HIV-Aktivismus

„Es ist an der Zeit, die bisherigen Erzählungen der HIV-Epidemie zu hinterfragen“

Von Axel Schock
historische Fotografie zum HIV-Aktivismus in Polen
Wie passen Sozialforschung und Aktivismus zusammen? Was können Aktivist_innen aus der Geschichte ihrer Bewegung lernen? Und wo muss unser Bild des HIV-Aktivismus womöglich korrigiert werden? Ein Interview mit der polnischen Soziologin und Streetworkerin Agata Dziuban anlässlich der Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ im Schwulen Museum Berlin.

Eines kann man Agata Dziuban nicht vorwerfen: Wissenschaft im Elfenbeinturm zu betreiben. Die Soziologin lehrt an der Jagiellonen-Universität Krakau und forscht dort unter anderem zur Selbstorganisation von Sexarbeiter_innen und zu HIV-bezogenem Aktivismus auf europäischer Ebene.

Darüber hinaus war sie als Policy Officer für das Internationale Komitee für die Rechte von Sexarbeiter_innen in Europa (ICRSE) und als Expertin für UNAIDS tätig. Und nicht zuletzt unterstützt sie Sexarbeiter_innen-Selbstorganisationen beim Aufbau von HIV-Präventionsprogrammen.

Was können HIV-Aktivist_innen aus der Geschichte lernen?

Ihr Wissen und ihre Erfahrungen hat sie nun auch in das europaweite Forschungsprojekt „European HIV/AIDS Policies: Activism, Citizenship and Health„ eingebracht, kurz EUROPACH. Die Berliner Ausstellung zum Aids-Aktivismus in Deutschland, Großbritannien, Polen, der Türkei und auf europäischer Ebene bietet nun einen Einblick in dafür gesammelte Dokumente und gewonnene Erkenntnisse.

In Deutschland war der Aktivismus zu Beginn der Aidskrise sehr eng mit der Schwulenbewegung verknüpft. Wie sah das in Polen aus?

Agata Dziuban: Die Entwicklung der Epidemie unterschied sich in Polen deutlich, das hat sich erst mit der Zeit geändert. Betroffen waren anfangs vor allem Drogengebraucher_innen. Aus diesem Grund haben verschiedene Nichtregierungsorganisationen, die sich zuvor bereits in Nadeltauschprogrammen engagiert hatten, Zentren für erkrankte Drogenkonsument_innen eingerichtet.

Andernorts konnten diese Menschen nämlich kaum Unterstützung erwarten – weder im Gesundheitssystem noch in ihren meist konservativen Familien, zu denen in der Regel der Kontakt abgebrochen war. Auch wenn diese Einrichtungen nicht als Hospize konzipiert waren, so übernahmen sie gerade in den ersten Jahren der Epidemie diese Funktion.

Diese Wohn- und Pflegeeinrichtungen stehen nun auch im Mittelpunkt des polnischen Teils der Ausstellung „HIVstories. Living Politics“. Fotos dokumentieren den Widerstand der Bevölkerung.

Meine Kollegin Justyna Struzik hat in der Ausstellung und in ihrer Forschung gezeigt, dass diese Heime in der Tat sehr umstritten waren. Man hatte dafür Orte abseits der Metropolen ausgesucht, meist Kleinstädte. Die Bevölkerung dort war sehr verängstigt.

In Polen waren zu Anfang vor allem Drogengebraucher_innen betroffen

Drogengebraucher_innen wurden automatisch mit HIV in Verbindung gebracht, und die Menschen wussten einfach noch viel zu wenig über die Krankheit und die Übertragungswege – zum Beispiel, ob sich das Virus wie die Bakterien bei der Tuberkulose über die Luft verbreiten kann.

Diese Unwissenheit hing auch damit zusammen, dass es in Polen kaum Sexualerziehung gab und gibt. Und das führt – letztlich bis heute – zu falschen Vorstellungen von HIV, und damals eben auch zu Protesten gegen die Einrichtungen.

Welche Rolle spielte damals die Kirche?

Es mag überraschend klingen, aber kirchliche Institutionen und Einrichtungen spielten in den ersten Jahren der Krise eine zentrale Rolle in Sachen Hilfe und Unterstützung. Man muss sich dazu in Erinnerung rufen, dass sich zu dieser Zeit des politischen Umbruchs vom Sozialismus zum sogenannten kapitalistisch-demokratischen System noch keine Zivilgesellschaft im engeren Sinne entwickelt hatte.

Damit gab es auch so gut wie keine Basisorganisationen, weder der LGBT-Community noch solche, die sich für die Menschenrechte oder für Drogengebraucher_innen einsetzten.

Die Kirchen hatten hingegen Strukturen, Ressourcen und Räume, die sie tatsächlich auch bereitstellten, um auf die Aidskrise zu reagieren. Doch trotz des Engagements der Kirchen gab es die Vorurteile und Ressentiments in der Bevölkerung, die dann auch zum Widerstand gegen die Drogenhilfeprojekte führte.

In der Bevölkerung gab es Widerstand gegen Drogenhilfeprojekte

Ein schwerer Fehler war, dass die Gemeinden nicht in die Vorbereitung und in die Entscheidungen eingebunden wurden. Leider hat sich seither nicht viel geändert. Erst in jüngster Zeit war ein neues Hilfsprojekt für Drogengebraucher_innen mit ähnlich heftigen Protesten konfrontiert.

Du hast unter anderem für Interessensvertretungen wie das Internationale Komitee für die Rechte von Sexarbeiter_innen in Europa (ICRSE) gearbeitet und bist weiterhin als aufsuchende Beraterin von Sexarbeiterinnen in Warschau tätig. Zugleich forschst du als Soziologin in diesem Themenfeld. Ist dieses Nebeneinander von Aktivismus und Forschung im gleichen Gebiet eher schwierig oder förderlich?

Ich sehe diese Verbindung persönlich als sehr vorteilhaft. Mein Verständnis von Wissenschaft ist, dass die Forschung einen konkreten Nutzen bringen und nicht lediglich der Selbstbeschäftigung akademischer Kreise dienen soll. Ich freue mich also, wenn wir Erkenntnisse erlangen können, mit denen die Probleme der Gegenwart besser verstanden und benannt und damit Verbesserungen für die betroffenen Communitys geschaffen werden können.

Das Forschungsprojekt EUROPACH, für das du federführend verantwortlich zeichnest, hat nun Dokumente gesammelt, Zeitzeug_innen-Interviews geführt und mit diesen das European HIV/AIDS Archive aufgebaut. Mit diesem Archiv habt ihr einen großen Wissensspeicher für die Wissenschaft angelegt.

Nicht nur für die Wissenschaft! Diese Sammlung kann auch von großem Wert für die beteiligten Gruppen sein, etwa Migrant_innen, LGBT-Personen oder Menschen, die Drogen konsumieren oder Hafterfahrungen haben.

Das European HIV/Aids Archive soll auch Dokumente dieser besonders von der HIV/Aids-Epidemie betroffenen Gruppen sichern und es ihnen ermöglichen, Stimmen, Geschichten, Perspektiven und Diskurse zu recherchieren; beispielsweise wie HIV-Aktivismus zu anderen Zeiten verstanden wurde oder wie und welche Entscheidungen getroffen wurden.

Die Communitys waren so vielfältig wie ihre Haltungen, Herausforderungen und Fehler

Mit diesem Fundus kann man sich außerdem vergegenwärtigen, wie vielfältig die Communitys, ihre Haltungen und Herausforderungen waren – und genauso auch die Fehler, die gemacht wurden. Nachfolgende Generationen von Aktivist_innen können so vielleicht besser diskutieren, wie ähnliche Fehler vermieden werden können. Das wird insbesondere interessant, wenn man sich Gedanken darüber macht, wie der Aktivismus in der Zukunft aussehen kann.

Wo siehst du da konkret Diskussionsbedarf?

Es ist an der Zeit, die bestehenden Erzählungen der HIV-Epidemie und des Aktivismus zu hinterfragen. Das ist eine der für mich wichtigen Erkenntnisse aus dem EUROPACH-Projekt.

Die Narrative waren in Europa sehr eng an die Entwicklungen in den USA anlehnt, wonach ganz bestimmte Gruppen hauptsächlich von der Epidemie betroffen waren beziehungsweise auf die Epidemie reagiert haben. Bislang sind zwar erst wenige Interviews, die für das Archiv geführt wurden, aufbereitet. Aber bereits diese wenigen zeigen, dass wesentlich mehr Communitys von HIV betroffen waren, als bekannt oder offensichtlich war, deren Perspektive jedoch vernachlässigt wurde.

Kannst du das konkretisieren?

Ich spreche hier etwa von den afrikanischen Communitys in Europa, die als eine der ersten auf die Epidemie reagiert haben. Ähnliches gilt für die Sexarbeiter_innen-Community. Ich bin mir sicher, dass sich durch das Archiv das Bild der HIV-Epidemie in Europa verändern und ausdifferenzieren wird. Es wird dazu beitragen, sichtbar zu machen, wie viele unterschiedliche Gruppen in den jeweiligen Ländern durch die Epidemie betroffen waren und wie unterschiedlich die Probleme und die darauf entwickelten Strategien waren. Diese Diversität bekannter zu machen, bietet die Chance für mehr Solidarität untereinander und kann zudem für eine verstärkte Zusammenarbeit werben.

Existenzielle Aspekte sollten stärker berücksichtigt werden

Welche Folgen haben diese „blinden Flecken“ im Diskurs über die Epidemie?

Viele tatsächlich sehr existenzielle Aspekte wurden und werden kaum diskutiert, etwa der Zugang zu Wohnraum, Armut, Bürgerrechte oder die Rolle wirtschaftlicher Benachteiligung. Dies waren nie zentrale Punkte, wenn es um die Ursachen und die Bekämpfung der Epidemie ging. Ich denke aber, wir sollten uns die Frage stellen, ob wir diese Gesichtspunkte nicht viel stärker berücksichtigen sollten.

Inwieweit haben solche sozialen Fragen im Zusammenhang mit der HIV-Bekämpfung heute wieder an Bedeutung gewonnen?

Wir erleben quer durch Europa Sparmaßnahmen, die vielerorts auch das Gesundheitssystem betreffen. Wir erleben wachsenden Nationalismus und damit verbunden wachsende Fremdenfeindlichkeit und Homofeindlichkeit. Die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen geraten in einigen Ländern in Bedrängnis, denken wir nur an Polen oder Ungarn. Wir erleben also neue, drängende Probleme, die mit Themen wie Gesundheitspolitik und HIV-Bekämpfung zusammenhängen.

Du hast gerade die Sexarbeiter_innen-Bewegung als ein Beispiel für Communitys genannt, die in der großen Erzählung über den Aids-Aktivismus vernachlässigt werden. Welche Rolle spielten die politisch engagierten Sexarbeiter_innen in der Aidskrise?

Eine ganze Reihe von Sexarbeiter_innen-Organisationen haben sich bereits in den frühen Achtzigerjahren im Bereich HIV für ihre Community engagiert. Das ist nur viel zu wenig bekannt.

Wie lässt sich das erklären?

Als die Aidsepidemie ausbrach, befand sich die europäische Sexarbeiter_innen-Bewegung, abgesehen von Ausnahmen wie Hydra in Deutschland, noch in der Aufbauphase. Das unterscheidet sie von der Gay Community, die bereits über gefestigte Strukturen verfügte. Zudem hatten Sexarbeiter_innen ganz andere Themen auf ihrer Agenda; es ging vor allem um die Entkriminalisierung der Sexarbeit.

Sexarbeiter_innen-Organisationen konnten sich durch ihr HIV-Engagement etablieren

Das überlagerte das Engagement dieser Organisationen für die eigene Community, wie Testangebote, Beratung und Aufklärung. Zugleich boten sich völlig neue Chancen und Möglichkeiten.

Das Engagement im Bereich HIV hat es Sexarbeiter_innen-Organisationen ermöglicht – auch mit Mitteln beispielsweise des Global Fund –, sich innerhalb recht kurzer Zeit auch in Ländern zu etablieren, wo es ihnen aufgrund der politischen Situation ansonsten kaum gelungen wäre, etwa in einigen Ländern in Asien oder Osteuropa.

Wie können Organisationen diese Stärke nun jenseits der HIV-Prävention für ihre Anliegen nutzen?

Die Organisationen haben nun eine völlig andere Ausgangsposition, um sich für die Entkriminalisierung der Sexarbeit einzusetzen. Entsprechende Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen, sei es in Fachzeitschriften wie „The Lancet“ oder durch UNAIDS, haben mittlerweile den meisten Politiker_innen klar machen können: Um HIV erfolgreich bekämpfen zu können, müssen die wichtigen Gruppen erreicht werden.

Konkret sollen Sexarbeiter_innen einen besseren Zugang zu Beratungsangeboten, zu Kondomen oder auch zur Prä-Expositions-Prophylaxe und zur Post-Expositions-Prophylaxe erhalten. Das aber gelingt nicht, wenn sie permanent der Strafverfolgung ausgesetzt sind.

Die Sexworker-Community hat also den Kampf gegen HIV für ihre ursprünglichen politischen Ziele nutzen können.

Auf lange Sicht hat das Thema HIV auf jeden Fall zu einer stärkeren Politisierung der Sexarbeiter_innen-Community geführt und sie ermutigt, sich für ihre Rechte und für ihre Gesundheit stark zu machen. Wie in der Gay Community gab es allerdings auch hier die berechtigte Befürchtung, dass dadurch Sexarbeiter_innen mehr denn je mit HIV in Verbindung gebracht werden – und damit die Stigmatisierung befördert wird.

Schwule Männer und Sexarbeiter_innen wurden in den ersten Jahren der Epidemie zu Sündenböcken gemacht und als jene gebrandmarkt, die die Seuche verbreiten. Gerade Sexarbeiter_innen wurden als Gefahr für die öffentliche Gesundheit gesehen, da sie angeblich das Virus in die breite Gesellschaft trugen.

Schwule Männer und Sexarbeiter_innen wurden zu Sündenböcken gemacht

Das führte in vielen Ländern zur Verschärfung von Gesetzen und Richtlinien, etwa zu verpflichtenden Gesundheitsuntersuchungen und HIV-Tests. Diese Verschärfungen haben letztlich die Stigmatisierung von Sexarbeiter_innen befeuert.

Die Ausstellung „HIVstories. Living Politics“ soll im kommenden Jahr auch in Polen zu sehen sein. Welches Interesse, welche Reaktionen erwartest du?

Ob wir die Ausstellung in Krakau oder Warschau zeigen werden, steht noch nicht endgültig fest. Ich denke aber, dass es auf jeden Fall ein großes Interesse geben wird, und ich bin sehr gespannt, welche Diskussionen sich daraus entwickeln werden. Dazu muss man wissen, dass die Geschichte von Aids in Polen bislang so gut wie gar nicht erzählt ist.

Es gibt kaum Publikationen oder Forschung zu diesem Thema. Und was auch bemerkenswert ist: Material zur polnischen HIV-Geschichte ist vor allen in Archiven verstreut in Europa zu finden, nicht aber in Polen selbst. Hier gibt es, abgesehen von dem noch jungen Archiv der LGBT-Organisation Lambda, so gut wie keine Bewegungsarchive, die Material zur HIV-Epidemie gesammelt haben.

Ich hoffe daher, dass die Ausstellung vielleicht Leute und Organisationen aus dem Bereich HIV/Aids dazu ermutigt, die eigene Geschichte zu archivieren, sie damit sichtbar zu machen und Forschung zu ermöglichen. Durch die enge Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Justyna Struzik im Rahmen der Ausstellung und des Forschungsprojekts wurde mir bewusst, wie wenig selbst in Polen über diesen Teil der Aidsgeschichte bekannt ist, und damit auch darüber, was in den vergangenen drei Jahrzehnten bereits erreicht worden ist.

Das heißt, die Erfolge der Medizin sowie der HIV-Community sind viel zu wenig bekannt?

Es ist komplizierter. Die polnische Regierung hat ihr ganz eigenes Narrativ geschaffen: „Polen ist eine Insel, wir haben alles unter Kontrolle. Und alle haben Zugang zur Behandlung“ – Migranten selbstverständlich ausgenommen. Organisationen, die in der Vor-Ort-Arbeit tätig sind, berichten allerdings von ganz elementaren Problemen und Hindernissen, etwa die fehlende Finanzierung der Präventionsarbeit.

In Polen konnten erst 2012 Kondome als HIV-Schutzmöglichkeit genannt werden

Bis heute ist es in Polen fast nicht möglich, eine Präventionskampagne zu realisieren, mit der Kondome beworben werden. In nationalen Präventionskampagnen wurden ausschließlich Monogamie und sexuelle Abstinenz zum Schutz vor HIV empfohlen. Es dauerte bis 2012, bis erstmals auch Kondome als Schutzmöglichkeit genannt wurden. 2012!

Und durch die politischen Umstände verschlimmert sich die Situation. Nur ein Beispiel: Im Zuge der Parlamentswahlen wurde ein Gesetzesvorschlag diskutiert, wonach Sexualerziehung an Schulen grundsätzlich verboten werden soll. Ein Verstoß soll mit drei Jahren Gefängnisstrafe geahndet werden.

Das ist der gesellschaftliche Kontext, in dem sich Organisationen und Communitys rund um HIV- und STI-Prävention derzeit in Polen bewegen. Wir müssen befürchten, dass es zukünftig noch schwieriger werden wird, überhaupt sinnvolle HIV-Prävention zu leisten. In einer solchen Situation kann es vielleicht hilfreich sein, in der Geschichte zurückzugehen, um zu schauen, wie zum Beginn der Epidemie Mittel und Wege gefunden wurden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen

zum Forschungsprojekt EUROPACH

zur Abschlusskonferenz

zur Ausstellung „HIVstories. Living Politics“

Weitere Beiträge zur Ausstellung „HIVstories. Living Politics“:

Aids.Bewegung.Politik: Die Ausstellung HIV.stories im Schwulen Museum Berlin

Tamás Bereczky: „Der HIV-Aktivismus wird mir zu professionell und geschlossen“

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