal, dass ihm das Lied zwar gut gefallen habe, aber er es völlig unverständlich finde, dass ich darin das Virus als „Freund“ und als „meinen Kameraden“ bezeichne. Er fand, das ginge zu weit. Ich hätte das als Angriff verstehen können, aber ich habe ihm geantwortet und im direkten Austausch versucht, diese Formulierung zu erklären.

Er hat mich dann auch verstanden und es ergab sich eine tolle Konversation. Das hat mich wieder einmal darin bestätigt, wie wichtig es ist, den Dialog zu suchen.

Verrätst du auch uns, was das Virus zu deinem Kameraden macht?

Es bringt meiner Ansicht nach nichts, dagegen anzukämpfen und die Existenz des Virus in meinem Körper nicht zu akzeptieren. Denn dann wird es mir am Ende körperlich und auch psychisch schlechter gehen. Deshalb habe ich für mich irgendwann entschieden: Es ist ein Teil von mir – ein Freund, ein Kamerad –, also fast wie eine Beziehung. Man weiß nie, wie lange sie hält. Vielleicht verlässt er mich eines Tages, wenn es ein entsprechendes Medikament gibt. Momentan aber ist er ein Teil meines Lebens und ich umarme ihn lieber, als dass ich mich unentwegt dagegen wehre und so unnötig meine Kraft verschwende.

Vielen Dank für das gute Gespräch!


Webseite von Gerben Grimmius

Der Song:
Niederländisch („Een goed gesprek“): eengooedgesprek.one
Englisch („A Pleasant Talk“) und Deutsch („Ein gutes Gespräch“): www.apleasanttalk.com

 

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„Mein Leben ist schöner mit HIV“

„Ich bin ein HIV-negativer Langzeitüberlebender“

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